17. August 1863: In den Bergen außerhalb der von der Unionsarmee besetzten Stadt Nashville
Oberleutnant Ridley Adam Cooper spähte im Schutz der Abenddämmerung mit seiner angelegten Winchester durch die stacheligen Kiefernzweige. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und über seinem Auge, aber er wischte sie nicht weg. Er war voll und ganz auf den Schwarzen konzentriert, der vor dem Lagerfeuer hockte, und auf das, was der Sklave offenbar gleich hinter dem kleinen Hügelkamm versteckt hatte.
Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Schwarze ihn noch nicht bemerkt, sonst würde er nicht so ruhig sein Abendessen zubereiten. Bohnen und Pökelfleisch mit Brötchen und Kaffee, wenn ihn sein Geruchssinn nicht täuschte.
Richtiger Kaffee. Nicht dieses eklig schmeckende Gebräu, das die Rebellen über offenem Feuer kochten, bis es eine dunkle Brühe war, die sie dann literweise in sich hineinkippten.
Die Rebellen. Einerseits seine Brüder, jeder Einzelne von ihnen. Zwei von ihnen waren sogar seine leiblichen Brüder. Und gleichzeitig gehörten sie zur feindlichen Armee. Er hoffte, Petey und Alfred ging es gut, wo auch immer sie gerade waren.
Ein Wind aus dem Norden begleitete den Einbruch der Nacht, aber die Luftbewegung trug wenig dazu bei, die glühende Hitze und die Feuchtigkeit zu mildern. Jemand, der in den schwülen, heißen Sommern South Carolinas aufgewachsen war, sollte sich inzwischen daran gewöhnt haben. Aber die Wolle der Unionsuniform war schwer und in den letzten Tagen noch drückender geworden als in seiner ersten Zeit als Offizier der Unionsarmee.
Trotzdem wusste er, dass er sich für die richtige Seite entschieden hatte. Egal, was andere sagten oder machten. Oder was sie ihm vorwarfen.
Ridley spürte einen durchbohrenden Schmerz. Nicht so sehr vor Hunger, obwohl er etwas essen könnte, wenn er etwas bekäme. Sein Schmerz ging viel tiefer und war verzweifelter als alles andere, wo-ran er sich erinnern konnte. Gott, wenn du mich hörst, wenn du uns dort, wo du bist, immer noch siehst … ich hasse diesen Krieg! Er hasste das, was dieser „kurze Konflikt“, wie Präsident Lincoln es am Anfang bezeichnet hatte, ihm und allen anderen zwei blutige Jahre später angetan hatte.
Besonders hasste er das, was heute Nacht von ihm verlangt wurde. „Um jeden Preis“, hatte sein Kommandant gesagt und mit diesem Befehl keine Fragen offen gelassen.
Mit zusammengebissenen Zähnen schob Ridley die Hand in seine Jackentasche und zog eine Muschel heraus. Er hatte sie bei seinem letzten Spaziergang am Strand in der Nähe seines Zuhauses gefunden, bevor er sich dem 167. Pennsylvania Regiment angeschlossen hatte, um für die Unionsarmee zu kämpfen. Die Jakobsmuschel war winzig, kaum größer als eine Münze, und die Innenseite passte wie angegossen auf seinen Daumen. Mit dem Zeigefinger fuhr er die vertrauten Rillen auf der Außenseite nach und schaute zum Himmel hinauf, an dem das weite Meer aus roten und lila Farbschattierungen langsam in Schwarz überging.
Der Nachthimmel war so friedlich, die Sterne tauchten wie eine Million Glühwürmchen nacheinander auf und standen genau an der richtigen Stelle. Wenn man zum Himmel hinaufschaute, hatte man keine Ahnung, dass hier unten ein Krieg tobte.
Als sein befehlshabender Offizier einen Freiwilligen für den Spähauftrag gesucht hatte, hatte er nicht einmal gewartet, bis jemand die Hand gehoben hatte. Er hatte Ridley direkt angesehen und ihm mit seiner Miene zu verstehen gegeben, dass jeder Widerspruch zwecklos wäre. Ridley hatte nicht widersprochen. Er hatte sich einfach die Befehle angehört und war vor fast drei Tagen beim ersten Morgenlicht aufgebrochen. Ridley wusste, dass der Kommandant nichts gegen ihn persönlich hatte. Der Mann unterstützte ihn in jeder Hinsicht.
Ridleys Temperament und seine „freundliche“ Auseinandersetzung mit einem Offizierskollegen, einem vorlauten Leutnant aus Philadelphia, der „diese nichtsnutzigen, ungebildeten Südstaatler“ hasste, hatten ihn in die Situation gebracht, in der er sich heute Abend befand. Dieser Idiot hatte ihn mehr oder weniger beschuldigt, für die Konföderierten zu spionieren. Ihr Kommandant hatte die Gerüchte zwar im Keim erstickt, aber ein leichter Zweifel war geblieben. Und mit diesem Befehl ermöglichte der Kommandant Ridley, das Vertrauen seiner Offizierskollegen zurückzugewinnen, was dringend nötig war.
Ridley wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform die Stirn ab, achtete aber darauf, kein Geräusch zu verursachen. Er hatte sein Pferd ein gutes Stück weiter hinten angebunden und war zu Fuß an diese Stelle gekommen.
Er kannte die Hügel, die Nashville umgaben, auch nicht besser als der Rest seiner Einheit, aber er kannte sich in dieser Art von Gelände aus. Er wusste, wie man in einem solchen Gelände jagte und sich im Wald bewegte. Und wie man sich hier verstecken konnte. Der Wald war stellenweise so dicht, die Kiefern standen so eng nebeneinander, dass man sich hier draußen verirren konnte, wenn man nicht wusste, wie man sich im Wald zurechtfand.
Sie hatten Wind davon bekommen, dass Rebellen die umliegenden Gebiete durchstreiften – brutale Suchtrupps, die glaubten, sie verträten das Gesetz –, und er hätte wetten können, dass sie das suchten, was er gerade gefunden hatte. Bis jetzt hatte er noch keine Spur von ihnen entdeckt. Aber er konnte sich gut vorstellen, was sie mit einem Unionssoldaten anstellen würden, den sie allein antrafen, besonders wenn er Offizier war und dann auch noch einer von „ihren eigenen Leuten“. Deshalb konnte er es nicht erwarten, diese Sache hinter sich zu bringen.
Ridley verstärkte den Griff um seine Winchester, trat aus der Deckung der Bäume heraus und war immer noch ungefähr zehn Meter von dem Schwarzen entfernt. Er ging auf ihn zu – acht Meter, sechs Meter –, der weiche Waldboden aus Kiefernnadeln dämpfte seine Schritte. Fünf Meter, drei Meter … Der Mann arbeitete unbeirrt weiter. Er rührte den Kaffee um, dann die Bohnen, dann …
Ridley blieb abrupt stehen. Entweder war der Mann taub oder er wusste bereits, dass er hier war. Da er Letzteres vermutete, legte er sein Gewehr an und schaute sich vorsichtig um, ob sich jemand zwischen den Bäumen versteckte oder ein Gewehrlauf auf seine Brust gerichtet war. Es war zu spät, um zurückzuweichen. Aber Rückzug, egal welcher Art, war ohnehin nie seine Art gewesen, wie dieser eingebildete, arrogante kleine Leutnant aus Philadelphia ganz genau gewusst hatte.
Er bemühte sich um einen ruhigen, aber nicht zu freundlichen Tonfall. „Guten Abend.“
Der Schwarze hob den Kopf. Dann richtete er sich langsam zu seiner vollen Größe auf, war aber immer noch einen Kopf kleiner als Ridley. Um den Bauch herum war er dicker. Er war auch älter als Ridley. Vielleicht um die dreißig oder eher um die vierzig. Das war schwer zu sagen. Der Mann hatte muskulöse Schultern und aus der Breite seiner Hände und Unterarme schloss Ridley, dass jahrelange harte Arbeit für harte Muskeln unter diesem kleinen Bauchansatz gesorgt hatte. Er hoffte, dass der Sklave daraus keine falsche Hoffnung schöpfte.
„Guten Abend“, antwortete der Schwarze und fügte nach einem kurzen Blick auf die Streifen auf Ridleys Schultern hinzu: „Herr Leutnant, Sir.“
In seiner Stimme lag nicht die geringste Spur von Überraschung, was Ridleys Vermutung bestärkte. Dass der Mann über militärische Ränge Bescheid wusste, verriet außerdem eine Menge.
Der Blick des Schwarzen wanderte zu Ridleys Winchester und dann wieder zu seinem Gesicht zurück. Ridley war nicht sicher, ob er in den Augen des Mannes Resignation oder Enttäuschung las. Vielleicht beides.
Ridley betrachtete das Lager. Sauber, ordentlich. Alles war gepackt. Alles bis auf das Essen. Als wollte der Mann bald aufbrechen. Aber – Ridley schaute genauer hin – auf einem Felsen neben dem Feuer stand nicht eine Tasse, sondern zwei. Er betrachtete den Sklaven und sah die Vorsicht in den Augen des Mannes. „Wie lange wissen Sie schon, dass ich Sie beobachte?“
Der Schwarze biss sich auf die Unterlippe, sodass sein grau durchzogener Bart am Kinn abstand. „Ungefähr seit der Kaffee kocht, Sir.“
„Sie haben mich gehört?“, fragte Ridley, obwohl er wusste, dass das unmöglich war. Er hatte kein Geräusch verursacht. Das wusste er genau.
Der Mann schüttelte den Kopf und schaute ihn mit tiefen, dunkelbraunen Augen an, die fast flüssig wirkten. „Ich habe Sie eher gefühlt, Sir.“
Ein Schauern zog über Ridleys Rücken. Am liebsten hätte er nachgefragt, ob dieser Mann das hatte, was manche „einen sechsten Sinn“ nannten, aber er war weise genug, das zu unterlassen. Er hatte einen Befehl auszuführen und konnte es sich nicht leisten zu versagen, da seine Loyalität zur Union von einigen infrage gestellt wurde. „Ich nehme an, Sie wissen, warum ich hier bin.“
Da war dieser Blick wieder. Dieses Mal sprach eindeutig Resignation aus den Augen des Schwarzen.
„Ich glaube schon, Sir. Aus dem gleichen Grund, aus dem alle anderen mich suchen.“ Der Sklave schüttelte den Kopf. „Wie haben Sie mich gefunden?“
Erst jetzt gestattete sich Ridley den Anflug eines Lächelns. „Das kann ich gar nicht genau sagen. Wir hörten Gerüchte, dass in diesen Bergen Pferde versteckt sind. Ich habe mich freiwillig gemeldet, könnte man sagen, und dann bin ich einfach losgeritten. Ich bin meinen Ins-tinkten gefolgt und dorthin geritten, wohin ich gehen würde, wenn ich Pferde zu verstecken hätte.“
Die Brauen des Mannes zogen sich nach oben. Dann nickte er langsam, als denke er angestrengt nach. Er deutete zum Feuer. „Das Essen ist fertig, Herr Leutnant. Möchten Sie etwas essen?“
Ridley warf einen Blick auf den Topf mit den Bohnen und dem Fleisch, die über dem Feuer kochten, dann auf die Dose mit den Brötchen, die danebenstand, und sein Magen knurrte. Dieser Mann lud ihn zum Essen ein? Obwohl er ganz genau wusste, warum er hier war? Ridley betrachtete ihn wieder und traute ihm keinen Augenblick. Aber vor ihm lag ein weiter Rückweg ins Lager und das getrocknete Dörrfleisch in seinem Sattel konnte mit dem Essen über dem Feuer nicht mithalten. „Das ist sehr nett. Danke.“