Um 445 v. Chr.: Nehemia, ein Mann in den besten Jahren, ist Mundschenk am Hof des persischen Großkönigs Artaxerxes. Als eine Delegation aus dem fernen Juda eintrifft, hört er mit Entsetzen, dass Jerusalems Mauern immer noch verwüstet sind. Durch das Eingreifen Gottes wird er zum Statthalter von Juda ernannt und reist in das Land seiner Vorväter. Im Gepäck hat er den geheimen Plan, die Mauern Jerusalems wieder aufzubauen und für die Sicherheit seiner Einwohner zu sorgen. Doch Nehemia stößt auf Widerstand – bei den Statthaltern der Nachbarvölker und sogar in den eigenen Reihen.
Aber es gibt auch Menschen wie Chana und ihre Schwestern, die tatkräftig beim Wiederaufbau Jerusalems helfen. Und dann ist da noch Nava, ein junges Mädchen. Als Leibeigene eines reichen Landbesitzers hat sie ihren ganz eigenen Kampf auszufechten ...
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Die Zitadelle von Susa, Persien,
am 14. Tag des Monats Adar, 473 v. Chr.
Mordechai wusste, was es bedeutete, mit dem Tod zu ringen und zu gewinnen. Von seinem Zimmer in der Zitadelle von Susa aus hatte er den ganzen Tag die Nachrichten von den Kämpfen gehört. Seine Boten eilten herein und hinaus wie Bienen in einem Bienenstock.
Der Engel des Todes schwebte über ihnen, seit die Sonne am 12. Adar untergegangen war. Das tat er auch noch in der Nacht und den ganzen Tag über am 13. des Monats. Nach den letzten Berichten, die Mordechai erhielt, als die blasse Frühlingssonne endlich über diesem mörderischen Tag unterging, hatten seine jüdischen Landsleute fünfhundert Feinde in Susa getötet. Er hatte für die Kinder Abrahams gebetet, die in den 127 Provinzen des persischen Reiches verstreut lebten, und sich gefragt, wie es ihnen wohl ergangen war. Vor allem sorgte er sich um das Land jenseits des Flusses, wo seine jüdischen Geschwister in Jerusalem einen sehr unsicheren Stand hatten. Innerhalb des riesigen persischen Reiches waren die Feinde der Juden zahlreicher und auf jeden Fall militärisch erfahrener. Mordechais Volk bestand aus Händlern und Bauern und Gelehrten, nicht aus Soldaten. Dennoch wusste er, dass sie mit vollem Einsatz um ihre Familien und ihr Leben kämpfen würden. Und Gott hatte dabei eindeutig an ihrer Seite gestanden.
Die Nacht wurde dunkler. Er sollte nun endlich die flackernden Öllampen auslöschen und nach Hause gehen, nachdem der 13. Adar – und die Gefahr – vorüber waren. Aber er war zu erschöpft von der Anstrengung mehrerer schlafloser Nächte, um den Weg zurück und die Treppen zu bewältigen. Deshalb löste Mordechai das Schwert von seiner Hüfte, das er den ganzen Tag über getragen hatte, und legte es auf den Boden. Dann ging er zu dem Sitz am Fenster, von wo aus er den Graben vor der Zitadelle überblicken konnte, und ließ sich in die Kissen fallen. Das offene Fenster gähnte ihm dunkel und leer entgegen, weil Mond und Sterne hinter einer grauen Wolkendecke verborgen lagen. Er atmete die kühle Frühlingsluft ein und schloss die Augen, um einen Moment auszuruhen.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufschrecken. Instinktiv streckte Mordechai die Hand nach seiner Waffe aus. Er zog sie aus der Scheide, blieb jedoch sitzen. „Wer ist da?“
„Ich bin es nur, Herr.“ Die Tür öffnete sich langsam und einer der Soldaten, die in den vergangenen anderthalb Tagen vor seiner Stube Wache gestanden hatten, erschien in der Öffnung. „Es tut mir leid, dass ich dich störe, Herr.“
„Komm herein.“ Mordechais Schultern entspannten sich und er legte die Waffe nieder. „Wie spät ist es?“
„Es ist die dritte Wache, Herr.“
Mordechai rieb sich die Augen. Er hatte länger auf seinem Platz am Fenster geschlafen, als er beabsichtigt hatte. Die Nacht war schon mehr als halb verstrichen.
„Dein Assistent, Jakob ben Haschub, möchte mit dir sprechen. Er sagt, es sei wichtig.“
Zu dieser nächtlichen Stunde musste es das sein. Die plötzliche Anspannung half Mordechai, seine Schläfrigkeit abzuschütteln und ganz wach zu werden. „Schick ihn herein.“ Es war ein Zeichen für die extreme Notsituation, in der sie alle sich befanden, dass selbst Jakob, Mordechais rechte Hand während dieser ganzen Feuerprobe, nicht ohne Erlaubnis zu ihm hereinkommen durfte. Jakobs blassem Gesicht mit den dunklen Ringen unter den Augen war die Erschöpfung nach diesem langen, blutigen Tag deutlich anzusehen. Überrascht sah Mordechai, dass Jakob drei kleine Jungen vor sich her ins Zimmer schob.
„Vergib mir, dass ich dich störe, Herr, aber … wie es aussieht, sind die Kämpfe doch noch nicht beendet.“
Mordechai spürte eine Gänsehaut, als die Angst ihn packte. „Was meinst du damit? Nach dem Edikt des Königs sollten die Kämpfe doch bei Sonnenuntergang enden. Der 13. Adar ist vorbei.“
„Es wird nicht auf den Straßen gekämpft – sondern hier. In der Zitadelle.“
„Was?!“
„Mehrere Mitglieder deines persönlichen Personals und ihre Familien wurden vor einer Stunde in ihren Häusern überfallen.“
Mordechai erhob sich mit steifen Bewegungen. „Nein! Das kann nicht sein. Wir haben überall Wachen aufgestellt.“
„Ja, das haben wir. Aber wir haben die Wachen zu früh nach Hause geschickt – alle, außer die vor deiner Tür. Und wir haben den falschen Leuten vertraut. Unsere Feinde haben unsere Sicherheitslücken entdeckt und sie benutzt, um deine engsten Gefolgsleute anzugreifen.“ Jakobs tiefe Stimme bebte vor Emotionen. „Zwei Männer und ihre Familien wurden ermordet, bevor wir Alarm schlagen konnten.“
„Und dein Haus, deine Familie …?“
„Die Warnung hat mich erreicht, bevor die Attentäter ihr Werk vollenden konnten. Meine Familie ist in Sicherheit.“
„Wer von meinen Leuten wurde getötet?“, fragte Mordechai, obwohl er die Antwort fürchtete.
„Bani ben Zacchai und seine Familie …“
„Gott Abrahams, sei uns gnädig“, flüsterte Mordechai.
„Und dein Schreiber Hachalja und seine Frau.“ Jakob schluckte, übermannt von seinem Kummer. „Dies sind Hachaljas drei Söhne. Sie haben überlebt, aber sie haben gesehen …“ Er beendete den Satz nicht.
Mordechai brauchte einen Augenblick, um seine Fassung wiederzugewinnen. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und zog an seinem Bart. Er wünschte, er könnte noch einmal aufwachen und feststellen, dass dies bloß ein Traum gewesen war.
Jakob räusperte sich. „Dieser Racheakt war persönlich, Herr. Ein Schlag gegen deine Regierung. Die Attentäter wussten, wen sie angriffen, wo diese Personen wohnten und wie sie die Sicherheitsvorkehrungen umgehen konnten. Sie haben absichtlich bis nach Sonnenuntergang gewartet, als wir dachten, die Kämpfe seien vorüber, und nach Hause gingen, um etwas zu schlafen.“
„Diese Angreifer warteten in der Zitadelle?“
„Es scheint so, Herr. Alle Außentore werden seit Tagen bewacht.“
Mordechai stöhnte. „Das ist meine Schuld. Wie konnte ich so kurzsichtig sein? Wir haben so viele kluge Pläne geschmiedet, um unser Volk in allen Teilen des Reiches zu schützen, aber meine engsten Mitarbeiter hier in der Zitadelle habe ich im Stich gelassen.“
„Keiner von uns hat diesen Angriff erwartet, Herr. Aber wir glauben, dass alle Mörder gefangen oder getötet wurden. Diejenigen, die wir lebend gefasst haben, werden noch vor dem Morgen ihr Schweigen brechen. Wir werden erfahren, welches Ausmaß die Verschwörung hat.“
„Bestimmt stecken Hamans Söhne und ihre Verbündeten dahinter, um sich zu rächen. Darauf würde ich mein Leben verwetten.“
Mordechai lief weiter auf und ab, hin- und hergerissen zwischen Erschöpfung und Wut, während er versuchte zu entscheiden, was er tun sollte. „Ich werde Königin Esther eine Nachricht schicken und sie bitten, beim König ein gutes Wort für uns einzulegen. Die zehn Söhne Hamans werden alle dafür hängen. In der Zwischenzeit brauchen wir noch einen Tag, um unsere Feinde ganz zu vernichten. Esther muss den König um Erlaubnis bitten, sie heute noch zu suchen und zu töten. Wir werden sie finden, wo auch immer sie sich verbergen. Wir werden die Sache nicht auf sich beruhen lassen.“
Er ging zu seinem Arbeitstisch und suchte im dämmrigen Schein der Lampe nach einer Feder und Pergament. „Jemand soll Hattach, den Eunuchen der Königin, holen“, sagte er zu Jakob. „Er muss Esther unverzüglich meine Nachricht überbringen. Sie wird noch einmal so schnell wie möglich handeln und mit dieser Bitte ungebeten beim König erscheinen müssen.“
„Würde es nicht schneller gehen, wenn du selbst als Bittsteller vor ihm erscheinst, Herr?“
„Vielleicht. Aber Xerxes wird eher geneigt sein, etwas zu unternehmen, wenn er merkt, dass das Leben seiner Gemahlin immer noch in Gefahr ist.“
Mordechai war so in seinen Zorn und seine Reue versunken und so wütend auf sich selbst, weil er in seiner Wachsamkeit nachgelassen hatte, dass er die drei kleinen Jungen vergaß. Doch dann hörte er ein zittriges Schluchzen und Schniefen und blickte auf. Die drei Kinder standen noch da in ihren Nachthemden, die dunklen Haare vom Schlaf zerzaust. Der kleinste Junge rieb sich die Augen und seine Wangen waren feucht von Tränen. Alle drei hatten den gleichen starren Blick der Verzweiflung und des Schreckens, den er bei seiner jungen Cousine Esther gesehen hatte, als sie Waise geworden war und er sie adoptiert hatte. Für den Tod von Esthers Eltern war Mordechai nicht verantwortlich gewesen, aber es war seine Schuld, dass diese drei Jungen keine Eltern mehr hatten. Denn der Rachefeldzug hatte ihm und seinen Mitarbeitern gegolten.
Er schloss die Augen, neigte den Kopf und rang darum, dass nicht mehr sein flammender Zorn, sondern die Wärme des Mitgefühls die Oberhand gewann. Als er seine Fassung wiedererlangt hatte, hob er den Kopf und trat auf die Kinder zu. Er vermutete, dass der älteste Knabe etwa sieben oder acht Jahre alt war. Die jüngeren schienen etwa vier oder fünf zu sein, jedenfalls jung genug, um noch ihre Milchzähne zu haben. Mordechai ging vor ihnen in die Knie.
„Wie heißt du?“, fragte er den ältesten Jungen.
„Nehemia ben Hachalja“, antwortete er flüsternd. Seine Augen waren trocken, als versuchte er tapfer zu sein und nicht zu weinen. Er sah Mordechai nur ganz kurz in die Augen, dann huschte sein Blick hektisch durch den Raum, als könnte der nächste Attentäter jeden Moment hinter den Vorhängen oder der geschlossenen Tür hervorspringen.
„Und dies sind deine Brüder?“
Er nickte. „Ephraim und Hanani.“ Letzterer war ein Kosename und vermutlich die Kurzform von Hananja. Die Brust des Jüngsten bebte von leisen Schluchzern. Seinen geröteten Augen nach zu urteilen, weinte er schon eine ganze Weile. Er blickte zu Mordechai auf, Tränen in den dunklen Augen.
„Ich will meine Mama“, sagte er.
Mordechai hätte den Jungen gerne in den Arm genommen und getröstet, aber der älteste Bruder sah so misstrauisch aus, dass Mordechai fürchtete, er könnte sich auf jeden stürzen, der seine Geschwister anfasste. Nehemia packte Hananis Hand und zog ihn näher zu sich.
„Waren diese Kinder dabei, als es geschah?“, fragte Mordechai seinen Helfer. „Im selben Haus?“ Jakob nickte.
„Wir haben uns versteckt, als die bösen Männer kamen“, sagte Nehemia. „Ich habe zu Ephraim und Hanani gesagt, dass sie ganz leise sein müssen.“
„Ich bin froh, dass du das getan hast, mein Sohn. Das war sehr klug von dir. Du bist ein tapferer junger Mann.“
„Nein, Abba war am tapfersten. Er hat sich gewehrt.“
Mordechai wusste nicht, was er sagen sollte. War es besser, den Jungen reden und erzählen zu lassen, was er gesehen und gehört hatte, oder sollte er ihn lieber ermutigen, diesen schrecklichen Albtraum zu vergessen? Als würde ihm das jemals gelingen! Mordechai räusperte sich, um den Kloß im Hals loszuwerden. „Es tut mir furchtbar leid, was geschehen ist“, sagte er zu den Kindern. „Euer Vater Hachalja war ein guter Mann. Er hat hier in der Zitadelle für mich gearbeitet. Ich weiß, dass ich ihn niemals ersetzen kann, aber ich verspreche, dass ich von jetzt an für euch sorgen werde. Es wird euch an nichts fehlen.“
Außer an Eltern, die sie liebten und erzogen. Wie konnte er nur so etwas Dummes sagen! Mordechai suchte nach besseren Worten – Worten des Trostes oder der Hoffnung, während er hilflos zusah, wie Nehemias Blick den Raum absuchte wie ein gefangener Vogel, der verzweifelt einen Fluchtweg sucht. Sein schmaler Körper war angespannt und bereit zu fliehen. Mordechai fürchtete, er könnte aus der Haut fahren, wenn jemand versuchte, ihn zu berühren – und sei es nur, um ihn zu trösten. Die beiden kleineren Kinder waren das genaue Gegenteil ihres großen Bruders: Sie wirkten in sich zusammengesunken und haltlos, erschöpft und wie in Schockstarre. Sie brauchten dringend Schlaf. Doch Mordechai fragte sich, ob sie je wieder richtig zur Ruhe kommen würden.
„Ihr seid jetzt in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass euch etwas zustößt. Und wenn ihr irgendetwas braucht ...“
„Wir brauchen ein Versteck“, sagte Nehemia.
Mordechai zögerte und sagte dann: „Jakob und eine meiner Wachen werden euch an einen sicheren Ort bringen, wo ihr schlafen könnt und ...“
„Werden die bösen Männer uns auch töten?“, fragte Nehemia. Immer noch wanderte sein Blick gehetzt durch den Raum – zum Fenster, zur Tür, zum anderen Fenster und dann wieder zurück. Ohne stillzustehen.
„Die Männer werden nie wiederkommen. Ich verspreche euch, dass die Feinde, die das getan haben, gefunden und hingerichtet werden. Ihr habt mein Wort. Bis dahin werden die Wachen auf euch aufpassen. Sie werden so lange bei euch bleiben, wie ihr wollt.“
„Aber Abba kannte die Männer, die in unser Haus gekommen sind. Er hat die Tür aufgemacht, um sie reinzulassen, aber sie haben ihm eine Falle gestellt.“
„Du hast alles mit angehört?“, fragte Mordechai und Nehemia nickte. „Herr, erbarme dich …“, flüsterte Mordechai, bevor er sich an Jakob wandte: „Bring sie zu mir nach Hause. Sorg dafür, dass sie etwas zu essen und einen Schlafplatz bekommen.“
„Ja, Herr.“ Jakob wandte sich zur Tür um und gab den Jungen ein Zeichen, ihm zu folgen, aber Nehemia rührte sich nicht von der Stelle, ebenso wenig wie seine Brüder. Die beiden jüngeren Kinder drängten sich dichter an ihren großen Bruder und klammerten sich an ihn, offensichtlich starr vor Angst. Mordechai wusste nicht, wie er sie beruhigen sollte.
„Wollt ihr lieber hier bei mir bleiben? Seht aus dem Fenster, dann wisst ihr, wie hoch oben wir hier sind. Und die Soldaten vor der Tür werden niemanden hereinlassen.“
Nehemia nickte und betrachtete Mordechais Schwert, das gezogen auf der Fensterbank lag. Er zog seine Brüder hinter sich her, als er ging, um aus dem Fenster zu sehen.
„Also gut“, beschloss Mordechai. „Ihr drei könnt hierbleiben. Jakob, kannst du einen meiner Diener suchen und ihn bitten, ein paar Decken und zusätzliche Kissen zu bringen und vielleicht etwas Einfaches zu essen? Dann schick einen Boten zu Hattach, Königin Esthers Diener.“ Mordechai ging zum Fenster und schloss die Läden. „Kommt“, sagte er und klopfte auf das Kissen. Ihr könnt euch hier hinlegen und schlafen.“
Nehemia half Hanani auf die Bank am Fenster und die beiden kleinen Jungen rollten sich sofort auf den Kissen zusammen. Es wunderte Mordechai nicht, dass Nehemia aufrecht auf der Bank sitzen blieb, die Augen offen und wachsam. Seine Beine reichten nicht einmal bis zum Boden.
Selbst bei geschlossenen Läden drang die kalte Nachtluft herein, deshalb zog Mordechai seinen Mantel aus und deckte die Kinder damit zu. Während er allein auf seine Bediensteten wartete, ließ er die schreckliche Nachricht ganz auf sich wirken.
Er hatte die Männer, die ihm am nächsten standen, im Stich gelassen. Zwei von ihnen waren wegen seiner mangelnden Voraussicht gestorben. Und ihre Familien auch. Wie naiv er doch gewesen war zu glauben, seine Feinde würden ihre mörderische Rache auf einen einzigen Tag beschränken! Und wie dumm von ihm, dass er angenommen hatte, sein Volk würde nach nur einer Nacht und einem Tag Krieg von allen Bedrohungen frei sein. Gottes Volk war in seiner Geschichte immer von Feinden bedroht worden, die es vom Erdboden hatten tilgen wollen, so wie Haman es gerade erst versucht hatte. Würden die Kinder Abrahams jemals Frieden finden?
Mordechai seufzte. Nein. Es würde keinen Frieden geben, bis eines Tages der versprochene Messias kam, um sie zu befreien.
Teil I
Der Herr wollte die Mauern Jerusalems zerstören. Und so spannte er die Messschnur über sie, um sie völlig zu vernichten. Er riss Mauern und Schutzwälle nieder, nun liegen sie verödet da. Die Stadttore machte er dem Erdboden gleich, er brach die Riegel auf und zerschlug sie.
Klagelieder 2,8-9a
1
Susa, Persien,
28 Jahre später im Dezember
Nehemia stieg die Wendeltreppe zur Palastküche hinunter und blieb dann unter dem Torbogen stehen, um die Wärme der lodernden Herdfeuer und riesigen Öfen zu genießen. Der Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot schlug ihm entgegen. Diesen Teil seiner Arbeit mochte er, vor allem früh an einem Wintermorgen wie diesem, an dem es schwierig war, die großen Räume im Obergeschoss des Palastes zu heizen. Er sah zu, wie die schwitzenden Köche mit ihren roten Gesichtern und die Küchenjungen hin und her liefen, Gemüse zerkleinerten, eine Ziege häuteten und Wasservögel rupften. Diese Männer würden wahrscheinlich lieber in einem kühleren Raum arbeiten.
Niemand blickte auf, als Nehemia den riesigen Arbeitsbereich betrat, der groß genug war, um Essen für den König und Tausende von Gästen zuzubereiten. Als Mundschenk des Königs, der vollstes Vertrauen genoss, inspizierte Nehemia täglich die Palastküche und die Lagerräume und überzeugte sich davon, dass nichts und niemand, der für König Artaxerxes eine Gefahr bedeuten könnte, durch die Hintertür hereinkam und in die Küche oder die Steintreppe hinauf zum Speisesaal des Königs gebracht wurde.
Die schmalen Fenster standen offen und Nehemia hörte das Rattern hölzerner Räder und die schweren Hufe der Ochsen von draußen heraufdringen, als ein Lieferant sich näherte. Die Ladung Wein, die er erwartete, war eingetroffen. Er durchquerte den verräucherten Raum, um die breiten Türen für die Lieferung zu öffnen. Sofort schlug ihm ein Schwall kalte Luft entgegen, die trockenes Laub hereinwehte. Draußen hielt ein Wagen, der hoch mit Tonkrügen beladen und mit Stroh gepolstert war. Nehemia zog sein Schwert, um das Stroh nach blinden Passagieren abzusuchen. „Guten Morgen, Saul“, sagte er zu dem Fahrer, der das Ochsengespann führte. Der Fahrer befestigte die Zügel an einem Pfosten und wandte sich um. Es war nicht Saul. Ein Fremder stand vor ihm. Sofort war Nehemia auf der Hut.
„Wer bist du? Was machst du hier?“
„Ich bin Schela ben Hobja. Ich übernehme heute für Saul die Auslieferung.“
„Nicht ohne meine Genehmigung! Warum weiß ich nichts davon? Wer hat dich durchs Tor gelassen? Wer ist dafür verantwortlich?“
„Ich habe es ihm erlaubt“, sagte eine Stimme hinter Nehemia.
Er fuhr herum und stand Joed gegenüber, dem Palastdiener, der die Lieferungen und Zahlungen überwachte.
„Schela ist ein Freund und ...“
Nehemia hielt noch immer sein Schwert in der rechten Hand, aber mit der linken packte er die Tunika des Bediensteten. Dann zog er Joed näher, bis ihre Gesichter nur noch wenige Fingerbreit voneinander entfernt waren. „Niemand betritt die Zitadelle ohne meine Genehmigung, verstanden? Niemand! Verschwindet – beide! Und lasst euch hier nicht mehr blicken.“ Er ließ Joed los und stieß ihn durch die geöffnete Tür nach draußen.
„Aber … Herr …“, stammelte Joed. „I-ich kenne Schela seit meiner Kindheit. Ich kann für ihn bürgen und ...“
„Das bezweifle ich nicht. Aber auch König Xerxes kannte den Mann, der in sein Schlafzimmer eingedrungen ist und ihn ermordet hat. Es war einer seiner eigenen Höflinge.“ Die vertraute Wut kochte in Nehemia hoch und im nächsten Augenblick stand er wieder in seinem Zimmer in der Nacht, in der sein Vater einem Bekannten die Tür geöffnet und damit sein Leben verwirkt hatte. Er versetzte dem Diener noch einen Stoß, der ihn rückwärtstaumeln und gegen einen der Ochsen stolpern ließ. „Der Erbe von König Xerxes kann es sich nicht leisten, irgendjemandem zu vertrauen“, sagte Nehemia. „Jeder Lauch und jede Linse und jeder Weinschlauch werden von meinen Leuten sorgfältig begutachtet, bevor sie in den Palast kommen – und das gilt auch für jeden Mann, der sie bringt, kocht oder aufträgt. Nur so können wir dafür sorgen, dass unser Herrscher König Artaxerxes sicher ist.“
„Bitte, Herr … es wird nicht wieder vorkommen ...“
„Da hast du recht, Joed. Das wird es nicht. Wachen!“ Er rief nach den Wachen des Königs, die von ihren Posten in der Küche zusahen. „Begleitet diese Männer bis über die Brücke aus der Zitadelle.“
„Und die Weinlieferung, Herr?“, fragte eine der Wachen.
„Schickt sie zurück. Und sagt ihnen, wenn das nächste Mal ein neuer Fahrer kommt, muss ich das vorher wissen.“
Nehemia wandte sich um und ging wieder hinein. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. In der Küche waren alle Aktivitäten zum Stillstand gekommen, als hätte der eisige Wind die Männer an ihren Plätzen festgefroren. Er sah, wie zwei junge Hilfsköche einander Blicke zuwarfen, als hielten sie ihn für einen unvernünftigen Tyrannen. Sie arbeiteten noch nicht lange in der Küche. Obwohl der Hintergrund der Neulinge von Nehemia und den ihm untergebenen Mundschenken und Sicherheitsleuten aufs Genaueste durchleuchtet worden war, würde er sie weiterhin misstrauisch beobachten, bis sie sich bewiesen hatten. Er ging auf den Tisch zu, an dem sie einige Vögel gerupft hatten. Die Federn klebten noch an ihren Händen oder lagen wie Schneeflocken auf dem Tisch. „Ihr findet, dass meine Reaktion unangemessen war? Dass ich zu vorsichtig bin?“
„Nein, Herr.“ Die beiden jungen Männer schüttelten den Kopf, aber der Blick, den sie gewechselt hatten, sagte etwas anderes.
„Hört alle zu“, sagte er und wandte sich an die gesamte Küchenmannschaft. „In wenigen Monaten werden die offiziellen Vertreter des Königs aus jeder Satrapie und Provinz des Reiches hier eintreffen und dann beginnen die jährlichen Bankette. Dieses Ereignis dauert einen ganzen Monat und kann leicht zu einem Sicherheitsalbtraum werden, wenn wir keine Vorsicht walten lassen. Der persische Hof hat eine lange Geschichte von Intrigen und Machtkämpfen und Attentaten. Ein kleiner Fehler – zum Beispiel das Annehmen einer Lieferung von einem unbekannten Fahrer – und das Leben von König Artaxerxes könnte in Gefahr sein!“ Wie auch das seines Mundschenks Nehemia.
Er sah die Köche und Helfer und Küchenjungen an, bis er aufgrund ihrer unterwürfigen Mienen sicher war, dass sie die Ernsthaftigkeit des heutigen Vergehens begriffen hatten. „Dann also zurück an die Arbeit. Der König will pünktlich speisen.“
Den restlichen Vormittag blieb Nehemia auf seinem Posten in der Küche und beaufsichtigte das Personal, während dieses das Mittagessen zubereitete. Als König Artaxerxes nach seinem Essen verlangte, stieg Nehemia die spiralförmige Steintreppe zum Speisesaal hinauf, gefolgt von den Dienern, die das üppige Mahl trugen und servierten. Die Weinflasche und das goldene Trinkhorn des Königs trug er selbst. Durch seine Anwesenheit würde er Artaxerxes versichern, dass jeder Bissen und jeder Tropfen sorgfältig begutachtet worden war. Wenn der König es wünschte, stand Nehemia bereit, jedes Gericht zu kosten und von jeder Flasche zu trinken, bevor der König es tat.
Nach der Mahlzeit war Nehemia wieder auf dem Weg hinunter in die Küche, als einer der Mundschenke ihm auf der Treppe entgegenkam. „Am Torhaus ist ein Mann, der dich sehen möchte.“
„Weißt du, wer er ist? Nicht etwa der unglückliche Diener, den ich heute Morgen gefeuert habe und der seine Stellung zurückhaben will, oder?“
„Nein, Herr. Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber seiner Kleidung und seiner Erscheinung nach zu urteilen ist er Jude.“
Nehemia fragte sich, ob sein Mundschenkkollege oder einer der anderen Sicherheitsmänner, mit denen er arbeitete, wusste, dass er auch Jude war. Wahrscheinlich nicht. Wie sie trug Nehemia die Uniform der Palastbediensteten.
„Ich sehe besser nach, wer es ist. Vertritt mich, bis ich zurückkomme.“ Er schritt durch die Gänge des Palastes und über den Platz zum Torhaus, verärgert über die Störung. Wer auch immer der Besucher war, er würde die Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen müssen, bevor er den Palast und die Zitadelle betreten durfte. Nehemia stieß die Tür zum Torhaus auf, bereit zur Auseinandersetzung – und dort stand sein Bruder. Bildete er sich das nur ein? Doch dann stieß er einen Freudenschrei aus, bevor er den Raum mit wenigen Schritten durchquerte, die kräftigen Arme um den jungen Mann schlang und ihn durch die Luft wirbelte.
„Hanani! Was in aller Welt machst du denn hier? Du solltest doch in Jerusalem sein!“
Hanani lachte atemlos. „Lass mich runter, du verrückter Kerl! Ich bekomme keine Luft.“
Nehemia stellte ihn wieder auf den Boden und hielt seinen Bruder lachend am ausgestreckten Arm. „Lass dich ansehen. Ich kann nicht fassen, dass du hier bist! Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns jemals wiedersehen.“
„Ich auch nicht“, sagte Hanani und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
„Wie lange ist es her, Bruderherz? Zwölf Jahre?“
„Beinahe dreizehn.“
Noch einmal umarmte Nehemia ihn, dann sagte er: „Ich hätte mit dir und Ephraim nach Jerusalem gehen sollen. Sobald ihr fort wart, habe ich meine Wahl bereut und gewünscht, ich hätte mich anders entschieden.“ Er erinnerte sich daran, wie er die ganze Nacht gebetet und sich das Hirn zermartert hatte, ob er sich Rebbe Esras Karawane anschließen und mit seinen Brüdern nach Juda ziehen sollte. Damals hatte er das Gefühl gehabt, Mordechai viel schuldig zu sein.
„Du siehst blendend aus, Hanani!“, sagte er. „Das Gelobte Land bekommt dir offensichtlich gut. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen! Wie geht es Ephraim?“
„Dem geht es gut. Er ist verheiratet und ein Baby ist unterwegs.“
„Und du? Bist du verheiratet?“
Ein Grinsen ließ Hananis Gesicht leuchten. „Ja. Meine wundervolle Frau hat mir einen kleinen Sohn und eine Tochter geschenkt. Und was ist mit dir, Bruder?“
Nehemia wischte die Frage mit einer Handbewegung zur Seite. „Ich bin zu beschäftigt, um mich nach einer Frau umzusehen. Aber erzähl, warum bist du hier? Du hast doch nicht beschlossen zurückzukommen, oder?“
„Nein, überhaupt nicht“, sagte Hanani. „Ich gehöre zur offiziellen Delegation aus Juda, für die ich als Schreiber arbeite, so wie Abba es getan hat.“
Bei der Erwähnung ihres Vaters schwand Nehemias Lächeln. Zum zweiten Mal an diesem Tag spürte er den schmerzhaften Stich des Kummers, als er wieder die Nacht durchlebte, in der ihr Vater seinem Mörder die Tür geöffnet hatte. „Erinnerst du dich an Abba, Hanani? Du warst ja erst vier.“
„Nicht sehr gut. Ich weiß noch, dass er sehr groß war und dichte schwarze Haare hatte – so wie du. Und ich erinnere mich an sein Lachen, das wie Donner dröhnte, und dass er mich in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hat.“
Beide schwiegen einen Moment lang. „Also, warum bist du hier?“, fragte Nehemia noch einmal. „Deine Delegation ist einige Monate zu früh für die Tributzeremonien.“
„Wir sind gekommen, um König Artaxerxes vorab unseren Bericht zu überbringen und um eine Verringerung des Tributs zu bitten. Die Dürre in Juda hält jetzt schon zwei Wachstumsperioden an. Unser Volk leidet. Und der Schatzkammer der Provinz müssen wir auch Steuern zahlen.“
„Ist Statthalter Esra mitgekommen?“
„Nein. Er hat sich vor einigen Jahren als Statthalter zur Ruhe gesetzt. Die Adligen und Bezirksleiter haben ihn davon überzeugt, dass er seine Arbeit als unser Anführer und Lehrer treu getan hatte. Jetzt schreibt und studiert er und nutzt sein riesiges Wissen, um eine Geschichte unseres Volkes zu schreiben. Das hatte er wohl immer schon vor.“
Sie waren die ganze Zeit über stehen geblieben und schon spürte Nehemia wieder die vertraute Unruhe und den Drang, etwas zu tun. Diese Angespanntheit war sein Motor und ließ ihn vom Morgengrauen bis weit nach Sonnenuntergang arbeiten. „Willst du mich begleiten, Hanani? Ich werde dir die Palasthöfe und die Apadana, die Säulenhallen, zeigen. Dort hält der König Bankette für mehrere Tausend Personen ab. Sie sind ziemlich beeindruckend.“
„Vielleicht morgen. Ich hatte gehofft, du würdest mitkommen und die anderen kennenlernen. Wir haben dir so viel zu erzählen.“
„Jetzt? Ich würde liebend gern vom Leben im Gelobten Land hören, aber …“ Nehemia sah sich um und überlegte, ob er an diesem Nachmittag einige Stunden Zeit hatte. In Gedanken ging er seine Verpflichtungen durch, bevor er eine Entscheidung traf. „Also gut. Ich komme mit. Aber ich kann nicht lange bleiben.“
Hanani ging voran durch das Königstor und über die Brücke in die Stadt. „Ich hatte vergessen, wie imposant die Zitadelle von Susa ist“, sagte Hanani mit einem Blick über die Schulter zu dem hoch aufragenden Palast. „Einigen von uns, die noch nie hier waren, hat allein die Größe die Sprache verschlagen. Sie sagten, sie kämen sich neben all diesen riesigen Gebäuden wie Ameisen vor.“
„Genau das ist auch die Absicht des Königs“, sagte Nehemia. „Eine solche Erhabenheit ist die passende Kulisse für den Thron eines persischen Herrschers.“
„Das ist wahr, aber sieht der König die wahren Kosten dieser Pracht? Seine Abgaben machen uns kaputt. Viele Menschen in seinem Reich sind bettelarm, darunter auch unsere jüdischen Landsleute in Juda.“
„Wirklich? Das wusste ich nicht.“ Nehemia fragte sich, ob er für die Probleme des Reiches blind geworden war, weil er sein ganzes Leben hier in Susa verbracht hatte. Wenn er mit seinen Brüdern nach Jerusalem zurückgekehrt wäre, würde er dann den persischen Überfluss auch mit anderen Augen sehen?
„Und was ist jetzt in einem so herrlichen Palast deine Aufgabe?“, fragte Hanani und unterbrach so seine Gedanken, während sie nebeneinander hergingen.
„Ich bin der Mundschenk von König Artaxerxes.“
„Wirklich?!“ Hanani blieb mitten auf der überfüllten Straße stehen, sodass mehrere Passanten sie anrempelten.
„Ja, wirklich. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass seine Speisen und Getränke sicher sind. Aber zu der Arbeit gehört noch viel mehr als das. Der Mundschenk des Königs ist noch für viele andere Sicherheitsaspekte in der Zitadelle zuständig, nicht nur für das Essen. Wie du dir vorstellen kannst, ist Artaxerxes nach dem, was seinem Vater widerfahren ist, sehr besorgt um seine Sicherheit.“ Er zögerte und fügte dann hinzu: „Du und ich, wir verstehen das doch besonders gut. Nicht wahr, Hanani?“
„Natürlich. Und ich bin sehr stolz auf meinen großen Bruder. Erzähl mir“, sagte Hanani, während er weiter durch die geschäftigen Straßen lief, „wie du zu deiner wichtigen Stellung aufgestiegen bist. Als ich ging, warst du ein Stabsmitarbeiter der Regierung.“
„König Artaxerxes hat die Sicherheit bei Hofe Mordechai übertragen, als er erfuhr, dass dieser vor Jahren eine Intrige gegen den Vater des Königs aufgedeckt hatte und dafür belohnt worden war. Er gab Mordechai den Auftrag, vertrauenswürdige Höflinge zu suchen und einzustellen, die für Sicherheit in der Zitadelle sorgen. Zuerst wollte ich die Aufgabe nicht übernehmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich dem Allmächtigen als Mundschenk dienen konnte. Aber Mordechai überzeugte mich davon, dass Gott Männer des Gebets und des Glaubens in allen Positionen braucht und dass ein Mundschenk noch größeres Vertrauen genießt als eine Palastwache. Und er hatte recht.“
Sie kamen in den jüdischen Bereich in der Unterstadt von Susa, außer Atem von ihren weit ausholenden Schritten, und betraten das Versammlungshaus. Ein Feuer loderte in der Kohlenpfanne und Nehemia legte in dem überheizten Raum sein Obergewand ab. „Ich möchte euch meinen Bruder Nehemia vorstellen“, erklärte Hanani seiner Jerusalemer Delegation. Er stellte Nehemia jedem Einzelnen vor, bevor er hinzufügte: „Er hat jetzt eine noch wichtigere Funktion im Palast inne als damals, als ich ging – er ist der Mundschenk des Königs.“
Alle schienen über diese Nachricht erfreut, aber Nehemia beeilte sich, Missverständnissen vorzubeugen. „Für eure Delegation wird meine Arbeit als Mundschenk des Königs kaum dienlich sein. Wenn ich ein persönlicher Berater wäre, hätte ich vielleicht dafür sorgen können, dass eure Petition den Thronsaal erreicht. Aber auch wenn ich oft in König Artaxerxes’ Nähe bin und sein äußerstes Vertrauen genieße, darf ich in seiner Gegenwart nicht sprechen – außer er fordert mich dazu auf. Allerdings will ich gerne helfen, indem ich euch einen Einblick in den persischen Hof gebe, der euch vielleicht nützt.“
„Das wissen wir zu schätzen.“
„Möglicherweise hilft es, wenn ich ein besseres Bild von der Situation in Juda habe“, schlug Nehemia vor. „Erzählt mir zum Beispiel von Jerusalem.“
Plötzlich war es still im Raum, so als hätte er von einem tragischen Todesfall gesprochen. Der Anführer der Delegation seufzte tief, bevor er mit ernster Miene antwortete. „Unsere jüdischen Landsleute, die das Exil überstanden haben und wieder in der Provinz leben, sind großen Schwierigkeiten und Schande ausgesetzt.“
Seine Worte und der düstere Tonfall, in dem er sprach, schockierten Nehemia. Er ließ beides einen Augenblick lang auf sich wirken, bevor er sich auf seinem Platz vorbeugte. „Sprich weiter.“
„Wenn ich diese herrliche Stadt Susa mit ihren hoch aufragenden Mauern und Pfeilern sehe, die atemberaubende Zitadelle oben auf dem Hügel, dann spiegeln sie die Größe des Königs wider, der hier herrscht. Unser herrschender König ist der Allmächtige, aber seine Stadt ist ein erbärmliches Abbild seiner Macht und Herrlichkeit. Die Mauern Jerusalems sind eingestürzt und seine Tore sind vom Feuer verzehrt worden.“
„Warte“, sagte Nehemia und lehnte sich noch ein Stück weiter vor. „Willst du damit sagen, dass es überhaupt keine Mauern um die Stadt gibt? Dass die Menschen ihren Feinden schutzlos ausgeliefert sind?“
„So ist es. Als die Babylonier die Stadt niederbrannten, gingen nicht nur die Tore in Flammen auf, sondern von der Hitze des Feuers zerbrachen die Quader aus Kalkstein. Die babylonische Armee hat alle unsere Festungen zerstört.“
„Und obwohl die Ostseite der Stadt immer von einem Steilhang geschützt war“, fügte ein anderer Mann hinzu, „haben sich die stützenden Terrassen aufgelöst, erst durch das Feuer und dann durch Regen und Witterung.“
„Vor einigen Jahren haben Männer aus unserer Gemeinschaft versucht, die Mauern wiederaufzubauen“, fuhr der Anführer fort. „Aber die feindlichen Nationen um uns herum konnten ein Edikt des persischen Königs erwirken, das uns befahl, die Bauarbeiten einzustellen. Sie zwangen uns sogar, das, was wir schon errichtet hatten, wieder einzureißen.“
„Das ist unerhört!“ Nehemias Zorn flackerte auf wie Öl auf heißen Kohlen. „Was ist mit dem Tempel des Heiligen? Der wird doch beschützt und sicher sein?“
„Nein, auch der Tempel ist ungeschützt. Ohne Mauern haben die levitischen Wachen alle Hände voll damit zu tun, den Tempelschatz zu bewachen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass der Statthalter in Samarien oder seine Provinztruppen uns bewachen, selbst wenn er uns welche schicken würde. Alle Nachbarn um uns herum hassen uns – die Samaritaner und Edomiter, die Ammoniter und Araber. Nichts wäre ihnen lieber, als dass wir wieder verschwinden würden.“
„Und es gibt keine Möglichkeit, die Stadt zu befestigen?“, fragte Nehemia.
„Wenn wir versuchen, das ohne die Erlaubnis von König Artaxerxes zu tun, würde das als Akt der Rebellion gedeutet. Und woher sollten wir die Mittel nehmen? Wir sind ja hier, weil wir nicht einmal die Steuern zahlen können, die er uns auferlegt. Es wäre ein unmögliches Unterfangen, die Mauern wiederaufzubauen.“
Nehemia schüttelte den Kopf. Er konnte kaum fassen, was er da hörte. „Ihr sagt also, dass die Stadt und der Tempelberg beide völlig schutzlos sind? Unsere Feinde könnten noch einmal kommen und unser Volk töten und Jerusalem und den Tempel des Allmächtigen zerstören?“
„Ganz und gar schutzlos“, bestätigte der Anführer. „Und deswegen gerät die Zahl von Raubüberfällen nach zwei Jahren Dürre auch außer Kontrolle. Unsere Feinde schlagen nachts zu und suchen wegen der allgemeinen Hungersnot nach Obst und Getreide. Niemand fühlt sich mehr sicher.“
„Ein junger Freund von mir namens Itzhak ben Refaja wurde vor einigen Monaten getötet“, fügte Hanani hinzu, „als sein Haus in Jerusalem überfallen wurde. Itzhak wollte heiraten und hatte gerade ein neues Heim für seine Braut gebaut. Die Diebe brachten ihn um und leerten sein Lager. Er wohnte übrigens ganz nahe bei Ephraim und seiner Familie. Es hätte genauso gut ihn treffen können.“
Nehemia spürte, wie ein mächtiger Zorn in ihm aufstieg, während ihm das Bild von der Hilflosigkeit der Stadt immer klarer vor Augen stand. Sicherheit war sein Beruf, seine Leidenschaft. Allmählich verstand er, was ihr Anführer gemeint hatte, als er sagte, ihr Volk leide unter großen Schwierigkeiten und Schande. Aber was konnte er tun? „Ich muss zu meiner Arbeit in der Zitadelle zurück. Wir reden ein anderes Mal weiter“, versprach er, als er ging.
Die Worte des Anführers hallten den ganzen Nachmittag und Abend in Nehemias Gedanken wider, noch lange, nachdem er sich für die Nacht in sein schlichtes Gemach in der Zitadelle zurückgezogen hatte. „Große Schwierigkeiten und Schande.“ Der Bericht entsetzte ihn, nicht nur um der Menschen willen, die von ihren Feinden ausgeraubt und getötet wurden, sondern auch um des Allmächtigen willen. Nehemia schnallte sein Schwert ab und zog seine Uniform aus. Sein Bett war für ihn bereitet worden, aber er konnte noch nicht schlafen. Stattdessen öffnete er den Fensterladen und blickte zu dem weiten Sternenhimmel über dem Dach des Palastes hinauf.
So wie die herrliche Stadt Susa dem persischen König Glanz und Ruhm brachte, so sollten die Stadt und der Tempel des einen, wahren Gottes ihm, dem Allmächtigen, Ehre und Ruhm bringen. Deshalb war es eine Schande und Blamage, dass es keine Stadtmauern und Tore gab. Die Heiden konnten Jerusalem leicht erneut zerstören, so wie sie es vor 140 Jahren getan hatten. Noch schlimmer, diese Verwundbarkeit vermittelte ihren Feinden die Botschaft, dass der Heilige unfähig – oder nicht willens – war, sein Volk zu beschützen.
Nehemia schloss das Fenster und ging im Zimmer auf und ab. Weil er wusste, dass sein Tagwerk noch vor dem Morgengrauen beginnen würde und er seinen Schlaf brauchte, löschte er die Lampe und sank auf sein Bett. Dass er Hanani wiedergesehen hatte und an diesem Tag zweimal an den tragischen Tod ihres Vaters erinnert worden war, gab ihm jetzt das Gefühl, wieder ein Kind zu sein – hilflos, verletzlich. Er hatte sich und seine Brüder in jener Nacht vor so vielen Jahren gerettet, indem sie sich in einer Nische zwischen der Wand und der riesigen Holztruhe versteckt hatten, die sein Vater schräg in einer Ecke aufgestellt hatte. Nehemia und seine beiden Brüder hatten sich dort oft versteckt, wenn sie gespielt hatten. Doch auch, wenn Nehemias Instinkt ihn nun dazu drängte, wieder einen Weg zu finden, wie er seine Brüder beschützen konnte – und sein ganzes Volk in Jerusalem –, konnte er es doch nicht.
„Unsere jüdischen Landsleute, die das Exil überstanden haben und jetzt wieder in der Provinz leben, sind großen Schwierigkeiten und Schande ausgesetzt.“
Nun, wo er allein in seinem Zimmer war, versuchte Nehemia nicht mehr, seine Tränen zurückzuhalten.
Lynn Austin
KURZ:
ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Holland, Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.
LANG:
Lynn Austin ist eine weltweit bekannte Bestsellerautorin. Mit Titeln wie "Die Apfelpflückerin", "Luisas Töchter" oder "Im Sand der Erinnerung" schrieb sie sich in die Herzen ihrer Leser. Sie wurde für ihre historischen Romane achtmal mit dem Christy Award ausgezeichnet, dem bedeutendsten christlichen Romanpreis in den USA, und ist eine gefragte Rednerin bei Tagungen und Konferenzen. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin. Lynn und ihr Mann haben drei Kinder großgezogen und leben in Holland, Michigan. Mehr erfahren Sie unter www.lynnaustin.org.
Lynn Austin hat weltweit mehr als anderthalb Million Exemplare ihrer Bücher verkauft. Sie wurde für ihre historischen Romane achtmal mit dem Christy Award ausgezeichnet und ist eine beliebte Referentin bei Tagungen und Konferenzen. Lynn und ihr Mann haben drei Kinder großgezogen und leben in Michigan.
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Holland, Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.
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