Lu rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf dann so heftig, dass ihre blonden Zöpfe wild hin und her flogen. »Es ist nicht verboten! Man darf beim Selberpflücken auf dem Erdbeerfeld auch naschen!«, gab sie zurück. »Aber wenn es nach dir geht, Merle, ist die Welt ja eh voller Verbrechen!«
Da musste ich Lu glatt mal kurz die Zunge rausstrecken. Ich war aber nicht wirklich sauer. (Bin nämlich eigentlich stolz drauf, so viel über Detektive und Verbrecher zu wissen. Und darüber, wie man sie fängt – die Verbrecher natürlich, nicht die Detektive.)
»Ha!«, rief Lu. »Jetzt hast du dich verraten! Deine Zunge ist auch ganz erdbeerrot!«
Und damit hatte sie recht. Kurz vorher hatte ich mir nämlich selbst eine riesige dunkelrote Beere genehmigt. (Aber nur eine! Nachdem ich mindestens zwanzig brav in meinen Eimer hatte wandern lassen!)
Mi kicherte los: »Ertappt! Auf frischer Tat ertappt! Meisterdetektivin Merle Müller lässt sich ...« Aber weiter kam sie nicht, denn ich hatte ihr kurzerhand selbst eine Erdbeere in den Mund geschoben. Und so waren wir ziemlich schnell mitten auf dem Erdbeerfeld in einen Kampf verwickelt.
»Vorsicht!«, rief Lu. »Fallt nicht über den Eimer hinter euch!«
Doch da war es schon zu spät. Als ich Mi ausweichen wollte, machte ich einen Schritt nach hinten und stolperte über besagten Eimer, den ich vorhin bereits bis zum Rand gefüllt hatte. Schwupps, fiel er um, und ich lag plötzlich mittendrin ... in jeder Menge Erdbeermatsch. Dann machte es Plumps und Mi gesellte sich zu mir (oder krachte eher auf mich).
»Au«, sagte ich.
»Auweia«, sagte Lu.
Und »Oh-oh« kam es von Mi, als sie endlich von mir runtergeklettert war und den Schaden betrachtete. »Erdbeermarmelade«, stellte sie fest und fing an, den noch halbwegs stroh- und erdfreien Teil der Matsche mit den Händen in den Eimer zurückzuschaufeln.
Ich war inzwischen auch wieder aufgestanden und rieb mir mein Hinterteil.
»Tut’s weh?«, fragte Lu besorgt.
»Geht so«, meinte ich und drehte mich vorsichtig hin und her.
»Sag mal, blutest du etwa?«, rief Lu entsetzt.
Mi warf einen prüfenden Blick auf meine Hose. Sie schüttelte den Kopf. »Erdbeermarmelade«, sagte sie noch einmal – und diesmal meinte sie das, was an meinem Hosenboden klebte.
»Das wird deiner Mama gar nicht gefallen«, prophezeite Lu mir. »Die Flecken gehen bestimmt nie wieder raus!«
»Ach, Quatsch!«, sagte ich leicht genervt. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht! Immerhin handelt es sich nicht um mein Hochzeitskleid, sondern um eine alte Hose, und wenn es nicht rausgeht, wird sie halt zur ... Dreckhose. Oder nein, noch besser: zur ersten offiziellen Erdbeerpflückhose der Welt! Die darf dann auch rote Flecken haben. Ist das nicht eine tolle Idee?« Ich war richtig begeistert von meinem Geistesblitz. (Obwohl ich zugegebenermaßen nicht ganz sicher war, ob Mama ebenso begeistert sein würde oder ob Lu nicht vielleicht doch recht hatte. Zumindest ein »Ach Merle, mein kleiner Schmutzfink« war von Mama vermutlich zu erwarten.)
Die anderen beiden waren eher unbeeindruckt. Mi pflückte inzwischen wieder Erdbeeren und Lu meinte: »Stell dir das mal vor! Erdbeerflecken auf dem Hochzeitskleid! Wie schrecklich!« Dann fragte sie mich: »Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, wie dein Hochzeitskleid aussehen soll? Möchtest du lieber ein weißes oder ein cremefarbenes – so wie Frau Blum eins hatte? Ich meine natürlich: Frau Gieselmann, so heißt sie ja jetzt. Also mir hat dieses Kleid super gefallen! Die Farbe, die Form und diese Schleppe ... einfach traumhaft! Fandest du es auch so schön?«
Das war mal wieder typisch Lu: Sie konnte stundenlang über Kleidung, ganz besonders über schicke Kleider (gerne auch mit Glitzer und Rüschen), reden. Da konnte unsere Primaballerina leicht ins Schwärmen kommen. Und bei der Erinnerung an die Hochzeit unserer Kunstlehrerin am vorvorletzten Wochenende bekam ihr Gesicht einen ganz verzauberten Ausdruck.
Wobei sie natürlich recht hatte. Die Trauung war wirklich wunderschön gewesen. (Die Braut übrigens auch!) Alle Klassen, die Frau Blum an unserer kleinen Bauerbacher Grundschule unterrichtete, waren eingeladen gewesen, in der Kirche dabei zu sein. Da mussten wir natürlich hin! Wir hatten sogar unser Grundschulabschiedsfest deswegen vorverlegt! Diese Hochzeit war das Allerfeierlichste, was ich je erlebt hatte.
»Das Kleid war toll«, bestätigte ich, »aber die Musik und das, was gesagt wurde, war mindestens genauso beeindruckend.«
»Ja«, stimmte Lu mir zu und seufzte sehnsuchtsvoll. »Als der Pastor gefragt hat, ob sie zusammenbleiben, bis der Tod sie scheidet, und Frau Blum und ihr Bräutigam dann ›Ja‹ gesagt haben, musste ich echt weinen. Das war soooo romantisch!«
»Das war es«, bekräftigte ich. »Mensch, Mi, du hast echt was verpasst! Warum warst du noch mal nicht da?«
»Mama und ich waren übers Wochenende weg!«, antwortete Mi knapp.
»Aber wieso gerade an diesem Wochenende? Wie konntest du dir bloß die Hochzeit entgehen lassen?« Lu war ehrlich verblüfft.
Mi zuckte mit den Schultern. »Mama wollte halt einfach mal raus«, sagte sie dann. »Was anderes sehen. Weil da schon feststand, dass Papa ausziehen würde. Was er vor drei Tagen dann auch gemacht hat.«
Lu und ich schauten Mi verständnislos an.
»Dein Papa ist ausgezogen? Wieso das denn?«, fragte Lu. »Gefällt ihm euer Haus nicht mehr?«
Jetzt kriegte Mi diesen verständnislosen Blick. Einen Moment lang starrte sie Lu bloß an. »Spinnst du?«, fragte Mi dann.
»Ist es wegen der Nachtdienste?«, versuchte ich es. »Braucht er mehr Ruhe am Tag?«
Doch Mi schüttelte nur den Kopf. »Mann, ihr habt echt keine Ahnung! Dass Papa ausgezogen ist, bedeutet, dass er und Mama sich getrennt haben! Kapiert ihr es jetzt?«
Lu nickte langsam. Ich tat und sagte gar nichts, so geschockt war ich. Mark und Steffi hatten sich getrennt? Die netten Eltern meiner lieben Mi? Das war ja unglaublich! Na ja, Mi hatte in letzter Zeit tatsächlich manchmal so komisch abwesend und auch irgendwie traurig gewirkt, fiel mir jetzt ein. (Und ich hatte gedacht, das hätte damit zu tun, dass wir nach den Sommerferien alle auf unterschiedliche Schulen gehen würden!) Offenbar war da also schon länger was im Busch gewesen. Aber: eine Trennung? Das hatte ich nicht geahnt. Und ich fand es furchtbar, ganz, ganz furchtbar! Wenn das meine Eltern machen würden! Das wollte ich mir lieber gar nicht vorstellen. Ich spürte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten, wollte sie heimlich wegblinzeln, aber da fingen sie schon an, leise mein Gesicht herunterzurollen. Ich schluckte und schniefte. Dann flüsterte ich nur: »Arme Mi!«
Auch Lu hatte ihre Sprache wiedergefunden: »Das ist ja blöd!«
Mi zuckte nur mit den Schultern. »Tja, was soll ich machen? Mama sagt, es wird sich nicht viel ändern. Ich werde Papa noch oft sehen. Immerhin wohnt er jetzt gegenüber, bei Schmidtchen in der Einliegerwohnung. Ich find’s trotzdem doof. Aber können wir jetzt mal das Thema wechseln?«
»Klar«, murmelte ich. Mir fiel aber nichts ein. Mein Kopf war komplett leer und mein Herz noch immer voller dunkler Gefühle.
Doch Lu plapperte schon wieder drauflos: »Natürlich können wir über was anderes reden. Habt ihr schon gehört? In Bauerbach geht ein Geist um!«