Nachdem ihm überraschend gekündigt wurde, flieht der Anwalt Eric Nash in seinen Heimatort Hope Harbor. Nur um dort feststellen zu müssen, dass sein Elternhaus die reinste Baustelle ist. Zu seinem Entsetzen hat sein Vater beschlossen, sich endlich seinen Traum von einem Bed & Breakfast zu erfüllen, und kurzerhand die unlängst zugezogene Architektin BJ Stevens mit dem Umbau beauftragt. Statt der Ruhe, die er sucht, um seinen nächsten Karriereschritt zu planen, sieht Eric sich also mit Lärm und Dreck konfrontiert – und einer kratzbürstigen Bauleiterin, der er keinen Millimeter über den Weg traut. Wie kann jemand eine Karriere in der Großstadt an den Nagel hängen und freiwillig in ein Kaff wie Hope Harbor ziehen? Bestimmt hat diese BJ irgendetwas zu verbergen ...
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Kapitel 1
Dem Pickup konnte er nicht mehr ausweichen.
Als das Fahrzeug mit quietschenden Reifen vor ihm zum Stehen kam, warf Eric Nash schnell sein Handy auf den Beifahrersitz, umklammerte mit beiden Händen das Steuer des BMWs und ging auf die Bremse. Bis zum Anschlag.
Zu spät.
Das Krachen des Aufpralls ging ihm durch Mark und Bein, ebenso wie das durchdringende Geräusch von eingedrücktem Metall und das explosionsartige Zersplittern von Glas.
So hatte er sich seine Ankunft in Hope Harbor ganz gewiss nicht vorgestellt.
Noch bevor er den Unfall realisiert hatte, flog schon die Fahrertür des Pickups auf. Zwei Beine, die in eng geschnittenen Jeans steckten, glitten aus der Fahrerkabine und eine schlanke Frau näherte sich mit geschmeidigen Schritten seinem zerbeulten BMW. Der ständige Wind, der so typisch für die Küste von Oregon war, wehte ihr die blonde Mähne um den Kopf.
Ein reizvoller Anblick, wenn nicht ihr stürmischer Gesichtsausdruck und ihre angespannte Haltung gewesen wären.
Anstatt sich von ihrem Äußeren einlullen zu lassen, sollte er sich lieber bei ihr entschuldigen.
Sie blieb kurz stehen und begutachtete mit schnellem Blick die Rückseite ihres Pickups. Dann marschierte sie zu seiner Autotür und schaute ihn durch die Windschutzscheibe finster an, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
Oh, Mann!
Das würde kein Zuckerschlecken werden.
Er atmete tief ein, bevor er seine Tür aufmachte und ausstieg.
„Das tut mir leid.“ Er deutete mit dem Kopf zu ihrem Pickup.
Sie verschränkte die Arme, beugte sich zur Seite und warf einen gezielten Blick auf das Handy, das auf seinem Beifahrersitz lag.
„Für den Fall, dass Sie es nicht wissen sollten: In Oregon ist es verboten, am Steuer zu telefonieren.“
Natürlich wusste er das. Das hätte er auch gewusst, wenn er nicht Anwalt gewesen wäre. Die Verabschiedung dieses Gesetzes war schließlich durch die Presse gegangen.
Aber er war schon fast am Ziel gewesen und Hope Harbor war nicht Portland. Hier war ja kaum Verkehr, außer um die Mittagszeit. Falls Charley seinen Stand geöffnet hatte und falls es einen Ansturm auf seine Fischtacos gab.
Aber es war noch nicht Mittag und er war auch nicht in der Nähe des Tacostands im Hafen.
„Mir sind die gesetzlichen Vorschriften durchaus bekannt. Aber ein kurzer Anruf in einer ruhigen Seitenstraße sollte eigentlich ungefährlich sein.“
„Das war er aber nicht.“
„Hören Sie, ich habe gesagt, dass es mir leidtut. Meine Versicherung kommt für den Schaden auf.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Geld löst nicht jedes Problem.“
Oh, Mann! Diese Frau machte es ihm wirklich nicht leicht.
„Aber es behebt den Schaden an Ihrem Pickup.“ Er betrachtete das schmutzverschmierte Fahrzeug. „Obwohl sich gar nicht so leicht sagen lässt, welchen Schaden ich verursacht habe und welche Beule unter dieser Matschschicht vielleicht schon vorher da war.“ Wenn sie gemein sein konnte, konnte er das auch.
Mit finsterer Miene warf sie die Schultern zurück. Winzige Teilchen von etwas lösten sich dabei aus ihrem Haar. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich die Hand an die Stirn, um gegen die Vormittagssonne, die an diesem Julitag hoch am Himmel stand, besser sehen zu können. War das Sägemehl?
„Hier regnet es sehr viel, okay? Ich kann mit meiner Zeit wirklich etwas Besseres anfangen, als ein Auto zu waschen, das am nächsten Tag sowieso wieder schmutzig ist. Und auch wenn es Sie wirklich nichts angeht, aber ich gebe mein Geld für Wichtigeres aus als für eine Blechkiste.“
„Das sieht man.“ Erneut bedachte er den Pickup mit einem zweifelnden Blick.
„Pah.“
Nach diesem knappen Kommentar stapfte sie ein paar Schritte zu ihrem Auto zurück.
Er folgte ihr. „Warum haben Sie überhaupt so plötzlich gebremst?“
„Mir ist ein Hund vors Auto gelaufen.“
„Ich habe keinen Hund gesehen.“
„Sie haben mich auch nicht bremsen gesehen. Wenn Sie ein paar Autolängen Abstand gehalten und sich mehr auf die Straße konzent-
riert hätten, hätten Sie rechtzeitig stehen bleiben können.“ Sie
bückte sich und kontrollierte ihren Pickup noch einmal. „Zum Glück ist dieses Baby robust. Ich kann keinen ernstzunehmenden Schaden entdecken.“ Ihr Blick wanderte zu seinem BMW. „Aber Ihr Wagen muss definitiv in die Werkstatt.“
Zum ersten Mal schenkte er dem BMW seine Aufmerksamkeit. Die vordere Stoßstange war auf der linken Seite verbogen und die Glassplitter seines kaputten Scheinwerfers glitzerten auf dem Asphalt.
Na toll!
Genügte es nicht, dass seine Karriere im Eimer war und seine Zukunft in der Schwebe hing? Musste jetzt auch noch sein Wagen kaputt sein?
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Eine glückliche Heimkehr sah anders aus!
„In Bandon gibt es einen Händler, der auch Reparaturen macht.“
Wenigstens war der Tonfall der Frau jetzt eine Spur weniger feindselig.
„Ja, ich weiß. Marvs Werkstatt.“
„Soll ich die Polizei rufen und ein Unfallprotokoll erstellen lassen? Die Polizistin ist bestimmt schnell da. Ich bin erst vor ein paar Minuten an ihr vorbeigefahren.“
Sich von Lexie die Leviten lesen zu lassen, würde ihm heute gerade noch fehlen! Womöglich würde sie ihm sogar eine Geldstrafe aufbrummen, weil er beim Fahren telefoniert hatte.
Auf keinen Fall!
„Mir würde genügen, wenn wir unsere Kontaktdaten austauschen.“
„Ihre Daten brauche ich nicht. Ich melde meiner Versicherung den Schaden sowieso nicht. Aber ich gebe Ihnen meine Nummer.“ Während sie in ihren Taschen kramte, sinnierte er über ihren leichten Südstaatenakzent. „Ich dachte, ich hätte irgendwo Visitenkarten. Aber das hier geht auch.“ Sie zog einen verknitterten Kassenbon aus der Tasche und kritzelte etwas mit einem Bleistiftstummel darauf.
Eric warf einen Blick auf den Zettel, den sie ihm reichte. Kein Name. Nur eine Telefonnummer mit einer Vorwahl aus diesem Bezirk. „Wie ich sehe, wohnen Sie hier in der Nähe?“
„Ja.“ Sie trat einen Schritt zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wollen Sie testen, ob Ihr Auto noch fahrtüchtig ist, bevor ich weiterfahre?“
Er betrachtete noch einmal den BMW. Die Stoßstange hing nicht gefährlich herunter und in den Reifen war noch Luft. „Ich denke, der Schaden ist hauptsächlich kosmetischer Art. Ich habe es sowieso nicht mehr weit. Das geht schon.“
„Wie Sie meinen.“ Sie marschierte zu ihrer Fahrerkabine zurück, blieb aber an der Tür noch einmal stehen und warf ihm einen letzten finsteren Blick zu. „Und tun Sie sich und anderen den Gefallen und lassen die Finger vom Handy, wenn Sie am Steuer sitzen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, kletterte sie hinter das Steuer, ließ den Motor an und gab Gas.
Eric blieb in einer Wolke giftiger Abgase stehen. Er wandte sich ab, steckte sich den Zettel mit ihrer Nummer in die Hosentasche und seufzte. Er hatte versucht, sich während seiner fünfstündigen Fahrt von Portland hierher darauf einzustellen, seinem Vater die schlechte Nachricht schonend beizubringen. Er war auf dieses Gespräch halbwegs vorbereitet gewesen, als er an dem Schild „Willkommen in Hope Harbor“ vorbeigefahren war. Kurz vor dem Auffahrunfall hatte er noch versucht, seinen Vater anzurufen, um ihm sein Kommen anzukündigen. Er hatte es für sinnvoll gehalten, ihm ein paar Minuten Zeit zu geben, damit er sich auf den unerwarteten Besuch einstellen konnte.
Aber da sein Vater nicht ans Telefon gegangen war und der Unfall seine ganze Vorbereitung zunichtegemacht hatte, beschloss er, erst einmal einen Spaziergang am Strand zu machen und den beruhigenden Anblick der Brandungspfeiler auf sich wirken zu lassen, bevor er nach Hause fuhr. Die salzige Meeresluft und der Wind hatten eine reinigende Wirkung. Schon immer war es so gewesen, dass die frische Luft ihm geholfen hatte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und ruhiger zu werden, wenn er das dringend gebraucht hatte. Auch jetzt war das so.
Während er zur Fahrertür ging, versuchte er, die Dinge positiv zu sehen. Seine Zukunft war zwar unsicher, aber der Wagen ließ sich reparieren und es war niemand verletzt worden.
Und es gab noch etwas Positives:
Noch schlimmer konnte dieser Tag nicht mehr werden.
BJ Stevens setzte den Blinker, bog nach links in die Eleanor-Coopers-Straße und bemühte sich, das Knurren ihres Magens zu ignorieren. Eine Tür, die klemmte, zu reparieren war nicht ihr Plan für die Mittagspause gewesen, aber was sollte sie machen, wenn eine 88-jährige Frau sie anrief und sagte, dass sie in ihrem Badezimmer eingesperrt war.
Als sie in die Einfahrt zu Eleanors Haus bog, betrachtete BJ das in die Jahre gekommene Gebäude. Die Farbe blätterte von den Fensterläden. Die Steinstufen, die in einem Bogen zur Haustür führten, waren locker. Die Holzstufen, die zu der kleinen Veranda vor dem Haus führten, waren teilweise morsch.
Dieses Haus bräuchte dringend einen Handwerker.
An vielen Stellen.
Das Gleiche galt auch für die Häuser vieler anderer älterer Bewohner von Hope Harbor. Die alten Menschen waren einfach überfordert damit, ihre Häuser zu renovieren. Trotzdem wollten sie nicht ihr Zuhause verlassen, wo sie schon ihr Leben lang wohnten.
Das war verständlich, wie sie ganz genau wusste.
Ein tiefer Schmerz regte sich in ihrem Herzen, gefolgt von altbekannten Schuldgefühlen.
Während sich ihre linke Hand um das Lenkrad verkrampfte, schob sie mit der rechten den Schalthebel auf Parken. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit der Vergangenheit aufzuhalten. Oder mit Gefühlen von Reue. Sie musste Eleanor aus dem Badezimmer befreien und diese widerspenstige Tür reparieren.
Sie nahm ihren Werkzeugkasten und marschierte über die unebenen Pflastersteine zur Veranda, wo sie den geflochtenen Weidentopf mit den blühenden Geranien abtastete, bis ihre Finger den Schlüssel fanden, der, wie Eleanor versprochen hatte, hier versteckt war. Zehn Sekunden später öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. Sie schaute sich vorsichtig im Schatten um, um sicherzustellen, dass Methusalem nicht auf der anderen Seite lauerte und nur auf eine Fluchtgelegenheit wartete.
Von dem griesgrämigen Kater war keine Spur zu sehen.
Sie schlüpfte ins Haus und ging in Richtung Badezimmer. „Ich bin hier, Eleanor!“ Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. „In einer Minute sind Sie wieder frei.“
„Oh, Gott segne Sie, liebes Kind!“ Eine große Erleichterung schwang in den gedämpften Worten der alten Frau mit. „Es tut mir so leid, dass ich Sie mitten an Ihrem Arbeitstag belästige.“
„Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Ich hatte gerade Mittagspause.“ BJ stellte ihren Werkzeugkasten neben dem goldschwarz gestreiften Kater ab, der vor der Badezimmertür Posten bezogen hatte. „Hallo, Methusalem.“ Sie streichelte sein weiches Fell und erntete dafür ein befriedigtes Miauen. „Wie lang macht Ihnen diese Tür schon Probleme, Eleanor?“
„Seit sechs oder acht Wochen, schätze ich. Es ist immer schlimmer geworden, aber ich hätte nie gedacht, dass es irgendwann so dramatisch werden würde, dass ich nicht mehr hinauskomme. Wenn die Tür klemmte, hat es bis jetzt immer gereicht, kräftig dagegenzudrücken.“
BJ versuchte, die Tür zu öffnen.
Sie bewegte sich keinen Millimeter.
„Ich werde jetzt kräftig dagegendrücken. Können Sie von der Tür zurücktreten?“
„Ja. Ich stelle mich in die Ecke. Ich bin so weit.“
BJ legte die Schulter an die Holztür und drückte kräftig. Die Tür knirschte, löste sich aber nicht aus dem Türrahmen. Sie versuchte es noch einmal und setzte mehr Muskelkraft ein. Dieses Mal gab die Tür nach.
Methusalem schob sich sofort um ihre Beine herum und huschte ins Badezimmer.
Sobald die Tür schwungvoll aufflog, richtete BJ ihre Aufmerksamkeit auf Eleanor. Das Markenzeichen der alten Frau, ihr sauberer Haarknoten, hatte sich gelockert. Weiche, weiße Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet und BJ entdeckte auf ihrem Handrücken einen Bluterguss, als Eleanor die Hand hob, um ihre Haare zurückzuschieben.
„Wie lang waren Sie schon eingesperrt?“ BJ trat zurück, damit Eleanor den beengten Raum verlassen konnte. Mit einem lauten Miauen folgte ihr Methusalem dicht auf den Fersen.
„Seit ungefähr einer Stunde. Ich habe an der Tür gerüttelt, mich ein wenig ausgeruht und dann wieder gerüttelt. Gott sei Dank, hatte ich mein Telefon dabei. Ich dachte daran, die Polizei anzurufen, aber das hielt ich dann doch für ein wenig übertrieben.“ Auf dem Flur blieb sie stehen, um ihre Brille zurechtzurücken und ihr Haar in Ordnung zu bringen. Dabei umklammerte sie mit der freien Hand ihre Gehhilfe. „Ich sehe bestimmt schrecklich aus.“
„Nein, aber Sie haben einen hässlichen Bluterguss an der Hand.“ BJ berührte vorsichtig die alte Haut.
Eleanor krümmte die Finger und betrachtete den dunkelblauen Fleck. „Bei einem meiner Versuche bin ich vom Türgriff abgerutscht und habe mir die Hand am Badezimmerschrank angestoßen. Aber es ist nichts weiter passiert. Diese alte Haut bekommt schon blaue Flecken, wenn man sie nur anhaucht. Das wird wieder. Können Sie mir sagen, warum diese Tür klemmt? Gibt es abgesehen von der Feuchtigkeit noch eine andere Ursache?“
Mit schnellem Blick untersuchte BJ den Türrahmen. „Die Feuchtigkeit ist natürlich nicht gut, aber es sind auch einige Schrauben an den Angeln locker. Dadurch kann sich eine Tür verziehen.“ Sie holte einen Schraubenzieher aus ihrem Werkzeugkasten und versuchte, zwei Schrauben festzuziehen, aber sie hielten nicht.
Es wäre auch zu einfach gewesen, wenn alles auf Anhieb funktionieren würde!
Sie kramte in ihrem Werkzeugkasten, holte eine längere Schraube heraus und ersetzte damit die Schraube in der Mitte des Türrahmens und drehte sie in die Tür.
„Dann schauen wir einmal, ob das hilft.“ Sie richtete sich auf und bewegte die Tür.
Sie ging auf, aber unter lautem Protest.
„Das ist schon viel besser.“ Eleanor tätschelte ermutigend ihren Arm.
„Aber noch nicht gut genug. Ich will nicht, dass Sie wieder eingesperrt sind.“ Sie kramte erneut in ihrem Werkzeugkasten und holte einige Zahnstocher und einen Holzkleber heraus.
„Was haben Sie jetzt vor?“ Eleanor beugte sich vor, um ihr zuzuschauen, während Methusalem die Schnauze in den Werkzeugkasten steckte.
„Ich klebe die Zahnstocher mit Holzleim in die Schraubenlöcher. Wenn der Leim getrocknet ist, kann ich die Schrauben wieder eindrehen. Damit dürfte das Problem behoben sein. Wenn nicht, werde ich versuchen, ein oder zwei Bohrlöcher zu unterfüttern.“
„Meine Güte. Sie kennen sich aber aus.“
BJ grinste. „Sie sind leicht zu beeindrucken.“
„Ganz und gar nicht. Ich habe nur einen Blick dafür, wenn jemand Talent hat. Es war ein großer Gewinn für Hope Harbor, dass Sie letztes Jahr aus Los Angeles hierhergezogen sind.“
„Für mich war es auch eine positive Veränderung.“ BJ arbeitete schnell und effektiv weiter. Wenn sie rechtzeitig fertig wurde, könnte sie es vielleicht noch schaffen, bei Charleys Stand vorbeizufahren und sich auf dem Rückweg zur Baustelle eine Portion Tacos zu kaufen.
„Aber eines kann ich einfach nicht verstehen.“ Eleanors Tonfall wurde nachdenklich.
„Was denn?“ Wenn die alte Frau eine Erklärung wollte, wie man Holz bearbeitete, konnte BJ ihr diesen Gefallen tun.
„Sie sind so talentiert und so hübsch. Und Sie haben ein so freundliches und einfühlsames Herz. Ich kann einfach nicht verstehen, warum nicht schon längst ein kluger, attraktiver Mann versucht hat, Ihr Herz zu erobern.“
BJs Finger verkrampften sich um die Leimflasche. Ein Spritzer der weißen Masse schoss heraus, landete auf dem Zahnstocher und auf ihren Fingern und tropfte auf den Fließenboden. Und auf
Methusalem.
Mit einem empörten Jaulen sprang der Kater zurück.
„Oh, meine Güte!“ Eleanors Hand fuhr an ihre Brust. „Ich muss Sie abgelenkt haben. Ich hole ein paar Papiertücher.“
Während sie so schnell, wie es ihre von Arthritis geplagten Beine erlaubten, mit Methusalem im Gefolge davonhumpelte, starrte BJ die eklige Pampe auf ihren Fingern an.
Eklige Pampe.
Ja, das fasste ihre Beziehung, die sie in Los Angeles gehabt hatte, in etwa zusammen.
Aber sie hatte jetzt ein neues Leben angefangen. Ein Leben, das ruhig, erfüllend und frei war von irgendwelchen Beziehungen. Wenn sie nicht wegen des Unfalls noch angespannt gewesen wäre, hätte sie auf Eleanors Bemerkung sicher nicht so übertrieben reagiert.
BJ drückte den Deckel mit mehr Kraft als nötig wieder auf den Holzleim. Sie hätte die Polizei holen sollen. Die hätte diesem BMW-Fahrer die Leviten gelesen. Vielleicht hätte er dann kapiert, dass er nicht mit dem Handy am Ohr Auto fahren durfte und sich mehr auf die Straße konzentrieren sollte.
Andererseits musste sie fairerweise zugeben, dass er zerknirscht ausgesehen hatte.
Und attraktiv.
Oh, nein!
Sie riss ein Stück Toilettenpapier ab, als noch mehr Leim auf den Boden tropfte. Man sollte doch meinen, sie sei inzwischen immun gegen den Charme von großen, dunkelhaarigen, attraktiven Männern, nach allem, was gewesen war.
Nein! Sie würde an seinen Namen nicht einmal denken.
Er war es nicht wert.
So gut sie konnte, wischte sie sich die Finger mit dem dünnen Papier ab und atmete tief durch. Dieser Auffahrunfall hatte ihr wirklich den Seelenfrieden geraubt.
Aber dazu besteht doch überhaupt kein Grund, BJ. Dein Wagen ist unbeschadet geblieben. Die ganzen Scherereien hat dieser BMW-Fahrer. Er muss in die Werkstatt und nicht du. Das ist nicht der Grund, warum du so angespannt bist.
„Schluss damit!“ Sie zupfte die klebrigen Papierstückchen von ihren Fingern und versuchte, die lästige, leise Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen.
„Haben Sie etwas gesagt, meine Liebe?“, kam Eleanors Frage aus der Küche.
„Ich habe nur … ähm … mit mir selbst gesprochen.“
„Für so etwas sind Sie noch viel zu jung. Ich bin gleich wieder bei Ihnen. Ich versuche nur gerade, Methusalem sauber zu machen, aber er sträubt sich dagegen.“
BJ schob sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr, lehnte sich an den Türrahmen und stellte sich der Wahrheit: So gern sie auch die Schuld für ihre aufgewühlte Verfassung auf den Unfall schieben wollte, hatte die leise Stimme in ihrem Kopf recht: Der BMW-Fahrer und ihre ungewollte Reaktion auf ihn waren dafür verantwortlich. Ob sie es wahrhaben wollte oder nicht, aber in dem Moment, als sie in diese braunen Augen geschaut hatte, war ein Stromstoß durch ihren Körper gegangen.
Das war genau die Art von Anziehungskraft, die eine Frau in die Bredouille bringen konnte, wenn sie ihrem Herzen folgte, statt vorsichtig zu sein und auf ihren Verstand zu hören.
Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen.
Trotzdem war es nicht fair gewesen, so aggressiv auf diesen Mann loszugehen, nur weil sie sich über sich selbst geärgert hatte. Schließlich hatte er sich bei ihr entschuldigt. Und er hatte angeboten, für den Schaden aufzukommen. Aus seinen Augen hatte aufrichtige Reue gesprochen. Und noch ein anderes Gefühl, stellte sie fest, als sie jetzt genauer darüber nachdachte. Melancholie vielleicht? Niedergeschlagenheit? Verzweiflung? Schwer zu sagen. Aber aus seinen Augen hatte eine Traurigkeit gesprochen, die nichts mit dem Unfall zu tun gehabt hatte. Als wäre sein Tag schon lange vor ihrer unerfreulichen Begegnung schlecht gelaufen. Und als hätte er nicht noch mehr Probleme gebraucht.
Sie atmete hörbar aus.
Na toll!
Jetzt wäre ihr Mittagessen, falls sie überhaupt noch Zeit dafür hatte, von einer kräftigen Portion Schuldgefühlen begleitet.
„Hier sind die Papierhandtücher. Wenn sie nicht reichen, kann ich Ihnen gerne noch mehr bringen.“ Eleanor schob ihren Rollator durch den Flur und reichte ihr eine Handvoll Papiertücher, während Methusalem einen großen Sicherheitsabstand zu BJ hielt.
„Danke. Das dürfte reichen.“ Mit der Hälfte der Handtücher wischte sie die Leimtropfen von den Fliesen, dann befeuchtete sie die restlichen Tücher und putzte den Rest weg.
„Soll ich Ihnen das abnehmen?“ Eleanor hielt ihr wieder die Hand hin.
„Danke.“ Sie gab ihr die schmutzigen Tücher. „Während Sie das wegbringen, fülle ich die letzten zwei Löcher.“
BJ brachte ihre Arbeit, so schnell sie konnte, zu Ende, packte ihr Werkzeug zusammen und wartete an der Haustür auf Eleanor.
Als die alte Frau wieder auftauchte, lag ein in Folie gewickeltes Päckchen auf der Ablagefläche ihres Rollators. „Noch einmal vielen Dank, dass Sie gekommen sind und mich befreit haben.“
„Kein Problem. Morgen oder übermorgen, wenn der Leim getrocknet ist, komme ich wieder und befestige die Schrauben. Können Sie die Badezimmertür bis dahin offen lassen?“
„Natürlich. Ich mache sie nur aus reiner Gewohnheit zu. Es ist ja nicht so, dass jemand im Haus wäre, der mich stören würde. Außer Methusalem. Und er ist so alt, dass er die meiste Zeit in der Sonne liegt und schläft.“ Ihr Lächeln verschwand für einen Moment, doch dann strahlte sie wieder, nahm den Teller und hielt ihn ihr hin. „Ein kleines Dankeschön.“
„Das ist doch nicht nötig, Eleanor.“
„Das sehe ich anders. Außerdem backe ich gern. Und ich weiß, dass Ihnen mein Schokocremekuchen schmeckt. Essen Sie ihn als Nachspeise nach Ihrem Mittagessen.“
Da es schon so spät war, würde der Kuchen ihr Mittagessen sein, nicht nur ihre Nachspeise. Aber das brauchte Eleanor nicht zu wissen.
„Das mache ich. Und ich werde jeden Bissen genießen.“ BJ nahm den Kuchen. „Ich rufe Sie an, bevor ich komme, um die Tür zu reparieren.“
„Das ist nicht nötig. Ich bin immer da. Sie können jederzeit kommen.“
Der Ton der alten Frau war fröhlich wie immer, aber in ihren Worten schwang eine Einsamkeit mit, die nicht zu überhören war.
Den meisten würde dieser Unterton entgehen.
Aber nicht BJ. Sie hatte in letzter Zeit ein feines Gespür für solche Untertöne entwickelt. Das trug allerdings nicht zu ihrem Seelenfrieden bei.
„Ist alles in Ordnung, meine Liebe?“
„Ja.“ Sie riss sich aus ihren Gedanken los und nahm das Päckchen. „Ich freue mich auf den Kuchen.“
„Guten Appetit, liebes Kind. Und arbeiten Sie nicht so viel.“
Auf diese Bemerkung ging sie nicht näher ein, als sie sich verabschiedete und das Haus verließ. Viel arbeiten lag ihr im Blut. Da stellte sie einen hohen Anspruch an sich selbst, aber wenigstens war die Arbeit, die sie in Hope Harbor – bezahlt und unbezahlt – verrichtete, lohnenswert und befriedigend.
Falls sich der Plan, an dem sie arbeitete, umsetzen ließe, könnte sie sogar noch lohnender sein.
BJ deponierte den Kuchen vorsichtig auf dem Beifahrersitz, dann warf sie einen Blick zurück auf Eleanors Veranda mit den blühenden Pflanzen. Nach einem letzten Winken nahm die alte Frau eine Gießkanne und begann, ihre vielen Blumen zu gießen.
BJ legte den Rückwärtsgang ein und warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Armaturenbrett. Es blieb keine Zeit mehr, um zu Charley zu fahren. Aber ihr war der Appetit sowieso vergangen. Das verdankte sie Eleanors unschuldiger Bemerkung über Liebesbeziehungen … und einer aufwühlenden Begegnung mit einem gut aussehenden Fremden.
Das war wirklich albern.
Sie war absolut nicht bereit für eine Beziehung. Und schon gar nicht mit einem Mann der Kategorie groß, dunkelhaarig und attraktiv.
Vielleicht wäre sie eines Tages – eines sehr fernen Tages – wieder für die Liebe offen.
Vielleicht.
Aber im Moment mochte sie ihr einfaches, ruhiges, friedliches und unkompliziertes Leben ganz gern.
Und sie hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern.
Irene Hannon
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri.
Webseite: www.irenehannon.com
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