Der Sandsturm löschte jeden Strahl von Sternenlicht oder Mondschein aus, sodass die Finsternis geradezu biblisch wirkte wie eine der Plagen, mit denen Gott die Ägypter bestraft hatte – eine Finsternis, die man fühlen konnte. Sie hatte gedacht, mit ihren fünfundvierzig Jahren würde sie noch mindestens zwanzig Jahre leben, aber dieser Sturm könnte ihr Ende sein. Schade. Sie hatte gehofft, noch so viel zu erreichen.
Sie dachte an das luxuriöse Hotelzimmer, das sie vor zwei Tagen in Kairo zurückgelassen hatte, und verstand jetzt, warum die Israeliten nach Ägypten hatten zurückkehren wollen, nachdem sie in der Wüste ihre Zelte aufgeschlagen hatten, auch wenn das bedeutete, versklavt zu sein. Mose hatte sie zum Berg Sinai geführt, damit sie dort Gott anbeteten, und sie war auf dem Weg zum Katharinenkloster, das an derselben Stelle errichtet worden war. Die jahrhundertealte Geschichte, die diesen mystischen Ort prägte, faszinierte sie. Man stelle es sich nur vor – Kaiser Justinian hatte die Kirche der Heiligen Katharina im Jahr 557 erbauen lassen! Rebecca hoffte, sie würde die Nacht überleben, um diese Kirche zu sehen.
Ein merkwürdig hämmerndes Geräusch erregte Rebeccas Aufmerksamkeit, ein Stakkatorhythmus, der sich zu dem tosenden Wind und der im Sturm flatternden Zeltplane gesellte. Als sie das Geräusch erkannte, war es beruhigend – die beduinischen Führer der Karawane befestigten die Heringe, die sich im Sturm gelöst hatten. Vielleicht würde sie doch nicht weggeweht werden. Wie die Männer in dieser völligen Dunkelheit überhaupt etwas sehen konnten, war ihr ein Rätsel. Sie hörte, wie sie mit ihren Kamelen sprachen. Die Tiere zischten und knurrten als Erwiderung. Scheußliche Biester!
Dann kam ihr ein neuer Gedanke: Was, wenn der Sand sich um ihr Zelt anhäufte und dabei sie, die Ausrüstung, die Führer und sogar die Kamele unter sich begrub?
Mit einer Handbewegung wischte sie diesen Gedanken beiseite. Es gab weitaus schlimmere Arten zu sterben.
„Becky? Bist du wach?“, flüsterte ihre jüngere Schwester Flora. Sie lag auf einem Feldbett keinen Meter entfernt und doch war sie in der Dunkelheit unsichtbar.
„Ja, ich bin hier.“ Rebecca streckte die Hand nach dem Klang von Floras Stimme aus und fand ihren Arm, den sie beruhigend tätschelte.
„Das ist ein richtiges Abenteuer, nicht wahr?“, fragte Flora.
Rebecca hörte das unterdrückte Lachen in Floras Stimme und grinste. „Ja, ich glaube, die Bezeichnung ist ziemlich zutreffend.“ Sie lachte laut auf und vergrub dann das Gesicht in ihrer Decke, um das Geräusch zu dämpfen. Sie konnte hören, dass Flora es ebenso machte. Es war, als wären sie wieder Schulmädchen, die im dunklen Schlafsaal tuschelten, und nicht zwei Schwestern mittleren Alters.
„Wenn unsere Quäkerfreunde uns jetzt sehen könnten …“, prustete Flora.
„Sie würden uns in die Irrenanstalt stecken!“
„Ich finde, Thomas Cook sollte Sinai-Reisen mit Beduinenkarawane in sein vornehmes Programm aufnehmen“, schlug Flora vor. „Meinst du nicht auch?“
Bei dem Gedanken musste Rebecca wieder laut lachen, doch auch diesmal dämpfte sie das Geräusch ganz schnell.
„Schhh … sonst wecken wir Kate auf“, flüsterte Flora.
„Ich bin schon wach, Miss Flora.“ Kate klang verärgert.
„Oh, tut mir leid, meine Liebe. Aber wenn ich daran denke, wo wir sind und wie absurd dieser Sturm ist …“
„Genau. Sollten wir nicht lieber Besuche machen oder Spenden für eine deiner Wohltätigkeitsorganisationen sammeln?“, fragte Rebecca mit ihrer vornehmsten Stimme. Wieder brachen Flora und sie in Gelächter aus. „Wir reißen uns besser zusammen“, sagte Rebecca schließlich, „sonst streckt Petersen noch seinen Kopf durch den Zelteingang und blickt uns streng an, weil er denkt, wir wären hysterisch geworden.“
„Der Junge ist seit zwei Jahren unser Butler, Becky. Er weiß genau, wie hysterisch wir sind. Weißt du noch, als er das erste Mal gesehen hat, wie wir in unserer Unterwäsche im Garten Freiübungen gemacht haben?“
Ihre Worte brachten sie wieder zum Lachen und Rebecca fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie fühlte eine feine Schicht Sandkörner und schmeckte sie auch auf den Lippen. Der Wind presste den feinen Sand durch jede Ritze, Naht und Öffnung. Hoffentlich nahm ihre fotografische Ausrüstung keinen Schaden. „Verzeih, Kate, Liebes. Wir beruhigen uns jetzt wieder, versprochen. Schlaf ruhig weiter.“
„Wie soll ich denn schlafen, wenn ich gleich fortgeweht werde?“, murrte Kate. In der Dunkelheit konnte Rebecca ihre sogenannte Zofe nicht sehen, aber sie konnte sich das griesgrämige Stirnrunzeln auf Kates Gesicht vorstellen, ebenso wie ihre steife Haltung und die verschränkten Arme. Es war Floras Idee gewesen, aus dem diebischen achtzehnjährigen Gassenkind ihre Zofe zu machen. Allmählich glaubte Rebecca, dass es leichter wäre, Stroh zu Gold zu spinnen.
„Meinst du, wir könnten bis zum Morgen lebendig begraben sein?“, fragte Flora. „Denk doch mal an Nimrods Palast, der ganz und gar von Sand bedeckt war, sodass die Araber nicht einmal wussten, dass er dort war, bis Henry Layard ihn ausgegraben hat.“
Rebecca lächelte. „Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen. Vielleicht wird in tausend Jahren ein Archäologe kommen und uns finden und sich fragen, was in aller Welt diese verrückten Schwestern vorhatten.“
„Ach … erinnere mich noch mal daran, warum wir das hier machen“, sagte Flora.
Rebecca hörte das Lächeln in der Stimme ihrer Schwester und war froh darüber, dass sie zusammen waren. Seit ihrer Kindheit liebten sie exotische Reisen: durch die labyrinthartigen Straßen von Paris streifen, die Basare und dunklen Gassen von Kairo und Jerusalem erkunden oder in einer Dahabeya auf dem Nil fahren, um die Pyramiden zu sehen.
„Ich glaube, wir sind hergekommen, um ein Abenteuer zu erleben, weißt du noch?“, erwiderte Rebecca. Aber das war nicht der einzige Grund. In der Mitte ihres Lebens hatte Rebecca sich verliebt. Professor Timothy Dyk war intelligent, gelehrt, warmherzig, gesellig – und liebte sie auch. Sie passten so gut zueinander, dass es Rebecca vorkam, als wäre sie aus seiner Rippe geformt worden. Aber sie konnte Timothys Heiratsantrag nicht annehmen – jedenfalls noch nicht. Vielleicht würde sie es niemals können. Diese Reise zum Katharinenkloster war ihr letzter Ausweg, und wenn er scheiterte, hatte sie keine andere Wahl, als eine alte Jungfer zu bleiben. Rebecca würde Sandstürme und Wüstengefahren und noch viel, viel mehr ertragen, wenn sie damit die Mauer zwischen ihnen endlich zum Einsturz bringen konnte.
Und dann war da noch ihre junge Bedienstete, Kate Rafferty. Wer wusste schon, welche Wirkung diese Reise auf ihr steinernes Herz haben würde? Oder auf ihren mürrischen, neunzehnjährigen Butler Petersen, den Flora aus einem Waisenhaus gerettet hatte? Jemand musste doch versuchen, zu diesen jungen Menschen durchzudringen, bevor sie für immer verloren gingen. Warum nicht Rebecca und Flora?
Draußen begann eines der Kamele laut zu wiehern. „Ach, diese armen Tiere“, sagte Flora. „Sie haben gar keinen Schutz vor dem Sturm.“
„Sie wollen sie doch wohl nicht in unser Zelt einladen, oder?“, fragte Kate. „Ich weiß doch, was für ein weiches Herz Sie haben, Miss Flora.“
„Nicht, bevor sie gebadet haben“, erwiderte Flora lachend. „Sie stinken zum Himmel!“
„Außerdem sind sie an Wüstenbedingungen gewöhnt“, gab Rebecca zu bedenken. „Gott hat sie so geschaffen, dass sie Sandstürme aushalten können.“ Sie glaubte nicht einen Augenblick lang, dass sie sich durch den Prozess der natürlichen Auslese entwickelt hatten, wie dieser Heide Charles Darwin behauptete. Seine unerhörten Theorien standen dieser Tage in allen Zeitungen und viele der Wissenschaftler, die sie kannte, schienen sie zu übernehmen. Das konnte und wollte Rebecca nicht.
„Wir sollten jetzt wirklich versuchen zu schlafen“, sagte sie. „Der Tag morgen wird mit Sicherheit lang.“ Gestern waren sie sieben Stunden durch die steinige Wüste gereist, heute dann waren sie schon vor Sonnenaufgang aufgestanden und acht Stunden gereist, bevor der Sandsturm sie gezwungen hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Der Sturm war zugleich schön und beängstigend gewesen, als er auf sie zugerollt war, den Himmel verdunkelt und den Horizont erfüllt hatte wie eine unheimliche gelbe Gewitterwolke. Die Etappe morgen würde mindestens so lang werden wie die letzte, immer vorausgesetzt, der Sturm ließ tatsächlich nach, wie der Beduinenscheich ihr versichert hatte. Das Tempo war anstrengend, aber Rebecca hatte die Karawane mit ihren Kamelen nur für vierzig Tage gemietet und darin war die Reisezeit zum Berg Sinai und zurück enthalten. Sie wollte so viele Tage wie möglich mit Recherchen im Kloster verbringen.
„Wie lange noch, bis wir da sind?“, wollte Kate wissen.
„Es müsste noch eine Woche dauern, bis wir das Katharinenkloster erreichen.“
„Und wird es jede Nacht solche Sandstürme geben? Wenn, dann können wir genauso gut gleich umkehren und nach Hause gehen. Außerdem traue ich diesen Kameltreibern nicht über den Weg. Die Männer starren mich immer an.“
„Ein Sandsturm allein genügt nicht, damit Flora und ich aufgeben und umdrehen“, erklärte Rebecca. „Und ich glaube auch nicht, dass der Scheich dir etwas antun will. Wahrscheinlich starrt er dich nur an, weil er dich hübsch findet. Deine roten Haare sind eben sehr ungewöhnlich.“
Kates ärgerlicher Seufzer war laut. Ihr Feldbett knarrte und raschelte, als sie sich im Dunkeln umdrehte.
„Als wir heute unterwegs waren, musste ich an das Volk Israel denken“, sagte Flora. „Es muss wirklich schwer gewesen sein, Gott zu vertrauen und weiter durch so ödes Land zu laufen. Wir wissen, wie ihre Geschichte endet und dass sie schließlich ins Gelobte Land kamen, aber sie hatten ja keine Ahnung, was geschehen würde. Sie mussten einfach Gott vertrauen und weitergehen.“
Rebecca wusste auch nicht, wie ihre Reise durch die Sinaihalbinsel enden würde – ob ihre Mission ein Erfolg sein und bei Timothy einen Durchbruch bewirken würde oder das Ende ihrer Beziehung bedeutete. Sie wünschte den beiden anderen noch einmal eine gute Nacht und versuchte, es sich auf ihrem Lager bequem zu machen. Dabei erinnerte sie sich daran, wie weit sie bereits gekommen waren – die Zugfahrt von Chicago nach New York; die Reise mit dem Dampfschiff nach Frankreich; dann wieder auf einem Dampfer durchs Mittelmeer bis nach Kairo, wo sie mehrere Tage warten mussten, während sie die Erlaubnis des Erzbischofs vom Sinai einholten, das Kloster zu besuchen. Dass sie in der Lage war, sich auf Griechisch mit dem Geistlichen zu unterhalten, hatte ihn sehr beeindruckt, und er hatte ihr nicht nur die Erlaubnis gegeben, sondern sich sogar die Zeit genommen, Gott um Bewahrung vor den heißen Wüstenwinden zu bitten, die von der Sahara herüberwehten. Er war sehr freundlich gewesen – aber seine Gebete hatten Gottes Meinung zu dem Wind offensichtlich nicht beeinflusst.
In Kairo hatten sie auch die Dienste des Agenten Mr Farouk in Anspruch genommen, der sie auf ihrer Reise begleiten sollte. Er hatte ihnen die ganze Ausrüstung gekauft, einen Koch eingestellt und eine Kamelkarawane organisiert. Außerdem hatte er genügend Essen und Trinkwasser für ihre vierzigtägige Expedition beschafft. Dann hatten Rebecca und Flora und ihr Gefolge den Golf von Suez überquert und die Beduinen und ihre Tiere kennengelernt. Die struppigen, sonnengebräunten Männer sahen aus, als wären sie geradewegs den Seiten von Tausendundeine Nacht entstiegen, von oben bis unten in weiße Gewänder gekleidet, um den Kopf Turbane gewickelt und mit Schwertern an der Hüfte. Nachdem sie ein Dutzend Kisten mit lebenden Hühnern und Puten auf die Kamele geschnallt hatten, hatten sie sich auf den Weg gemacht.
Rebecca wusste, wie unerhört es war, dass zwei Frauen allein durch eine so unwirtliche Gegend reisten, nur begleitet von ihrer Zofe und ihrem jungen Butler – dem ernsten, aber zuverlässigen Petersen. Wer wusste schon, was für eine Person Mr Farouk war? Ganz zu schweigen von den zwölf Kameltreibern, Beduinen und ihrem Scheich, der darauf bestanden hatte, sie zu begleiten, und ein antikes, rostiges Gewehr bei sich trug, das er von Zeit zu Zeit gefährlich durch die Luft schwenkte. Doch Rebecca hatte gelernt, nichts darauf zu geben, was andere dachten. Was ihre Sicherheit betraf, so kannte Gott bereits das Ende ihrer Tage. Sie hatte keinen Grund, sich zu ängstigen.
Aber Petersen tat ihr leid. Er war auf den Straßen von Chicago aufgewachsen und hatte noch nie auf einem Pferd gesessen, geschweige denn auf einem Kamel. In den letzten beiden Tagen hatte er besonders viel Mühe gehabt, eine bequeme Sitzposition zu finden, und sie hatte gesehen, dass er sich das Gesäß rieb, wann immer er abstieg. Keine der beiden Schwestern hatte Peterson diese Unannehmlichkeiten zumuten wollen, aber er hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, wobei er mit seiner Erklärung „Wo Sie hingehen, werde ich auch hingehen!“ sehr biblisch geklungen hatte. Da sie wusste, wie sehr Petersen Kate misstraute, hatte Rebecca den Verdacht, dass er vor allem mitgekommen war, um sie vor dem Mädchen zu beschützen und weniger vor den heidnischen Fremden.
Der Wind heulte weiter; die Zeltplane flatterte. Rebecca zog die Decke fester um sich, mehr zum Trost als wegen der Wärme. Wie wäre es wohl, wenn der Mann, den sie liebte, neben ihr schliefe, an sie geschmiegt wie zwei Löffel in einer Schublade, während sie dem vertrauten Rhythmus seines Atems lauschte und seinen Herzschlag spürte? Vielleicht würde sie es nie wissen. Aber unabhängig davon, ob Timothy Teil ihrer Zukunft war oder nicht, hoffte Rebecca, dass die Entdeckungen, die sie am Berg Sinai machte, am Ende diese lange, gefährliche Reise wert waren.
Sie wälzte sich auf der schmalen Liege hin und her und fand einfach keine bequeme Position. Es nutzte nichts – sie konnte nicht einschlafen; der laute Wind und der trommelnde Sand machten sie einfach nervös. Trotz all ihrer sorgfältig durchgeführten Planung war Rebecca in diesem Augenblick hilflos. Aber war sie nicht auf einigen anderen Reisen auch schon Gefahren begegnet? Sie waren vielleicht nicht so bedrohlich gewesen wie ein Sandsturm, aber trotzdem beängstigend. Sie beschloss, in ihrer Erinnerung zum Anfang zurückzugehen, als es nur Vater, Flora und sie gegeben hatte – und natürlich die alten Bediensteten, die für sie gesorgt hatten. Wenn Rebecca wirklich sterben musste, würde sie in ihren letzten Augenblicken wenigstens an Menschen denken, die sie liebte.
Solange Rebecca denken konnte, war Flora an ihrer Seite gewesen – Schwester, beste Freundin, Vertraute und Partnerin bei allen Abenteuern, den kleinen wie den großen …