Kate O'Malley hat den Ruf, mit ihrem legendären Verhandlungsgeschick noch jedes Geiseldrama entschärft zu haben. Im Auge des Sturms ist ihr Platz – dort, wo sie sich nur noch auf sich selbst verlassen kann. Als ein Flugzeug in die Luft fliegt und Kate plötzlich schwarze Rosen geschickt bekommt, gerät ihre Welt gefährlich ins Schlingern.
Gut, dass sie vor Kurzem Dave Richman kennengelernt hat. Als FBI-Agent ist es seine Aufgabe, Menschenleben zu retten. Wie aber beschützt man eine Frau, die es zu ihrem Beruf gemacht hat, ihren Schutzengel herauszufordern?
€ 5,00
Preise inkl. MwSt., keine Versandkosten innerhalb Deutschlands ab € 10,00.
€ 0,00 inkl. MwSt.
Kapitel 1
Kate O’Malley war schon seit dem frühen Morgen im „Kerker“. Die Mitarbeiter des Krisenteams, das aus einer Eliteeinheit und Rettungskräften für Geiselnahmen bestand, waren bei der letzten Umstrukturierung in den Keller der Bezirksbehörde verbannt worden. Die Metallschreibtische standen eng zusammengepfercht, die Betonwände brauchten dringend neue Farbe, die Karteikästen mit den abgeschlossenen Fällen verbreiteten einen muffigen Geruch. An der Decke gluckerten die Wasserleitungen, die aus dem großen Zentralboiler kamen. Das Team war stolz auf sein armseliges Quartier, auch wenn Zimmerpflanzen es dort nur wenige Tage aushielten, denn hier wurde alles ein bisschen lockerer gehandhabt.
Den einzigen Hinweis auf eine bürokratische Ordnung lieferte eine Stechuhr an der Stahltür, damit die Mitarbeiter, die nicht fest angestellt waren, ihre Überstunden abrechnen konnten.
Obwohl die Sohlen ihrer Tennisschuhe nicht gerade sauber waren, hatte Kate die Füße auf die Ecke ihres Schreibtischs gelegt. Mit aneinandergelegten Fingerspitzen und halb geschlossenen Augen verfolgte sie konzentriert den Klang ihrer eigenen Stimme aus den Kopfhörern. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, ihren inneren Aufruhr nicht in ihren Gesichtszügen zu zeigen. Sie ging noch einmal die letzte ihrer Verhandlungskassetten durch. Der Fall 2214 von letzter Woche ließ ihr keine Ruhe. Sie war zu einer Szene häuslicher Gewalt gerufen worden. Es waren Schüsse gefallen. Sechs Stunden dauerte es, bis der Fall durch Verhandlungen ein friedliches Ende fand – sechs angsterfüllte Stunden für die Mutter und die drei Kinder, die im Haus festgehalten wurden. Wäre es möglich gewesen, diese Zeit zu verkürzen? Als Kate den Drohungen des betrunkenen Ehemannes und ihrer eigenen, ruhigen Stimme zuhörte, atmete sie automatisch tief durch, um ihren aufwallenden Zorn zu unterdrücken. Sie hasste solche Fälle, weil sie längst vergessen geglaubte Erinnerungen weckten.
Die Kassette drehte sich automatisch auf die andere Seite. Sie nahm einen Schluck heißen Kaffee und verzog das Gesicht. Bestimmt hatte Graham dieses Gebräu gemacht. Sie hatte nichts gegen starken Kaffee, aber das war doch zu viel. Mit einem Ruck öffnete Kate die mittlere Schreibtischschublade. Zwischen Schokoriegeln und zwei großen Silbermedaillen, die sie für ihre Tapferkeit erhalten hatte, suchte sie nach Zuckertütchen. Mit ihren sechsunddreißig Jahren war Kate bei der Polizei bereits so etwas wie eine lebende Legende. Das fand sie zwar seltsam, aber sie konnte es nachvollziehen. Als Vermittlerin bei Geiselnahmen und Entführungen war sie bekannt wegen ihrer inneren Stärke und ihrer Bereitschaft, sich jeder Situation zu stellen. Häusliche Gewalt, verpfuschte Raubüberfälle, Geiselnahmen, sogar Flugzeugentführungen – sie hatte schon alles hinter sich.
Kate hatte die seltene Begabung, die Leute das sehen zu lassen, was sie sehen wollten. Sie konnte mitten in einer Krisensituation verharren – stunden- oder auch tagelang – und um ein friedliches Ende feilschen. Dabei wirkte sie entspannt, distanziert und häufig auch gelangweilt. Das funktionierte gut. Ihre scheinbare Langeweile in einer Krise hielt die Menschen am Leben. Mit den Gefühlen musste sie später fertigwerden, wenn alles vorbei war – weit weg von der Arbeit. Häufig spielte sie Basketball, denn dabei konnte sie sich voll konzen-trieren und ihre innere Anspannung abbauen.
Sie hatte die Kassetten jetzt zum vierten Mal durchgehört. Ihre Notizen über den Fall schienen vollständig zu sein. Es gab nichts, was sie hätte anders machen können. Sie stoppte den Rücklauf des Kassettenrekorders und war erleichtert, dass sie mit ihrer Überprüfung fertig war. Sie nahm den Kopfhörer ab und fuhr sich mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar.
„O’Malley.“
Sie drehte sich um und sah, wie Graham den Telefonhörer hochhielt.
„Ihr Bruder auf Leitung drei.“
„Welcher ist es denn?“
„Der Sanitäter.“
Sie drückte die blinkende Taste. „Hallo, Stephen.“
„Darf ich raten? Du filterst deine Anrufe.“
Das stimmte, aber anstelle einer Begrüßung klang diese Bemerkung witzig. „Ich halte mich ein paar Tage lang von den Medien fern. Hast du heute frei?“
„Ich mache gerade Feierabend. Hast du schon gefrühstückt?“ Seine Stimme klang angespannt.
„Ich habe nichts gegen einen guten Kaffee und ein paar Pfannkuchen.“
„Ich komme rüber zu Quinns Café. Das ist ja bei euch gleich über die Straße.“
„Alles klar.“
Kate warf einen Blick auf ihren Piepser und bestätigte mit einem Tastendruck, dass sie auf Abruf war. Sie steckte ihr Handy in die Tasche ihrer Bluse und stand auf. „Ich gehe frühstücken. Soll ich euch etwas mitbringen?“ Quinns Café war für sie alle ein beliebter Treffpunkt. Aus dem ganzen Büro kamen Bestellungen. Schließlich standen drei Erdbeer-, vier Kirsch- und zwei Apfelkuchenstückchen auf ihrer Liste. „Piepst mich an, wenn etwas ist.“
Die Treppen, die aus dem „Kerker“ herausführten, waren aus Beton und auf beiden Seiten mit Geländern versehen, damit man rasch hi-
nauf- oder hinunterrennen konnte. An beiden Enden des Gangs befanden sich Sicherheitstüren. Die Treppe führte zum Sicherheitsbereich des Parkhauses. Dort standen die mit modernster Technik ausgestatteten Kommunikationswagen des Teams. Sie glänzten wie neu, weil sie erst gestern poliert worden waren.
Kate setzte ihre Sonnenbrille auf. Der Juni hatte mit Gluthitze und wenig Regen begonnen. Das grelle Sonnenlicht dörrte sogar den Straßenbelag im Stadtzentrum von Chicago aus, und so war der Boden mit feinem Staub bedeckt. In diesem engen Straßenkorridor war der Verkehr sehr dicht. Sie überquerte die Straße bei Rot.
Quinns Café war eine Mischung aus Neuem und Altem. Es gab Plätze für etwa siebzig Besucher. Kate winkte dem Inhaber zu, nahm sich zwei Speisekarten vom Stapel und ging zu ihrem Stammplatz im hinteren Teil des Restaurants. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Es fand immer ein amüsanter Streit um die Plätze statt, wenn zwei oder mehr Polizisten Quinns Café aufsuchten, denn keiner von ihnen drehte gern einem offenen Raum den Rücken zu.
Sie dankte der Bedienung für eine Tasse Kaffee, während sie die Speisekarte durchsah, obwohl sie diese schon auswendig kannte. Heidelbeerpfannkuchen sollten es sein. Sie war ein Gewohnheitstier. Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatte, lehnte sie sich entspannt in ihrem Stuhl zurück, um den Kaffee zu genießen und den Gesprächen an den anderen Tischen zuzuhören. Die Frauen am Fenster redeten über eine Babyparty. Die Geschäftsmänner zu ihrer Linken unterhielten sich über einen Angelausflug. Zwei Teenager überlegten sich, wo sie ihren Einkaufsbummel beginnen sollten. Kate rührte drei Päckchen Zucker in ihren Kaffee. Der ganz normale Alltag – nach zehn Jahren als Polizei-Vermittlerin blieb in ihrem eigenen Leben nicht mehr viel Normalität übrig. Die Banalitäten, die für die meisten Leute so wichtig waren, interessierten sie schon lange nicht mehr. Normale Menschen machten sich Gedanken über Kleidung, Ferien, Feiertage. Kate machte sich Gedanken darüber, wie sie am Leben bleiben konnte. Wenn dieser Gegensatz nicht so krass gewesen wäre, hätte er amüsant sein können.
Stephen kam herein, als sie bei ihrer zweiten Tasse Kaffee war. Kate musste lächeln, als sie sah, wie viel Aufmerksamkeit er erregte, als er sich zu ihr setzte. Sie konnte die Blicke der Frauen gut verstehen. Seine Sportjacke und seine Jeans betonten seinen athletischen Körperbau. Er hätte sich auf den Titelseiten eines Modemagazins für Männer sehen lassen können. Das war nicht schlecht für jemanden, der seine Tage mit Opfern von Autounfällen, Bränden, Schießereien und Drogenmissbrauch verbrachte. Er würde nicht für immer in dieser Stadt bleiben, denn er erwähnte gelegentlich, dass er gerne in den Nordwesten ziehen wollte – in eine kleine Stadt mit einem See, einem guten Fischbestand und einem Job, bei dem er endlich mehr Patienten mit Herzinfarkten als Opfer von Schießereien behandeln könnte, aber noch blieb er hier. Kate wusste, es war hauptsächlich ihretwegen. Stephen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, als ihr Leibwächter zu fungieren. Er wurde nie darum gebeten, sondern hatte einfach diese Rolle übernommen. Sie mochte ihn deswegen noch lieber, obwohl sie ihn manchmal wegen seiner übertriebenen Fürsorglichkeit verspottete.
Er setzte sich ihr gegenüber. „Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Kate.“
„Du musst nur das Wort ‚Essen‘ in den Mund nehmen, und schon hast du meine volle Aufmerksamkeit.“ Sie schob die zweite Tasse Kaffee, die die Kellnerin nachgefüllt hatte, zu ihm hin, ohne etwas über die Anspannung zu sagen, die sie trotz seines Lächelns in seinen Augen gesehen hatte. Dieser leicht gehetzte Blick war gestern noch nicht da gewesen, als er sich mit ihr zu einem Basketballspiel getroffen hatte. Hoffentlich war dieser Ausdruck in seinen Augen nur die Nachwirkung einer ermüdenden Schicht. Wenn er das Bedürfnis hatte, würde er ihr schon alles erzählen. In der O’Malley-Familie gab es nur wenige Geheimnisse.
Im Trevor House, dem Waisenhaus, in dem es so etwas wie ein Familienleben nicht gab, hatten sieben Jugendliche beschlossen, ihre eigene Familie zu gründen. Sie hatten den Nachnamen O’Malley gewählt. Stephen gehörte zu den drei Sonderfällen in ihrer Familie, denn er war ein echtes Waisenkind, nicht wie die anderen ein verlassenes oder missbrauchtes Kind. Es verband sie keine Blutsverwandtschaft, aber das spielte keine Rolle, denn das Schicksal, das sie miteinander teilten, war weitaus stärker als Blutsbande. Etwa zwei Jahrzehnte nach ihrem Entschluss war ihre Verbindung noch genauso eng wie damals. In gewisser Weise hatten sie sich gegenseitig adoptiert.
„Hast du die Nachrichten gesehen?“, fragte Stephen, nachdem die Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte. Kate verneinte mit einem Kopfschütteln. Sie war heute sehr früh aus dem Haus gegangen, um im Sportzentrum ein bisschen zu trainieren; von dort aus war sie direkt ins Büro gegangen.
„Auf der Autobahn sind fünf Autos ineinander gerast. In einem der Unfallwagen saß ein dreijähriger Junge auf dem Beifahrersitz. Er ist auf dem Weg ins Bezirkskrankenhaus gestorben.“
Wenn Kinder zu Opfern wurden, fühlte sich jeder aus der O’Malley-Familie persönlich betroffen.
„Das tut mir leid, Stephen.“ Er verarbeitete solche Dinge auf dieselbe Art wie sie, nämlich langsam und nach Feierabend.
„Mir auch.“ Er schob seine Kaffeetasse auf die Seite. „Aber deshalb habe ich dich nicht angerufen. Jennifer kommt nach Chicago.“
Jennifer O’Malley war die Jüngste in der Familie und jedermanns Liebling. Sie arbeitete als Kinderärztin in Dallas.
„Ach ja?“
„Sie hat mich heute Morgen angerufen. Sie hat für Sonntag einen Flug gebucht. Ihre Maschine wird in O’Hare landen.“
Kate registrierte diese Information mit einem Stirnrunzeln. Kein Arzt konnte so kurzfristig seine Praxis allein lassen. „Hat sie gesagt, warum sie kommen will?“
„Nein. Sie hat mich nur gefragt, an welchem Tag ich freihabe, weil sie ein Familientreffen arrangieren will. Vielleicht hat sie schon auf deinen Anrufbeantworter gesprochen.“
Ohne zu zögern griff Kate nach ihrem Handy und rief ihre private Telefonnummer an. Als nach dem Klingelton der Anrufbeantworter ansprang, drückte sie eine Taste, gab ihren Code ein und hörte die Nachrichten ab.
In der Zwischenzeit wurde ihr Frühstück serviert. Jennifer hatte eine Nachricht hinterlassen, aber sie sagte nur, dass sie sich am Sonntagabend bei Lisa zum Essen treffen würden. Kate klappte ihr Handy zu. „Das gefällt mir nicht.“
„Es kommt noch schlimmer. Marcus fliegt von Washington zurück, damit er bei dem Treffen dabei sein kann.“
Kate ließ sich diese Information zusammen mit ihren heißen Heidelbeerpfannkuchen auf der Zunge zergehen. Ihr ältester Bruder, ein Polizeidirektor, sagte wichtige Termine ab, damit er nach Chicago kommen konnte. „Jennifer hätte gleich sagen können, dass es um eine Familienkrise geht.“ Wenn ein Mitglied ihrer Familie dieses Wort in den Mund nahm, ließen die anderen alles stehen und liegen, um zu helfen.
Stephen griff nach seinem Orangensaft. „Ich würde ihr Verhalten so deuten.“
„Hast du irgendeinen Verdacht?“
„Nein. Als ich letzten Freitag mit Jennifer sprach, war wohl noch alles in Ordnung.“
„Hat ihre Stimme angespannt geklungen?“
„Vielleicht ein bisschen müde, aber das ist ja auch kein Wunder bei ihrem vollen Terminplan.“
Kates Piepser meldete sich. Sie warf einen Blick auf die Nummer, die sie zurückrufen sollte, und zog eine Grimasse. Vielleicht würde es ihr irgendwann einmal gelingen, eine Mahlzeit in Ruhe zu beenden.
Sie legte die Stoffserviette neben ihren Teller, als sie aufstand. „Die Arbeit ruft. Kommst du zum Abendessen? Ich habe um sechs Uhr Feierabend. Danach will ich Steaks grillen.“
„Das hört sich gut an. Pass auf dich auf, Kate.“
„Wie immer, Stephen. Das Frühstück geht auf meine Rechnung.“
„Ich hab’ schon für uns beide bezahlt.“
Für einen Protest blieb ihr keine Zeit mehr. Sie stritten sich immer wieder darum, wer wem etwas spendieren sollte.
Sie lächelte ihn an und ließ ihn diese Runde gewinnen. „Also dann bis heute Abend.“
* * *
Als FBI-Agent musste Dave Richman an jedem Tag seines Lebens mit Krisen fertigwerden. Trotzdem würde er niemandem raten, sich als Kunde in einer Bank aufzuhalten, wenn dort gerade ein Überfall stattfand. Sein Herz raste, als er sich mit dem Rücken an den Schreibtisch der Rezeption lehnte. Er betete, dass der Bewaffnete sich nicht von der anderen Seite des Schalterraums wegbewegte. Der Mann war durch den Haupteingang hereingekommen. Nachdem er mit seiner Pistole vier Löcher in die Decke geschossen hatte, forderte er ein paar Kunden und Bankangestellte zum Verlassen des Gebäudes auf. Die anderen mussten zurückbleiben. Dave hätte den Mann schon in den ersten Sekunden niedergeschossen, wenn ihn der Sprengstoffgürtel, den der Bankräuber um die Brust trug, nicht daran gehindert hätte. Beim FBI gibt es eine einfache Regel: Wenn Dynamit, eine geladene Handfeuerwaffe und eine Gruppe verängstigter Menschen im Spiel sind, darf man nicht vorschnell handeln.
Im anfänglichen Durcheinander gelang es Dave, sich auf den Boden zu werfen und sich so außer Sichtweite zu bringen. Vor sich hatte er etwa zwei Meter bis zum Kundenschalter, an dessen Ende ihm der Bogen der wie ein L geformten Rezeption Deckung bot. Momentan genügte ihm dieses Versteck. Der Bewaffnete hatte die Geiseln auf die andere Seite des offenen Raumes getrieben. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Büros oder den gesamten Schalterraum zu durchsuchen. Möglicherweise war sein Handeln von Gefühlen bestimmt. Dave war klar, dass ihn das noch gefährlicher machte, als er ohnehin schon war. Er hätte jetzt dringend sein FBI-Team gebraucht. Aber die städtischen Polizisten überprüften ja die Nummernschilder der vor der Bank parkenden Autos, und so musste das Kennzeichen seiner blauen Limousine sein Büro in Alarmstimmung versetzen. Sein Team würde zum Ort des Geschehens kommen, weil er dort war. Schon oft hatte er seinen Mitarbeitern sein Leben anvertraut, und es sah ganz so aus, als ob er das heute wieder tun müsste. Draußen waren das Sirenengeheul und der Lärm des geschäftigen Treibens verstummt. Dave war sich sicher, dass die Polizei das Gebäude inzwischen umstellt hatte.
Er lehnte sich mit dem Kopf an die Wand seines Verstecks. So hatte er sich seinen Geburtstag nicht vorgestellt. Seine Schwester Sara erwartete ihn zum Mittagessen. Wenn er nicht auftauchte, würde sie sich Sorgen machen. Für diese Krise konnte es keine einfache Lösung geben. Deshalb war er dankbar, dass Gott sich auch in solchen Situationen als souverän erwies. Der Schimpftirade hinter ihm zufolge hatte der Mann nicht vor, die Bank auszurauben.
* * *
Sie hatten es also mit einem Bankräuber zu tun, den das Geld der Bank nicht interessierte. Kate befürchtete das Schlimmste. Die Aufnahmen der Sicherheitskameras waren bereits in den Kommunikationswagen der Polizei übertragen worden. Es gab Bilder von vier verschiedenen Kameras. Zwei von ihnen zeigten menschenleere Räume, die Glastüren des Haupteingangs und den Schalter für Autofahrer. Eine andere Kamera war auf einen höher gelegenen Punkt an den Vorderfenstern gerichtet. Auf diesem Ausschnitt waren auch die Geiseln zu sehen. Fünf Männer und vier Frauen saßen an der Wand. Die Bilder der vierten Kamera fesselten Kates Aufmerksamkeit. Der Mann lief mit schnellen Schritten in der Mitte des Raumes auf und ab. Er war groß und korpulent, und die Art, wie er sich bewegte, ließ seine Ungeduld erahnen. Der Zünder in seiner rechten Hand beunruhigte Kate, denn er sah aus wie ein Druckschalter. Wenn der Mann ihn losließ, konnte er damit die Explosion auslösen. Die Kameras zeigten Bilder ohne Ton, aber offenbar ärgerte sich der Mann über etwas. Sein Ärger galt vor allem einer der neun Geiseln, und zwar dem dritten Mann von hinten.
Der Bankräuber war mit einer bestimmten Absicht hierhergekommen. Da er allem Anschein nach nicht die Bank ausrauben wollte, musste das Ganze auf etwas viel Schlimmeres hinauslaufen. Als das Telefon im Schalterraum klingelte, nahm der Mann nicht den Hörer ab. Kate wechselte einen Blick mit ihrem Chef Jim Walker. Sie arbeitete jetzt seit acht Jahren für ihn. Er vertraute ihrem Urteil, und sie verließ sich darauf, dass er ihr das Leben rettete, wenn etwas schieflief.
„Jim, wir müssen die Lage schnell in den Griff bekommen. Wenn er nicht mit uns telefonieren will, müssen wir mit ihm eben auf die altmodische Art reden.“
Jim starrte auf die Monitore. „Einverstanden.“
Kate studierte die Pläne des Bankgebäudes. Der Eingang bestand aus zwei doppelten Glastüren mit einem etwa zwei Meter langen Vorraum dazwischen. Die Türen waren so konstruiert, dass sie im Winter die Kälte und im Sommer die Hitze abhielten. Kate wäre es lieber gewesen, wenn die Architekten bei ihrer Planung zuerst an die Sicherheit und dann ans Energiesparen gedacht hätten. Sie hatte diese beiden Doppeltüren und den Abstand dazwischen bereits als die größte Schwachstelle markiert, denn dieser Eingang war ein Niemandsland – mit knapp zwei Metern ohne Deckung.
„Graham, wenn ich mich dort aufhalte“, sie zeigte auf die Stelle, „genau hinter den beiden Glastüren, bin ich dann immer noch in deinem Blickfeld?“ Er gehörte zu den wenigen Kollegen, denen sie zutraute, im Notfall zielgenau über ihre Schulter hinwegzuschießen.
Graham sah sich den Plan an. „Ja“, antwortete er.
„Sag Olsen und Franklin, dass sie hier und dort eine Deckung platzieren sollen.“ Sie zeichnete im Schalterraum zwei Winkel ein. Das müsste reichen. Falls sie den Geiselnehmer überwältigen müssten, blieben ihnen nur wenige Möglichkeiten, wenn sie bei diesem Unternehmen nicht gleich die ganze Umgebung in die Luft jagen wollten.
Kate krempelte die Ärmel ihrer Flanellbluse hoch. Bei ihren Einsätzen war sie immer bequem gekleidet. Sie trug weder eine kugelsichere Weste noch eine Dienstwaffe, weil sie auf keinen Fall wie eine Polizistin wirken wollte. Durch ihre Körpergröße, ihre legere Kleidung und die Tatsache, dass sie eine Frau war, sollte sie harmlos wirken. In Wahrheit war Kate für den Bankräuber die größte Bedrohung überhaupt. Die Scharfschützen hörten auf ihr Kommando.
Kate warf noch einen kurzen Blick auf die Sicherheitsmonitore. Die Kameras zeigten nicht alle Räumlichkeiten der Bank. In den Büros konnte ein weiterer Bewaffneter lauern, und es konnten sich im Gebäude auch noch mehr Geiseln aufhalten. Die Wahrscheinlichkeit war zwar gering, aber diese Risiken musste man einkalkulieren.
„Ian, bitte lass das Telefon noch ein letztes Mal klingeln.“
Kate beobachtete die Reaktion des Geiselnehmers. Er drehte sich um, starrte zornig auf den klingelnden Apparat und ging mit schnellen Schritten darauf zu, aber er nahm den Hörer nicht ab. Gut so. Das Klingeln würde ihn nicht dazu bringen, sich zu melden, aber es lenkte ihn ab. Dieses Verhalten könnte sich noch als nützlich erweisen.
Es war Zeit zu gehen.
„Pass auf dich auf, Kate.“
Sie lächelte. „Wie immer, Jim.“
Der Parkplatz war vor Kurzem neu asphaltiert worden, und der frische Teer hinterließ klebrige Spuren an ihren Tennisschuhen. Als sie die Polizeiautos umrundete, um zum Eingang der Bank zu gelangen, warf Kate einen kritischen Blick auf die im Umkreis des Gebäudes postierten Polizisten. Einige Neulinge wirkten nervös, aber sie sah in der Gruppe auch ein paar Veteranen, die mit ihr zusammen bereits ähnliche Situationen erlebt hatten.
* * *
Dave sah die Frau, als sie auf den Haupteingang der Bank zuging. Er traute seinen Augen nicht. Sie kam einfach so herein. Sie trug keine kugelsichere Weste, keine Pistole, noch nicht einmal ein Funkgerät. Sie betrat die Bank, als sei nichts geschehen. Gott sei ihr gnädig. Noch nie zuvor hatte er so intensiv für jemanden gebetet – seine Schwester natürlich ausgenommen. Nichts konnte den Geiselnehmer daran hindern, die Frau zu erschießen.
Er duckte sich hinter den Schreibtisch. Wenn sie ihn sah, würde sie durch die Überraschung in ihrem Gesicht seine Anwesenheit verraten. Schnell kroch er zum anderen Ende des Schalters. Er hielt seine Pistole fest umklammert, denn ihm war klar, dass er eventuell eingreifen musste.
„Bleiben Sie stehen!“ Die Stimme des Geiselnehmers klang plötzlich eine Oktave höher.
Es war ihr tatsächlich gelungen, den Bewaffneten auf sich aufmerksam zu machen. Wenn sie sich nicht regelwidrig verhalten und eine kugelsichere Weste getragen hätte, wäre es für Dave ein Leichtes gewesen, den Geiselnehmer zu überwältigen, solange er abgelenkt war. Stattdessen war sie einfach hereinmarschiert, ohne die Grundregeln der Sicherheit zu beachten, und seine Gelegenheit war dahin. In Gedanken bedachte er den örtlichen Einsatzleiter mit allen möglichen Schimpfwörtern. Die Stadtpolizei hätte auf die Ankunft der professionellen Vermittler warten sollen, anstatt in ihrem Übereifer eine Polizistin in Zivil hierher zu schicken. Damit hatten sie für ein weiteres Problem gesorgt, und sie waren der Lösung keinen Schritt näher.
Gute Frau, machen Sie bloß nicht alles noch schlimmer! Hören Sie zu, sagen Sie so wenig wie möglich und nutzen Sie die nächstbeste Gelegenheit, um von hier zu verschwinden!
„Sie haben auf unseren Anruf nicht reagiert. Jim Walker möchte wissen, was Sie wollen.“
Sie hatte eine ruhige, gelassen klingende Stimme mit einem Südstaatenakzent. Das hatte Dave nicht erwartet. Sein erster Eindruck entsprach nicht seiner Vorstellung von einem Vermittler der Polizei, aber diese Gelassenheit klang echt. Erst jetzt sah er genauer hin. Die Vermittler, mit denen er sonst immer zusammengearbeitet hatte, waren Männer, die eine hohe Konzentration und ein großes Zielbewusstsein ausstrahlten. Diese Frau wirkte so, als ob alles an ihr fließend wäre. Sie war groß, schlank und braun gebrannt. Ihr kastanienbraunes Haar war lang, ihre Kleidung lässig. Wegen ihrer beinahe exotischen Schönheit war sie ungeeignet für verdeckte Ermittlungen, denn jeder, der sie sah, würde sie so schnell nicht vergessen. Sogar im Stehen wirkte sie entspannt. Das überzeugte ihn schließlich. Sie musste entweder eine Vermittlerin oder eine Närrin sein. Weil sein Leben von ihr abhing, zwang er sich zu der optimistischeren Variante.
„Ich habe schon alles, was ich will. Sie können sich umdrehen und dorthin gehen, wo Sie hergekommen sind.“
„Natürlich. Aber macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich erst einmal für ein paar Minuten hinsetze? Wenn ich gleich wieder gehe, wird mein Chef mich zusammenstauchen.“
Die Art, wie sie das sagte, brachte sogar den Geiselnehmer zum Lachen. „Setzen Sie sich hin, aber halten Sie die Klappe.“
„Aber gern.“
Dave entfuhr ein leiser Seufzer der Erleichterung. Er nahm den Finger vom Abzug. Sie hatten doch keinen Anfänger hierher geschickt. Aber wer war sie? Sie kam nicht vom FBI – so viel war sicher.
* * *
Kate blieb dort, wo sie stand, setzte sich mit einer graziösen Bewegung auf den Boden und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Glastür. Ihr Puls wurde langsamer. Es war ihr gelungen, die erste Minute ohne Eskalation zu überstehen. Das war immer ein gutes Zeichen. Sie musterte die Gesichter der Geiseln. Alle waren nervös, und drei der Frauen weinten. Dem Geiselnehmer gefiel das bestimmt nicht. Der Mann, dem seine besondere Aufmerksamkeit galt, sah so aus, als ob er gleich einen Herzanfall bekommen würde. Wenigstens versuchte hier niemand, den Helden zu spielen. Diese neun Menschen waren verängstigte, ganz normale Leute. Es war anders, wenn sie die Geiseln direkt vor sich hatte, anstatt sie nur auf dem Bildschirm zu sehen. Kate war erleichtert. Unter den Geiseln befanden sich keine athletisch oder militärisch wirkenden Typen. Bei manchen ihrer früheren Einsätze waren Geiseln umgekommen, weil sie versucht hatten, auf eigene Faust zu handeln. Sie wünschte, sie könnte ihnen sagen, dass sie dort bleiben sollten, wo sie waren, aber sie konnte sich ihnen nur durch ihr Verhalten mitteilen. Je gelangweilter sie wirkte, desto besser war es für alle Beteiligten. Am wichtigsten war es jetzt, den Geiselnehmer ein bisschen zu beruhigen. Sein kurzes, raues Auflachen vorhin war ein winziges, aber positives Signal, das sie später aufgreifen konnte.
Als der Geiselnehmer seinen Gang durch den Schalterraum wieder aufnahm, sah Kate sich seinen Sprengstoffgürtel genauer an. Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Ihr Kollege Manning vom Team der Sprengstoffexperten würde alle Hände voll zu tun haben. Schade, dass es keinen Gott gab. Wer außer Gott hätte die Probleme des Geiselnehmers lösen können, bevor er den Entschluss fasste, mit einer Ladung Dynamit und einer Pistole diese Bank zu überfallen? Der Mann würde ihr sicherlich nicht zustimmen, aber er hatte jetzt nur noch zwei Alternativen: Entweder er wanderte ins Gefängnis oder er starb. Das waren keine schönen Aussichten. Sie musste dafür sorgen, dass er nicht neun Unschuldige mit in den Tod riss – wenn sie sich selbst mitzählte, waren es sogar zehn.
Sie konnte den Mann nicht einfach erschießen lassen, denn dann würde sie riskieren, dass sich seine Hand von der Zündung löste und die Bombe hochging. Sie konnte den Mann auch nicht zu einer Entscheidung drängen, denn dann würde er sie niederschießen. Wenn das passierte, würde ihre Familie ihr für ihre Dummheit einen Denkzettel verpassen. Aus Erfahrung wusste sie, dass es schon anstrengend genug war, sich von einer Verletzung zu erholen, ohne dass ihr auch noch die ganze O’Malley-Sippe im Nacken saß.
Wenn sie mit dem Mann über die Freilassung der Geiseln verhandeln wollte, war das eine echte Herausforderung. Der Geiselnehmer schien nichts anderes zu wollen, als über das Schicksal des Bankdirektors bestimmen zu können. Dieses Ziel hatte er bereits erreicht. Für die Freiheit der Geiseln musste es eine entsprechende Gegenleistung geben. Sie könnte das Mitgefühl für die weinenden Frauen als Verhandlungsgrundlage verwenden, aber das könnte den Geiselnehmer dazu bringen, auch sie an die frische Luft zu setzen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr Verhandlungspunkte konnte sie für sich nutzen – zum Beispiel Essen, Trinken oder das praktische Problem, wie der Geiselnehmer so viele Menschen im Griff behalten wollte, wenn die Geiseln die Toilette benutzen mussten. Sie könnte einfach die Situation aussitzen und darauf warten, dass sich eine günstige Gelegenheit ergab. Aber wäre der Geiselnehmer bereit, so viel Zeit vergehen zu lassen, bevor die Lage eskalierte?
* * *
Dave stand vor einer schwierigen Entscheidung. Sollte er die Polizistin auf sich aufmerksam machen und das Risiko eingehen, dass sie durch ihren Gesichtsausdruck sein Versteck verriet, oder sollte er ruhig alles Weitere abwarten? Er gestand sich schließlich ein, dass er keine andere Wahl hatte. Einer allein konnte diese verzwickte Lage nicht beenden. Er musste sich zu erkennen geben. Vorsichtig zog er seinen Ausweis mit Dienstmarke aus der Hosentasche und klappte ihn auf. Er kroch nach vorne und lehnte sich mit dem Oberkörper aus seinem Versteck. Sie zeigte ihre Überraschung noch nicht einmal durch ein winziges Zusammenzucken. Ihr Gesicht blieb unbewegt. Sie drehte sich nicht nach ihm um. Stattdessen schnippte sie mit ihrem Zeigefinger, als ob sie eine Glasmurmel anstoßen wollte. Mit dieser winzigen Bewegung beorderte sie ihn zurück in sein Versteck. Dave ging in die Hocke. In einer weniger prekären Lage hätte er ihr Verhalten amüsant gefunden. Diese absolute Kontrolle über ihre Gefühle, ihren Gesichtsausdruck, ihr Verhalten – das war ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gab es ihm eine gewisse Sicherheit, andererseits war es fast unmöglich, he-rauszufinden, was sie wirklich dachte. Dennoch sagte ihm ihre Reaktion einiges über ihre Person. Mit dieser Fingerbewegung gab sie ihm einen eindeutigen Befehl, und sie erwartete, dass er ohne Widerrede gehorchte. Sie wusste genau, was sie wollte, und das sagte sie dann auch. Er empfand Mitleid für jene, die sie vor Gericht befragen mussten. Sie würde jeden Verteidiger auf die Palme bringen.
Er musste einen Weg finden, um mit ihr zu kommunizieren. Im Zeitlupentempo öffnete er die Schublade des Schreibtischs an der Rezeption. Er schaute hinein und fand, was er suchte: Papier. Vorsichtig zog er ein paar Blätter heraus und griff nach seinem Kugelschreiber. Er musste sich kurz fassen; die Buchstaben mussten groß und dunkel genug sein, damit sie alles auf einen Blick erkennen konnte. Was sollte er zuerst sagen?
4 SCHÜSSE GEFEUERT, 2 ÜBRIG!
Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Alles klar, Nachricht verstanden.
Das Beste wäre, den Geiselnehmer überraschend von hinten zu überwältigen. Aber dafür musste er näher kommen, damit Dave seine Hand an die Zündung bekommen konnte.
DEN MANN ZU MIR HER!
Sie las die Nachricht. Eine Zeit lang geschah nichts. Als der Geiselnehmer sich von ihr wegbewegte, schüttelte sie ganz leicht den Kopf.
Warum nicht? Dave war frustriert. Natürlich konnte sie diese Frage nicht beantworten.
DIE GEISELN BEFREIEN!
Sie reagierte nicht. Dave zog eine Grimasse. Das Ganze erinnerte ihn an die Spickzettel in der Schule, und eigentlich war er aus diesem Alter längst heraus. Warum hatte sie noch nicht einmal versucht, mit dem Mann ein Gespräch anzufangen?
REDEN SIE MIT IHM!
Ihre Finger ballten sich zu einer Faust. Dave wich zurück. Im Moment wollte sie wohl keine Ratschläge annehmen. Seine Gefühle wechselten zwischen Frustration und Verärgerung. Sie musste sich schon etwas Gutes ausdenken, denn schließlich hing sein Leben von ihr ab. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sich wieder in sein Versteck zurückzuziehen und abzuwarten.
* * *
Kate bog ihre Finger nach innen. Alle ihre Gefühle legte sie in diese eine Bewegung hinein. Sie würde ihr nächstes Monatsgehalt opfern, wenn sie nur zehn Minuten lang nach draußen gehen und mit ihren Fäusten auf den nächstbesten Gegenstand einschlagen könnte. In der Bank befand sich nicht ein normaler Polizist, sondern ein Möchtegernheld, der auch noch ein Besserwisser war! Sobald jemand eine FBI-Dienstmarke hatte, meinte er, er könne mit jeder Krise fertigwerden. Dieser Vorschlag, sie solle den Geiselnehmer in seine Richtung bewegen, grenzte an Dummheit, denn damit wollte er eine taktische Lösung erzwingen, bevor sie überhaupt mit einer Verhandlung begonnen hatte. Ihre Arbeit konnte man in einem einzigen Wort zusammenfassen: Geduld. Dieser Polizist hatte keine, und mit seiner Ungeduld würde er sie alle umbringen!
Sie musste jetzt zwei Leute ruhig halten – den Geiselnehmer und den FBI-Mann. Im Augenblick sah es so aus, als ob Letzterer das größere Problem darstellte. Wenn er es sich in den Kopf setzte, vorschnell zu handeln, starben unschuldige Menschen, und sie saß direkt in der Schusslinie. Sie hätte heute Morgen gar nicht erst aufstehen sollen.
Was soll’s! Mach deine Arbeit.
Kate holte tief Luft und konzentrierte sich auf den Mann, der vor ihr auf und ab ging.
* * *
Dave rückte hin und her, um einen Krampf im Bein zu lockern, während er dem Gespräch zwischen der Vermittlerin und dem Geiselnehmer zuhörte. Inzwischen kannte er auch ihren Namen. Kate O’Malley – ein schöner Name für eine Frau, deren Akzent ganz und gar nicht irisch klang. Das Gespräch hatte schleppend begonnen, aber in der letzten Stunde war es zu einem flüssigen Dialog geworden. Die beiden sprachen über alles Mögliche, nur nicht über die Geiselnahme. Dieses oberflächliche Geplauder beherrschte Kate wie eine Kunst. Trotzdem überließ sie nichts dem Zufall. Dave fragte sich, wie lange sie über Nichtigkeiten reden konnte, ohne dabei verrückt zu werden. Er kannte nur wenige Polizisten, die so ein Geplapper ertragen konnten. Die meisten von ihnen waren zu sachlich, zu sehr auf das Wesentliche fixiert und zu sehr daran gewöhnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Der Geiselnehmer ging noch immer auf und ab, aber sein Tempo hatte sich verlangsamt. Ihr ständiger Redefluss schien die beabsichtigte Wirkung zu haben. Dave wusste, was sie da machte, aber er merkte, dass auch er auf diese sanfte Stimme reagierte und seine innere Anspannung allmählich nachließ. Der anfängliche Stress wich einer gewissen Müdigkeit, als sein Körper das überschüssige Adrenalin wieder abbaute. Er konnte sich kaum vorstellen, wie die Vermittlerin mit diesem Energieverlust umging. Die letzten anderthalb Stunden kamen ihm vor wie der längste Tag seines Lebens.
Er fragte sich nicht mehr, ob sie die Richtige für diese Aufgabe war, denn sie hatte ihn überzeugt. Ihre sanfte Stimme mit dem Südstaatenakzent konnte einen Mann faszinieren. Dave gefiel dieser Klang, denn er beschwor angenehme Bilder herauf – von gemeinsamen Abendessen bei Kerzenlicht und vertrauten Gesprächen. Diese Frau übte allein durch die Kraft ihrer Stimme eine gewisse Macht aus. Das war schon beeindruckend. Zum Teil durchschaute Dave ihren Plan: Der Gegner sollte mürbe gemacht werden; das Gefühl der Bedrohung sollte abgemildert und es sollte eine Basis geschaffen werden, die man im entscheidenden Moment nutzen konnte.
Ganz nebenbei erfuhr er einiges über ihre Vorlieben und Abneigungen. Sie war ein Fan des Baseballklubs „Chicago Cubs“. Fernsehkomödien mochte sie überhaupt nicht. Die Schlaglöcher in den Straßen des Stadtviertels fand sie abscheulich. Wenn sie sich im Straßenverkauf etwas zu essen holte, dann mochte sie am liebsten scharfe, chinesische Gerichte. Jetzt wechselte sie das Thema und sprach darüber, in welchem Restaurant es die beste Pizza gab. Dave wusste, was dahintersteckte. Sie wollte den Geiselnehmer dazu bringen, dass er sich etwas zu essen bestellt. Seine Mahlzeit wäre dann bestimmt mit einem Beruhigungsmittel präpariert. Er bewunderte die Art, wie sie geduldig auf dieses Ziel hinarbeitete. Wieder griff er nach seinem Kugelschreiber. Nicht der Geiselnehmer, sondern Dave hatte Appetit bekommen. Er hatte schon die ganze Zeit überlegt, wie er ihr helfen könnte. Diese Art zu verhandeln war sehr ermüdend, und so entschloss er sich, dem Dialog eine dritte, wenn auch stumme Stimme hinzuzufügen.
SIE HABEN DIE CHAMPIGNONS VERGESSEN!
Sie ließ den Gesprächsfaden nicht abreißen, aber sie erwähnte, was genau sich im Hut eines Champignons befand, falls das jemanden interessieren sollte.
Dave lächelte.
Da sie vorhatte dazusitzen und ununterbrochen zu reden, konnte er sich für sie weitere Fragen ausdenken, denn langsam mussten ihr die Gesprächsthemen ausgehen. Kate O’Malley hatte nicht nur seine Neugier geweckt – sie faszinierte ihn immer mehr. Sie saß mitten in einer Krisensituation, musste eine fast unmögliche Aufgabe meistern, und dennoch wirkte sie völlig unbekümmert. Sie redete frei von der Leber weg, und häufig stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Wenn sie sich schon im Dienst so verhielt, wie war sie dann wohl in ihrer Freizeit?
LIEBLINGSFILM!
Seine Nachricht wurde mit dem Anflug eines Lächelns quittiert. Kurz darauf wechselte sie wieder das Thema und kam auf Kinofilme zu sprechen. Dave hätte beinahe laut losgelacht, als sie sagte, ihr Lieblingsfilm sei „Bugs Bunny und sein großes Abenteuer“. Es war gleichgültig, ob sie das wirklich so meinte oder ob sie damit nur einen feinen Sinn für Humor zeigte. Es war die perfekte Antwort.
IST DAS HIER UNSER GROSSES ABENTEUER?
Dave lehnte sich zurück, weil ihm dazu nichts Besseres einfiel. Kate O’Malley war offenbar ein Kinofan. Wie schön, dass sie etwas gemeinsam hatten. Wenn es ihr gelang, sie alle lebend hier herauszubringen, würde er ihr für jeden Film, den sie sehen wollte, die Eintrittskarten und das Popcorn spendieren. Wenigstens das wäre er ihr dann schuldig. Allein der Gedanke daran brachte ihn zum Schmunzeln. Diese Schuld würde er wirklich gern begleichen.
Dee Henderson
Seit 1996 hat sich Dee Henderson mit nur zwei Romanserien in die Spitze der christlichen Schriftsteller in den USA geschrieben. Dem Erfolg entsprechend hat die Tochter eines Pfarrers ihren Beruf als Finanzbeamtin an den Nagel gehängt und lebt als Schriftstellerin bei Chicago.
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.