New York & Illinois, 1857: Elise Neumann, Tochter einer Hamburger Bäckersfamilie, steht vor großen Herausforderungen. Nach dem Tod ihrer Eltern, die mit ihnen in die USA immigriert sind, muss sie sich um ihre jüngeren Schwestern kümmern. Doch New York wird von einer Finanzkrise erschüttert und Arbeitsplätze sind rar. Schließlich bleibt Elise keine andere Wahl, als Näherin zu werden und in den Westen zu gehen. Dort werden Arbeitskräfte händeringend gesucht.
Als sie den sympathischen Städteplaner Thornton trifft, scheint sich das Blatt für Elise endlich zu wenden. Sie ahnt nicht, dass Thorntons Vater ihn und seinen Bruder zu einem aberwitzigen Wettstreit angestiftet hat. Und dass Thornton fest entschlossen ist, diesen zu gewinnen. Koste es, was es wolle ...
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Kapitel 1
New York City
Juni 1857
Elise Neumann schaute durch die zersprungene Fensterscheibe im zweiten Stock auf die schlammige Straße hinab und beobachtete, wie sich die Omnibusse und Kutschen durch den Morast quälten. Fußgänger wichen den schmutzigen Pfützen aus und brachten sich eilig in Sicherheit. Ein einsamer Zeitungsjunge stand an der Straßenecke und versuchte, seine Zeitungen zu verkaufen. Seine Wangen und Hände waren von der Druckerschwärze ganz dunkel. Selbst zu dieser frühen Morgenstunde herrschte in der Stadt ein reges Treiben.
Noch gestern waren diese gefährlichen, schmutzigen Straßen ihr Zuhause gewesen.
Hinter sich hörte sie Mariannes leises Flüstern.
„Wie lang bist du schon wach?“
Elise drehte sich um. „Noch nicht sehr lange.“ Das Gesicht ihrer Schwester glänzte immer noch davon, dass sie es gestern sauber geschrubbt hatte, nachdem sie in der Missionsstation in der Siebten Straße angekommen waren. Das Trauma aus den Tagen als obdachlose Waisen würde sich jedoch nicht so leicht wegwaschen lassen.
Sie kniff sich in die Wange, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht träumte, obwohl das Knurren ihres Magens deutlich verriet, dass sie hellwach war.
„Ich gehe heute arbeiten“, teilte sie Marianne leise mit und warf einen kurzen Blick auf die drei Kinder, die hinter ihr auf den Pritschen schliefen. Sie wollte sie noch nicht wecken. Sie hoffte, sie würden den ganzen Tag schlafen und sich erholen.
Marianne strich ihre gewellten braunen Haare zurück, die immer noch dringend gewaschen werden mussten. „Miss Pendleton hat gesagt, dass wir heute noch nicht zu arbeiten anfangen müssen und uns ein paar Tage ausruhen können.“
„Wir brauchen das Geld.“ Sie hatten keinen Cent. Sie besaßen nichts als einen kleinen Beutel mit Kleidung und anderen Habseligkeiten, die sie daran erinnerten, dass sie früher einmal Eltern und ein Zuhause gehabt hatten. Mit jedem Tag, der verging, wurde es schwerer, sich an die Zeit zu erinnern, als sie in Hamburg ein glückliches und behütetes Leben geführt hatten, eine Zeit, als Vater und Mutti noch lebten, Vater seine gut gehende Bäckerei betrieb und sie besaßen, was sie brauchten, und noch mehr.
Als ein leises Rascheln ertönte, erschauerte Marianne und legte die dünnen Arme über ihre Brust. Elise hatte gestern Nacht tief und fest geschlafen – das erste Mal, seit Mutti vor über sechs Wochen gestorben war – und deshalb die Ratten in den Wänden und die Kakerlaken an der Decke nicht gehört. Aber in der Stille des frühen Morgens war die Kakofonie aus dem Krabbeln und Rascheln viel zu laut zu hören.
Miss Pendleton, die Eigentümerin der neu eröffneten Missions- station in der Siebten Straße, hatte ihnen erklärt, dass sie noch lange nicht fertig waren, das große Gebäude zu renovieren und zu reinigen, das früher eine Brauerei gewesen war. Als die Brauerei vor einigen Jahren schließen musste, hatten sich Banden und Vandalen in dem unbenutzten Gebäude breitgemacht und eine Spur der Verwüstung hinterlassen.
Einschusslöcher überzogen eine Wand, während sich über die andere ein großer Riss zog, der notdürftig gekittet worden war. Die Decke war mit schwarzem Ruß überzogen, ein Beweis dafür, dass jemand hier drinnen ein Kohlefeuer angezündet hatte, um die Kälte zu vertreiben. Der Boden war gefegt, aber er war trotzdem schmutzig.
Dieses Zimmer war natürlich besser, als auf der Straße zu leben, machte sich Elise bewusst. Viel besser.
Noch wichtiger war, dass Miss Pendleton ihr und Marianne einen der begehrten Arbeitsplätze in ihrer Näherei versprochen hatte. Elise hatte vor, sich gleich am Morgen auf dieses Versprechen zu berufen. Sie brauchte dringend eine Arbeit. Sie hatte Mutti auf dem Sterbebett versprochen, dass sie sich gut um ihre Geschwister kümmern würde, aber das hatte sie bis jetzt nicht geschafft.
Außerdem wollte sie Miss Pendletons Großzügigkeit nicht ausnutzen. Miss Pendleton hatte sie gestern schon mit mehreren Mahlzeiten versorgt. Sie hatte ihnen trockene Decken und Pritschen gegeben. Und sie hatte einen Arzt für den armen, kleinen Nicholas kommen lassen. Das Leben draußen bei Wind und Wetter und die Unterernährung hatten bei dem einjährigen Kind ihre Spuren hinterlassen. Abgesehen von Flüssigkeitsmangel hatte der Arzt jedoch zum Glück keine gesundheitlichen Probleme bei dem Jungen festgestellt. Nach einem Tag Ruhe und viel Flüssigkeit war schon wieder Farbe in seine Wangen zurückgekehrt.
„Bleib bei den Kindern.“ Elise kämmte ihre Haare mit den Fingern zurück und begann, sie zu flechten. In dem schwachen Licht, das durchs Fenster hereinfiel, wirkten ihre dichten blonden Haare grau. Das wunderte sie nicht. Der Staub von den Straßen klebte an jeder Faser ihres Körpers.
Marianne widersprach ihr nicht. Auch wenn sie nur ein Jahr jünger war, hatte sie sich der 19-jährigen Elise immer untergeordnet. Das machte Elise die Arbeit, ihre Geschwister zu versorgen, leichter. Sie hörten auf sie, ohne Fragen zu stellen. Aber die Last der Verantwortung konnte manchmal unerträglich sein, besonders, da sie sich anscheinend nicht so um sie kümmern konnte, wie sie es verdienten.
Elises Finger blieben in ihren Haaren hängen. Ihre Hände waren vom Regen ganz rau und rot und die Finger unbeweglich. Sie betete, dass sie ihre Finger dazu bewegen könnte, die feinen Stiche zu nähen, die von ihr verlangt werden würden.
Marianne schob ihre Hände weg. „Lass mich das machen.“
Elise überließ ihre Haare Mariannes kräftigen, aber trotzdem zarten Fingern. Im Nu hatte Marianne ihre Haare geflochten, zusammengerollt und an ihren Hinterkopf gesteckt. Elise drückte ihrer Schwester dankbar einen Kuss auf die Wange und schlich dann durch den Raum.
Ihr Blick schweifte über Sophie, die zwischen Nicholas und Olivia lag, und blieb an ihr haften. Sophie hatte ihre dürren Arme schützend über die Kinder gelegt. Zum ersten Mal seit Wochen war Sophies hübsches Gesicht glatt und ohne Sorgenfalten. Elise glaubte fast, die Grübchen auf ihren Wangen sehen zu können, die sich nur noch selten zeigten.
Im Schlaf sah Sophie so verwundbar aus, fast genauso hilflos wie Nicholas und Olivia. Sophie war zierlich und hatte sich noch nicht in eine Frau verwandelt. Sie könnte leicht für ein zehnjähriges Kind gehalten werden, obwohl sie schon fünfzehn war.
Elise seufzte. Vielleicht würde Sophie an diesem sicheren Ort mit regelmäßigen Mahlzeiten anfangen aufzublühen. Sie hoffte verzweifelt, dass heute der erste Tag einer besseren Zukunft für sie alle werden würde.
Sie stieg eine wackelige Treppe hinab, bis sie im Erdgeschoss ankam. Als sie von der Toilette in der Gasse hinter dem Haus zurück war, ging sie in die Richtung, aus der Stimmen und leises Lachen zu hören waren. Der Flur war schmal und wurde nur von dem Licht erhellt, das durch die offenen Türen der Räume vorne im Gebäude fiel. Es roch stark nach frischer Farbe sowie nach Essig und Lauge – ein deutliches Zeichen, dass Miss Pendleton schon schwer gearbeitet hatte, um das Erdgeschoss nutzbar zu machen.
Bevor Elise das Nähzimmer erreichte, blieb sie stehen und atmete tief ein, dann zwang sie sich einzutreten. Sie befand sich in einer Näherei, in der Frauen an langen Tischen saßen und Hemden nähten. Ihre Unterhaltungen verstummten und bald richteten sich aller Augen auf sie.
Keines der Gesichter war ihr bekannt. Viele der Frauen hielten eine Nadel, an der ein Faden hing. Andere hatten ihre Nadel in den Stoff gesteckt. Die Tische waren mit den zugeschnittenen Teilen von Männerhemden in verschiedenen Bearbeitungsstadien bedeckt. Obwohl Elise an ihrem letzten Arbeitsplatz Westen genäht hatte, war sie mit der Näharbeit gut genug vertraut, um die verschiedenen Aufgaben zu erkennen, die den Frauen zugeteilt waren. Einige hefteten, andere waren für die Appretur zuständig und wieder andere bestickten die Hemden.
Es kursierten Gerüchte von neuen Maschinen, die diese Arbeit anstelle des Nähens von Hand übernehmen könnten. Genauso wie alle anderen konnte sich Elise nicht vorstellen, wie ein Metallgerät so präzise und gründlich sein sollte wie ein Mensch.
Obwohl sie nie gedacht hätte, dass sie einmal als Näherin arbeiten würde, war das Nähen wenigstens eine Arbeit, die Frauen in New York City offenstand. Die meisten Betriebe hatten bereits genug Arbeiterinnen, aber Miss Pendleton hatte ihr eine Stelle garantiert. Darauf zählte sie. Sie war verzweifelt auf diese Arbeit angewiesen.
Sie schaute sich im Raum nach der zierlichen, dunkelhaarigen Frau in schwarzer Trauerkleidung um. Aber Miss Pendleton war nicht da.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine Frau mit einem Akzent, der verriet, dass sie aus England kam. Sie schob sich von einem der Tische weg und stand auf. Sie war groß und blass, was die dunklen Ringe unter ihren Augen noch deutlicher betonte. Ihre stumpfen braunen Haare waren in der Mitte streng gescheitelt und an den Seiten hochgesteckt. Ihr kariertes Kleid aus Seide und Taft, das früher wahrscheinlich modisch und elegant gewesen war, war jetzt ausgebleicht und abgenutzt.
„Ich suche Miss Pendleton“, sagte Elise. Sobald sie den Mund aufmachte, verwandelte sich die Neugier in einigen Gesichtern in Misstrauen und Ablehnung. Obwohl sie seit sieben Jahren in Amerika lebte, hatte Elise immer noch einen deutschen Akzent. Offensichtlich waren diese Frauen keine Deutschen, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich Irinnen waren.
Leider schienen sich die irischen und die deutschen Einwanderer nie zu verstehen. Vagabundierende Banden beider Seiten bekämpften sich ständig auf den Straßen und in den Gassen. Die zwei ethnischen Gruppen machten hier einen großen Bevölkerungsanteil aus und konkurrierten um dieselben wenigen Arbeitsplätze und Wohnungen.
„Miss Pendleton ist nicht da.“ Die Augen der großen Frau waren nicht feindselig, nur neugierig.
„Miss Pendleton hat mir gesagt, dass ich hier Arbeit finden könne.“
Die Frauen schauten sich vielsagend an. Elises Magen zog sich zusammen. Gab es hier doch keine Arbeit für sie? Hatte ihr Miss Pendleton falsche Hoffnungen gemacht?
„Wie Sie selbst sehen können“, sagte die Engländerin, „haben wir hier keinen Platz für noch mehr Arbeiterinnen.“
Elise ließ ihren Blick wieder durch den Raum schweifen und stellte fest, dass an jedem Tisch nur vier Frauen saßen. Jede hatte ihre eigene Arbeitsfläche mit viel natürlichem Licht, das durch die Fenster fiel. Außerdem waren Petroleumlampen im ganzen Raum verteilt.
Der Betrieb, in dem sie zuletzt gearbeitet hatte, war eine kleine Wohnung in einem Mietshaus gewesen. Bis zu zwölf Arbeiterinnen hatten sich in einen Raum gedrängt, der nur einen Bruchteil der Größe dieses Zimmers gehabt hatte. Sie hatten nur wenig Licht gehabt und auf ihrem Schoß arbeiten müssen. „Ich brauche nicht viel Platz.“
Die Engländerin warf einen Blick hinter sich auf eine Frau mit lockigen roten Haaren, die an einem der Tische saß. Sie schürzte jetzt die Lippen und schüttelte kurz den Kopf. Ihre Augen und ihr hübsches, sommersprossiges Gesicht waren vom Leben auf der Straße hart geworden. Ihnen fehlte jedes Mitgefühl in dieser Welt, in der ein brutaler Überlebenskampf herrschte.
„Sie werden sich woanders eine Arbeit suchen müssen“, sagte die Frau fast entschuldigend.
Elise war versucht zu widersprechen. Oder zu betteln. Sie hielt sich für eine Frau mit einem gewissen Stolz. Aber nachdem sie schon einmal auf der Straße gelebt hatte, erfüllte sie der Gedanke, dorthin zurückkehren zu müssen, mit einer spürbaren Panik. Sie hatte keine Angst um sich selbst, aber sie wollte ihre Familie nicht wieder dieser Gefahr aussetzen. „Wenn Sie mir eine Chance geben, werden Sie sehen, dass ich eine ausgezeichnete Näherin bin.“
„Es tut mir wirklich leid“, antwortete die Frau.
„Was soll ich denn sonst machen?“ Die verzweifelte Frage rutschte ungewollt über ihre Lippen.
„Du bist jung und hübsch“, sagte die Rothaarige. „Die Männer werden dich mögen.“
Diese Andeutung ließ Elise die Haare zu Berge stehen. „Lieber sterbe ich, als dass ich meinen Körper verkaufe.“
„Meine Güte, sind wir aber stolz“, knurrte eine andere Frau von einem Tisch in Elises Nähe.
„Ja“, gab ihr eine andere recht, die dieses Wort mit finsterer Miene fauchte. „Wenn das die einzige Möglichkeit wäre, um nicht mit ansehen zu müssen, wie deine Kinder vor deinen Augen verhungern, würdest du es machen.“
Andere mischten sich ein und wütende Stimmen erhoben sich im Raum. Die Blicke, die vorher schon unfreundlich gewesen waren, wurden jetzt richtig feindselig. Elise trat einen Schritt zurück. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre einfache Aussage die Frauen so wütend machte. Prostitution war falsch. Warum wurde sie beschimpft, weil sie sich dagegen aussprach?
Es sei denn …
Elise klammerte sich an den Türrahmen. Sie war gestern so müde gewesen, dass es ihr schwergefallen war, sich zu konzentrieren, als Miss Pendleton erklärt hatte, was das Ziel der Missionsstation in der Siebten Straße war. Aber irgendwo in ihrem Hinterkopf erinnerte sich Elise vage daran, dass Miss Pendleton erwähnt hatte, dass die Frauen hier in der Näherei aus einem erniedrigenden Leben gerettet worden waren. Hatte sie damit gemeint, dass sie Prostituierte gewesen waren?
Alle Hoffnungen verschwanden wie Blumenblüten, die auf den Boden fielen und nur darauf warteten, zertrampelt zu werden. Sie sollte lieber sofort gehen. Hier gäbe es für sie als Deutsche keine Arbeit. Und schon gar nicht, nachdem sie diese Frauen beleidigt hatte.
Elise wandte sich von der Näherei ab und ging durch den Flur dorthin zurück, woher sie gekommen war. Sie würde die Kinder so lange wie möglich schlafen lassen, dann könnten sie noch eine Mahlzeit essen, bevor sie aufbrächen. Aber wohin würden sie gehen? Wäre sie gezwungen, zu ihrem Onkel zurückzugehen, obwohl die Situation dort unerträglich gewesen war?
Was war mit Reinhold? Sie waren Freunde, und er hatte angeboten, sie zu heiraten, um ihrer Familie ein Dach über dem Kopf zu geben, obwohl er es kaum schaffte, seine eigene Mutter und seine Geschwister sowie seine Tante und deren Kinder zu versorgen. Er war inzwischen wahrscheinlich krank vor Sorge. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, sich bei ihm zu melden, seit sie weggelaufen waren.
„Elise“, rief eine Stimme vom Flur.
Elise fuhr herum und sah, dass Miss Pendleton das Gebäude betrat. Hinter ihr kam der kräftige Pastor Bedell. Obwohl er ein freundliches Gesicht hatte, war er groß und breitschultrig, ein Riese von einem Mann, der sich nicht scheute, seine Fäuste einzusetzen. Elise hatte schon einmal erlebt, wie er einen Streit geschlichtet hatte. Seine Kraft war beeindruckend. Miss Pendleton hatte ihnen gestern mit hübschen geröteten Wangen erzählt, dass sie und Pastor Bedell verlobt waren und dass die Hochzeit stattfinden würde, sobald die Trauerzeit um ihre Mutter vorbei wäre.
Miss Pendleton eilte mit kurzen, klappernden Schritten auf sie zu. Sie war zierlich und dünn, ihr Gesicht war eckig und fast streng. Doch was ihr an Größe fehlte, machte sie durch Entschlossenheit und Zielstrebigkeit wett.
„Es überrascht mich, Sie so früh am Morgen wach zu sehen.“ Miss Pendleton trat mit einer Würde und Anmut auf, die Elise nur allzu schmerzlich an ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Stand erinnerte. Sie war klug genug, Miss Pendleton nicht mit anderen reichen Aristokraten in einen Topf zu werfen, aber sie hatte trotzdem Mühe, gegen diese Frau keine Abneigung zu verspüren.
Wenn Graf Eberhardt nicht gewesen wäre, würde ihre Familie immer noch glücklich in Hamburg leben. Vater hätte noch seine Bäckerei und sie würde an seiner Seite arbeiten und das, was sie liebte, mit den Menschen, die sie liebte, gemeinsam tun. Ein geringfügiges Vergehen gegenüber dem hartherzigen Grafen aber hatte genügt und er hatte entschieden, Vaters guten Ruf mit einem hinterhältigen Gerücht zu zerstören.
Elise konnte die tiefen Falten auf Vaters Stirn und die Verzweiflung in seinen Augen nicht vergessen, als er schließlich erkannt hatte, dass keine Kunden mehr kamen, die sein Brot und seine Kuchen kauften.
„Ich hoffe, Sie haben in der Küche etwas zu essen gefunden.“ Miss Pendleton blieb so nahe vor ihr stehen, dass Elise der frische Blumenduft ihrer Kleidung und Haare bewusst machte, dass von ihrem eigenen ungewaschenen Körper und ihrer schmutzigen Kleidung ein säuerlicher Geruch ausging.
„Ich brauche nur für die Kinder etwas zu essen“, sagte Elise.
„Sie müssen selbst auch etwas essen. Ich bestehe darauf.“ Miss Pendleton nickte zur Treppe, die in eine Küche und ein Esszimmer im ersten Stock führte. Obwohl in den Zimmern immer noch gearbeitet wurde und sie lange noch nicht fertig waren, hatte Miss Pendleton ein einfaches Gericht auf dem Ofen stehen, das die Arbeiterinnen für einen kleinen Betrag kaufen konnten.
Am anderen Ende des schwach beleuchteten Flurs entdeckte Elise die große Engländerin, die im Türrahmen der Näherei stand. Als Miss Pendletons Augen Elises Blick folgten, zog sich die Frau in den Raum zurück.
„Sie sollten doch heute noch nicht arbeiten.“ Miss Pendleton schaute sie mit ihren aufmerksamen graublauen Augen an. „Ich dachte, das hätte ich gestern Abend deutlich gemacht.“
„Ja, aber …“
„Sie sind ein paar Tage mein Gast hier. Wenn Sie dann wieder zu Kräften gekommen sind, stelle ich Sie der Vorarbeiterin vor und sie wird Ihnen eine Arbeit zuteilen, die Ihren Fertigkeiten entspricht.“
„Die Frauen haben mir gesagt, dass hier kein Arbeitsplatz frei ist.“
„Unsinn.“ Miss Pendleton drehte sich auf dem Absatz um und marschierte durch den Flur. „Kommen Sie. Ich stelle Sie den Frauen vor.“
Elise rührte sich nicht vom Fleck.
An der Tür zur Näherei blieb Miss Pendleton stehen und winkte sie zu sich. „Kommen Sie. Seien Sie nicht so schüchtern.“
Elise war nicht schüchtern. Sie war einfach realistisch. Ihr drängten sich wieder die gleichen Fragen wie zuvor auf. Wo sollte sie arbeiten, wenn sie in der Missionsstation keine Arbeit fand? Wo würde sie eine Wohnung finden? Konnte sie ihre Familie wieder dem Leben auf der Straße aussetzen?
Miss Pendleton lächelte sie mit einer Wärme und Freundlichkeit an, die Elise versprach, dass alles in Ordnung kommen würde. Wenn Miss Pendleton sie vorgestellt hätte, würden die Frauen sie bestimmt akzeptieren und über ihre Beleidigung hinwegsehen. Sie würden das anfängliche Missverständnis bestimmt vergessen.
Als Miss Pendleton sie erneut zu sich winkte, kehrte Elise in das Nähzimmer zurück.
„Meine Damen“, sagte Miss Pendleton und trat ins Zimmer, „ich möchte Ihnen unsere neueste Mitarbeiterin vorstellen, Elise Neumann.“
Schweigen begrüßte Elise. Und gesenkte Blicke. Außer der großen Engländerin schaute sie niemand an.
Miss Pendletons Brauen zogen sich nach oben. Diese Reaktion hatte sie eindeutig nicht erwartet. „Miss Neumann hat mir versichert, dass sie im Nähen sehr geschickt ist. Ich bin also überzeugt, dass sie eine Bereicherung für uns ist.“
Immer noch herrschte Schweigen im Raum. Der Lärm von der Straße drang durch die Fenster herein, die an diesem Junimorgen weit offen standen, um die Kühle der Morgenstunden hereinzulassen, bevor die Hitze des Tages unerträglich wurde.
„Mrs Watson?“ Miss Pendleton lächelte die große Frau an, die etwas von ihr entfernt an der Stirnseite eines Tisches stand. „Ich bin mir sicher, dass Sie gerne eine Frau mit Miss Neumanns Erfahrung in Ihren Reihen haben werden. Ach, und ihre Schwester wird auch mit uns arbeiten.“
Mrs Watson erwiderte das Lächeln nicht. Stattdessen warf sie wieder einen Blick auf die rothaarige Frau, die ihre Aufmerksamkeit auf den Hemdsärmel richtete, der vor ihr lag, und ihre Nadel eifrig in den Stoff führte.
Miss Pendletons Lächeln wurde schwächer, aber sie drückte Elise ermutigend den Arm.
Mrs Watson räusperte sich. „Miss Pendleton, ich fürchte, wir haben im Moment keinen Platz für weitere Näherinnen. Wenn die Näherei auf der anderen Seite des Flurs fertig ist, kann man vielleicht …“
„Ich bin mir sicher, dass wir vorübergehend noch zwei Frauen hier unterbringen.“
„Andere Frauen warten bereits darauf, hier zu arbeiten, Frauen, die wir wegschicken mussten.“ Mrs Watson flüsterte jetzt fast.
Miss Pendleton bedachte Mrs Watson mit einem scharfen Blick. „Ich bin mir des Problems, dass wir Frauen wegschicken müssen, sehr wohl bewusst. Und es bricht mir jedes Mal das Herz. Ich will jedem helfen und ich hoffe, dass ich irgendwann viel mehr Menschen helfen kann.“
Mrs Watson richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Boden, der bis auf einige lose Fäden überraschend sauber war.
„Bis dahin, Mrs Watson, bete ich zu Gott, dass er mich zu den Menschen führt, denen ich helfen soll. Dazu gehören, wie ich glaube, Sie und die Frauen in diesem Raum. Und auch Miss Neumann und ihre Geschwister.“ Miss Pendleton hob das Kinn, wie als Warnung, ihr nicht zu widersprechen.
Niemand sprach ein Wort.
„Sie sind die ersten Bewohner hier in diesem Haus“, fuhr sie fort. „Und ich hoffe, dass ich die Türen bald noch viel mehr Menschen öffnen kann, die eine sichere Unterkunft brauchen.“
Aus den schnellen Blicken, die einige Frauen miteinander wechselten, schloss Elise, dass sie diese Nachricht als Bevorzugung betrachteten und sie deshalb noch weniger mögen würden.
„Also, Mrs Watson: Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie Miss Neumann und ihre Schwester in unserer Näherei freundlich aufnehmen?“
Mrs Watson nickte. „Ja, Ma’am. Wir werden unser Bestes geben.“
„Gut. Es freut mich sehr, das zu hören. Schließlich wollen wir anderen die gleiche Gnade und Liebe erweisen, die uns selbst erwiesen wurde, nicht wahr?“
„Ja, Ma’am“, sagte Mrs Watson noch einmal.
Obwohl Miss Pendleton mit ihrer Antwort zufrieden zu sein schien, konnte Elise das Gefühl nicht von sich abschütteln, dass ihre neue Arbeit von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Sosehr sie auch auf die Hilfe der Missionsstation in der Siebten Straße angewiesen war, hatte sie den Verdacht, dass sie ihre Hoffnung und Hilfe früher oder später anderswo suchen müsste.
Jody Hedlund
Jody Hedlund studierte soziale Arbeit und began neben ihrer beruflichen Tätigkeit mit dem Schreiben. Sie und ihr Mann leben in Michigan, lieben aber auch die wilden Bergregionen Colorados, in denen einige von Jodys Geschichten angesiedelt sind. Sie haben fünf Kinder, mittlerweile alle im Teenager- oder Erwachsenenalter.
Webseite: www.jodyhedlund.com
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