Ein Lied, das Lieblingslied von Katjas Oma, nimmt eine besondere Stellung ein – „Auf Adlers Flügeln getragen“ ist ein Glaubenslied aus dem Pietismus und wird katholischen Geschwistern eher weniger bekannt sein. Dennoch haben wir es mit in unser Buch genommen, weil es eine wunderschöne Bildsprache und einen ausdrucksstarken Text in sich vereint.
Kirchenlieder, ja geistliche Lieder im Allgemeinen, gründen meist auf Bibeltexten, sprechen von Glaubenserfahrungen und machen ermutigende oder zum Nachdenken bringende Glaubensaussagen. Deshalb sind sie ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens als Christen. Männer und Frauen des Glaubens liebten es zu allen Zeiten, Gott in Liedern zu loben und in Text und Melodie vom Leben mit Gott zu erzählen. König David zum Beispiel – Komponist, Musiker, Sänger und Liedtexter in einer Person – wusste um die heilsame und stärkende Kraft der Musik. Er konnte nicht nur König Saul mit seinem Harfenspiel besänftigen, sondern schrieb sich mit seinen Psalmen, die ja auch gesungen wurden, seine Glaubenserfahrungen mit Gott von der Seele – schöne, aber auch herausfordernde oder schwierige.
Noch heute lesen wir die Psalmen (die wir nicht mit der Originalmelodie singen können, weil uns nur schriftliche Hinweise wie „nach der Weise ,Schöne Jugend‘“ oder ,nach der Weise ,die Hirschkuh, die früh gejagt wird‘“ überliefert sind) und werden dadurch in unserem Glauben und Leben ermutigt.
Auch im Neuen Testament sind uns frühe geistliche Lieder überliefert wie zum Beispiel der Lobgesang des Zacharias, der Lobgesang Marias oder der Lobgesang des Simeon, die zur eigenen Freude, aber auch zur Erbauung der anderen gesungen und überliefert wurden.
Persönlich erlebe ich es immer wieder, dass mir in wichtigen Situationen meines Lebens der Text und die Melodie eines geistlichen Liedes in den Sinn kommt, mich froh macht, mich stärkt, mich etwas über den Charakter Gottes und das Wesen des christlichen Glaubens lehrt.
Besondere Kraft aber entfalten geistliche Lieder erst so richtig, wenn sie gemeinsam, mit anderen Christen zusammen, gesungen werden – sei es bei einem christlichen Fest zu Hause im Familienkreis, in einem Haus- oder Bibelkreis, im Gottesdienst oder auf einer Gemeindefreizeit.
Das praktizierten schon die frühen Christen in ihren Versammlungen. So ermutigte Paulus die Gemeinde in Ephesus ganz ausdrücklich:
„Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen.“
(Epheser 5,19)
Und den Christen in Kolossä schrieb er:
„Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“
(Kolosser 3,16)
In diesem Sinne hoffe ich, dass die Bilder und Texte dieses Buches Sie neu für die Schönheit und den Wert geistlicher Lieder begeistern können.
Befiel du deine Wege
1. Befiehl du deine Wege
und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege
des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.
2. Dem Herren musst du trauen,
wenn dir’s soll wohlergehn;
auf sein Werk musst du schauen,
wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen
und mit selbsteigner Pein
lässt Gott sich gar nichts nehmen,
es muss erbeten sein.
4. Weg hast du allerwegen,
an Mitteln fehlt dir’s nicht;
dein Tun ist lauter Segen,
dein Gang ist lauter Licht;
dein Werk kann niemand hindern,
dein Arbeit darf nicht ruhn,
wenn du, was deinen Kindern
ersprießlich ist, willst tun.
6. Hoff, o du arme Seele,
hoff und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle,
da dich der Kummer plagt,
mit großen Gnaden rücken;
erwarte nur die Zeit,
so wirst du schon erblicken
die Sonn der schönsten Freud.
Der Pfarrer und Liederdichter Paul Gerhardt lebte im 17. Jahrhundert, einer Zeit, die vom Grauen des Dreißigjährigen Krieges, von Pest, Armut und Hunger geprägt war. Schon früh verlor Paul seine beiden Eltern. Aber auch im Erwachsenenalter war er vom Leid verfolgt: Nach nur dreizehnjähriger Ehe starb seine Frau Anna Maria, von den fünf gemeinsamen Kindern überlebte ein einziges. Dennoch dichtete er über 130 Kirchenlieder, die von seiner Liebe und seinem Vertrauen zu einem Gott zeugen, der sich jedem einzelnen persönlich zuwendet und in der Schönheit seiner Schöpfung erkennbar ist.
Das Lied „Befiehl du deine Wege“, so erzählt man sich, soll Paul Gerhardt geschrieben haben, als es ihm und seiner Frau am Nötigsten fehlte. Anna Maria war mit der Bitte zu ihm gekommen: „Gib mir nur einen Groschen, damit ich das Allernötigste kaufen kann. Sonst kann ich dir heute nicht einmal den Tisch zu Mittag decken!” Paul, der kein Geld mehr besaß, tröstete sie mit den Worten „Ich will dir eine Speise besorgen, die nicht vergeht”, setzte sich in das Gartenhaus und schrieb dieses wundervolle Lied.
Es erzählt davon, wie wir alles, was uns bewegt, uns ängstigt und sorgt, unserem großen Gott anvertrauen können. Er, der den Winden und Wolken gebietet, der die Ordnungen der Erde und des Alls geschaffen hat – wird er nicht auch uns einen guten Weg führen können? Unser Verstand mag uns da zustimmen, doch unser Herz ist oft nicht so leicht zu überzeugen. Deshalb ermutigte Paul Gerhardt mit diesem Lied die Gläubigen und zugleich sich selbst: Dem Herren musst du trauen. Trau nicht deiner eigenen Einschätzung deiner Situation, wie hoffnungslos oder verfahren sie aus deiner Sicht auch sein mag – trau auf den Herren und seine unendlichen Möglichkeiten. Lass dich nicht von deinen Sorgen gefangen nehmen und lähmen, sondern hebe deine Augen auf zu Gott und dem, was er in deinem Leben bewirken kann. Jesus hat einmal zu seinen Jüngern gesagt:
„Schaut genau hin: Die Vögel, die in der Luft umherfliegen, machen sich doch auch keine Sorgen! Sie säen nicht selbst, sie bauen sich keine Rücklagen auf und sammeln die Nahrung auch nicht in Vorratskammern. Und doch schenkt euer Vater, der über allen wacht, ihnen ihre Nahrung. Seid ihr nicht noch viel bedeutsamer als sie? Kein einziger von euch kann durch seine ständigen Sorgen und sein Grübeln auch nur eine einzige Sekunde zu seiner Lebenszeit hinzufügen (...) Ihr habt doch einen Vater, der über allem thront! Er weiß genau, dass ihr das alles braucht.“
(Matthäus 6,26-27.32)
Wir dürfen, ja wir sollen Gott um unser „täglich Brot“ bitten, ihm unsere Bedürfnisse und Wünsche anbefehlen. Und es dann ihm überlassen, wie er auf unsere Gebete antworten will. Gott ist gut. Er vermag alles. Für ihn ist nichts unmöglich. Er wird nicht müde, für seine Kinder das zu wirken und zu vollbringen, was gut für sie ist – davon war Paul Gerhardt überzeugt, trotz der Dunkelheiten und Nöte, die er selbst erleben musste. Aber er durfte eben auch erfahren: Gott wird dich aus der Höhle, da dich der Kummer plagt, mit großen Gnaden rücken. Gott neigt sich uns zu in unserer Not und kommt uns nahe. In Jesus hat er ja selbst die Tiefen menschlicher Existenz und ihrer Nöte durchschritten. Er leidet mit uns, er fühlt mit uns. Und auch, wenn wir oft ungeduldig werden – Gottes Erbarmen strahlt in unsere dunkelsten Stunden hinein und führt uns Schritt für Schritt wieder ans Licht.