Jesu Botschaft hat die Welt verändert. Ein wichtiger Teil dieser Botschaft wird jedoch von Bibellesern oft übersehen: Es sind die zentralen Inhalte des jüdischen Glaubens, die im Neuen Testament überall vorausgesetzt sind, aber nie ausführlich erklärt werden, weil sie für jüdische Ohren so vertraut und selbstverständlich waren.
Dieses Buch führt ein in die zentralen Inhalte des jüdischen Glaubens, indem es die großen Feste des Kalenderjahres vorstellt: Neujahr, Laubhüttenfest, Passa, Pfingsten, der große Tag der Versöhnung und der Sabbat. Und damit zugleich die großen Linien von Schöpfung, Erlösung, Liebe, Schuld und Versöhnung, wie sie im Judentum verstanden werden. Daran knüpft Jesus an und macht die jüdischen Feste zum roten Faden seiner Lehre. Deshalb sind sie ein wichtiger Schlüssel, um seine Botschaft zu verstehen.
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Kapitel 1
Einleitung
»Der Katechismus des Judentums ist sein Kalender«
(Samson Raphael Hirsch)
Die Theologie des Neuen Testaments ist verankert im Glauben des Judentums. Und der Glaube des Judentums ist verankert in den Festen und Feiertagen des jüdischen Kalenders. Wer deshalb die Theologie des Neuen Testaments verstehen will, der muss den Kalender des Judentums kennen.
Bibelforscher und Bibelleser vergangener Jahrhunderte haben diesen Zusammenhang leider oft übersehen, weil sie den christlichen Glauben weitgehend aus seiner jüdischen Verankerung gelöst haben. Sie betonten vor allem die Unterschiede zwischen Christentum und Judentum.
Sie wollten das Neue und das Einzigartige an den Aussagen des Neuen Testaments herausstreichen. Sie hielten das Judentum für eine Religion der Vergangenheit, aus der sich Jesus und Paulus befreit hätten.
Diese Sicht des Neuen Testaments hat sich erfreulicherweise in den letzten fünfzig Jahren stark verändert. Angestoßen durch die Schrecken des Nationalsozialismus und der Judenvernichtung, haben Kirche und theologische Wissenschaft erkannt, dass Antisemitismus und Judenfeindschaft nicht erst in Gettos und Konzentrationslagern beginnen, sondern lange vorher in den Köpfen der Menschen und auf den Kanzeln der Kirchen, in denen schon seit Jahrhunderten eine Saat des Hasses und der Ablehnung gegenüber Juden genährt wurde. Und das aus gut gemeinter christlicher Überzeugung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch begann ein Prozess des Umdenkens und der Neuorientierung. Immer deutlicher erkennt man heute, dass sowohl Jesus als auch Paulus nicht Gegner des Judentums waren, sondern im jüdischen Glauben und Leben fest verwurzelt blieben. Ihr Glaube war ein jüdischer Glaube, ihre Botschaft eine jüdische Botschaft, ihre Theologie eine jüdische Theologie.
In meinen beiden vorangehenden Büchern »Jesus der Jude und die Missverständnisse der Christen« und »Paulus: Jude mit Mission« habe ich versucht, diese neue Sichtweise des Neuen Testaments vorzustellen. Ich habe viele verbreitete Missverständnisse und Zerrbilder angesprochen, die unter Christen bis heute verbreitet sind, wenn es um das Judentum geht. In diesem Buch möchte ich nun etwas anderes versuchen: Ich möchte zeigen, wie tief die Botschaft des Neuen Testaments in den Grundüberzeugungen des jüdischen Glaubens verankert ist. Ich möchte zeigen, dass die Theologie des Neuen Testaments eine durch und durch jüdische Theologie ist. Und dass die jüdischen Feste ein hilfreicher Schlüssel sind, um diese Theologie zu verstehen.
Eine »verborgene« Theologie?
Der Titel dieses Buches klingt dabei vielleicht etwas reißerisch. Er erinnert an Enthüllungsromane, die von verschwundenen Texten und geheimen Evangelien erzählen, in denen die Wahrheit über das Christentum zu finden sei. Und vom Vatikan oder anderen dunklen Mächten, die diese Wahrheit zu vertuschen suchen. Die Idee dieses Buches ist aber viel unspektakulärer: Ich rede nicht von unentdeckten und verborgenen Evangelien, sondern von den vier Evangelien, die wir kennen: Matthäus, Markus, Lukas, Johannes. Ich glaube, dass in diesen Evangelien, die uns so vertraut scheinen, viel mehr verborgene Theologie steckt, als man auf den ersten Blick erkennt. Man muss nur genauer hinschauen, um sie zu entdecken. Es ist die Theologie, die zwischen den Zeilen steht.
Ich würde die Theologie der Evangelien mit einem Eisberg vergleichen: Nur der kleinste Teil ist über der Wasseroberfläche zu sehen: das, was ausdrücklich gesagt wird und schwarz auf weiß geschrieben steht. Aber unter der Oberfläche liegt das, was diesen Berg trägt und was den größten Teil seines Gewichtes ausmacht: Nämlich das, was ungesagt vorausgesetzt ist, weil es für die damaligen Leser selbstverständlich und bekannt war. Dazu gehört der jüdische Glaube mit seinen Grundüberzeugungen und seiner Theologie.
Zählt man alle Worte Jesu zusammen, die in den Evangelien aufgeschrieben sind, dann braucht man etwa vier Stunden, um sie zu lesen. Das meiste davon sind anschauliche Geschichten, Gespräche über Fragen des praktischen Lebens oder kurze Zusammenfassungen von ausführlicheren Reden. Theologische Grundsatzfragen hat Jesus nur selten angesprochen. Nimmt man noch den ganzen Rest des Neuen Testaments hinzu, dann sind es etwa 20 Stunden. Die meisten Lehrbücher christlicher Theologie sind wesentlich umfangreicher. Rekordhalter der Neuzeit ist wohl der Theologe Karl Barth, dessen theologisches Grundlagenwerk »Kirchliche Dogmatik« immerhin stolze 13 Bände mit insgesamt 9300 Seiten umfasst.
Hatte Jesus also vielleicht gar keine Theologie? War er einfach nur ein guter Geschichtenerzähler, ein Menschenfreund und Wunderheiler, dem das praktische Leben wichtiger war als theologische Überzeugungen oder Botschaften? Manche moderne Theologen urteilen so. Für den Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann, der eine bis heute einflussreiche Darstellung der »Theologie des Neuen Testaments« geschrieben hat, gehörte die Botschaft Jesu überhaupt nicht zur Theologie des Neuen Testaments, sondern nur zu ihrer Vorgeschichte. Man müsse, so Bultmann, deutlich unterscheiden zwischen dem Glauben Jesu und dem Glauben an Jesus. Das Christentum beginne erst da, wo Menschen an Jesus glaubten. Für den christlichen Glauben sei es deshalb relativ unbedeutend, was Jesus selbst geglaubt oder verkündigt habe. Ohnehin könne man das kaum wissen, da die Evangelien daran »nicht interessiert« waren, so Bultmann. Von einer Theologie des Neuen Testaments könne man allerdings erst da sprechen, wo Menschen ihren Glauben an Jesus bekennen und formulieren, also zum Beispiel die ersten Mitglieder der Urgemeinde oder die ersten Theologen des Christentums, wie Paulus und Johannes. Der jüdische Glaube Jesu wäre demnach also zwar Teil der Vorgeschichte des Christentums, gehöre aber nicht in die christliche Theologie hinein.
Auch der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber trennte deutlich zwischen dem jüdischen Glauben Jesu und dem christlichen Glauben des Paulus. Der Glaube Jesu, den Buber als »jüdische Glaubensweise« bezeichnete, sei eher eine gelebte Vertrauensbeziehung zu Gott gewesen. Der Glaube des Paulus jedoch, die »christliche Glaubensweise«, sei dagegen ein theologisches System, bei dem es auf das Für-wahr-Halten ankomme. Hubertus Halbfas, einer der bekanntesten katholischen Religionspädagogen unserer Zeit, unterschied ganz ähnlich zwischen dem »Evangelium Jesu« und dem »Evangelium des Paulus«. Das eine sei eher eine praktische Lebensweise, das andere eine theologische Glaubenslehre. Auch hier finden wir also wieder das Bild von einem Jesus, der keine Theologie hatte.
Die Tiefenschichten des Eisbergs entdecken
So unterschiedlich die genannten Autoren und ihre Motive auch sind: Sie alle beschränken sich mit ihrem Urteil nur auf das Wenige, was im Neuen Testament »über der Oberfläche« von Jesus und Paulus zu lesen ist. »Ja, was denn sonst?«, werden Sie jetzt vermutlich fragen. Etwas anderes haben wir doch nicht. Doch, haben wir. Neben dem Vielen, was im Neuen Testament ausdrücklich gesagt wird, müssen wir nämlich auch das Viele beachten, das im Neuen Testament ungesagt bleibt. Das, was für damalige Leser selbstverständlich war. Weil es Allgemeinwissen war. Weil es zu ihrem Alltag gehörte, zu dem, was fast jeder Jude und jede Jüdin schon als kleines Kind lernte und tagtäglich praktizierte. Die Evangelien des Neuen Testaments setzen auf Schritt und Tritt solche Selbstverständlichkeiten voraus, ohne sie zu erklären: Sie sprechen von der Geburt Jesu in der »Stadt Davids«, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer David ist und welche Bedeutung er für das jüdische Volk hatte. Sie beschreiben die Taufe Jesu im Jordan, ohne mit einem Wort zu erwähnen, was für eine entscheidende symbolische Bedeutung der Jordan für die Geschichte Israels hatte. Sie erzählen, dass Jesus als kleines Kind zum Passafest nach Jerusalem kam und dort auch am Passafest gekreuzigt wurde, ohne zu erklären, was das Passafest für Juden bedeutete. Sie erwähnen die Palmwedel und »Hosianna«-Rufe beim Einzug Jesu nach Jerusalem, ohne zu sagen, was damals jeder wusste: dass beides zu den Festbräuchen des jüdischen Laubhüttenfestes gehörte. Und man könnte die Reihe beliebig fortsetzen.
Mit anderen Worten: Die Berichte der Evangelien setzen vieles voraus, was für damalige Leser, die mit dem Judentum vertraut waren, selbstverständlich war. Sie müssen es nicht erwähnen, es genügt ein kleiner Hinweis. Dieser Hinweis jedoch verleiht dem Gesagten seinen tieferen Sinn. In der Bibelwissenschaft nennt man das »Anspielungen« oder »Echos«: Verborgene, aber doch für den damaligen Leser verständliche Hinweise auf eine hinter den Worten liegende tiefere Bedeutung, die dadurch entsteht, dass die Worte mit einem größeren Zusammenhang verknüpft sind. In der Literaturwissenschaft spricht man auch von »Frames«, von den größeren Bezugsrahmen, in denen jeder Satz und jedes Bild einer Erzählung durch die Assoziationen, die dadurch beim Zuhörer wachgerufen werden, automatisch steht.
Ein modernes Beispiel: Wenn wir in unserer heutigen Zeit sagen »Alle Jahre wieder …«, dann rufen wir bei unseren Zuhörern damit automatisch eine ganze Reihe von Bildern und Erfahrungen ab, die wir mit ihnen teilen. Sie denken vermutlich sofort an Weihnachten, vielleicht haben Sie sogar eine bestimmte Melodie im Kopf. Je nach kultureller Prägung gehen die Assoziationen noch weiter: Gerüche von Weihnachtsmarkt und gerösteten Mandeln tauchen in der Vorstellung auf, Erinnerungen an Familienfeste und Bilder von bunt verpackten Geschenken. Bei religiös gebildeten Zuhörern kann man sogar davon ausgehen, dass sie an eine Geschichte aus der Bibel erinnert werden, in der ein Kind im Stall geboren und von Hirten besucht wird. Und sie verbinden mit dieser Geschichte die Glaubensüberzeugung, dass Gott Mensch wurde, um in unsere Welt zu kommen und uns Menschen als Mensch zu begegnen. Ein gutes Stück Theologie also. Das alles, und vermutlich noch mehr, ist der Eisberg, der unter der Oberfläche dessen liegt, was in den drei dürren Worten »Alle Jahre wieder« über der Oberfläche sichtbar ist. Es ist das Verborgene und Ungesagte hinter dem, was ausdrücklich gesagt wird. Für Menschen unseres Kulturkreises ist es leicht erkennbar und ganz selbstverständlich. Für Menschen einer anderen Zeit dagegen, oder schon einer anderen Sprache und Kultur, bliebe das alles verborgen, wenn sie die Anspielung nicht verstehen und die hinter den Worten verborgenen »Frames«, also Vorstellungsrahmen, nicht erkennen.
Die Theologie hinter den Worten
Noch einmal zurück zu Jesus und Paulus. Was ist der Eisberg, der unterhalb ihrer Worte verborgen liegt? Es ist die jahrhundertealte Tradition des jüdischen Glaubens, die beide nicht nur miteinander, sondern mit dem ganzen jüdischen Volk verbindet. Es sind die Erzählungen, Gesetze, Verheißungen, Mahnungen, Lieder und Gedichte des Alten Testaments. Es ist die lange Geschichte des Volkes Israel. Es ist die gelebte Praxis der jüdischen Bräuche, Feste und Feiertage. Auf diesen Schatz greifen sie zurück und auf dieses Fundament bauen sie ihre Gedanken und Worte auf. Jesus selbst benutzt dieses Bild einmal in einem seiner Gleichnisse:
»Ein Schriftgelehrter, der zu einem Jünger des Himmelreiches wird, ist wie ein Hausvater, der aus seinem Vorratsschrank Altes und Neues hervorholt.«
Die Theologie des Neuen Testaments besteht also nicht nur aus Neuem, sondern auch aus Altem. In ihren Predigten, Streitgesprächen und Briefen betonen Jesus und Paulus das Neue, das Unbekannte und Umstrittene. Aber das Alte, das Selbstverständliche und das Bekannte setzen sie dabei voraus.
Das Alte wird durch das Neue nicht abgeschafft, sondern ergänzt und erklärt. Es bleibt aber auch für das Neue Testament grundlegend. Wenn Jesus und Paulus von »Gott« reden, dann meinen sie damit den Gott Israels, von dem das Alte Testament erzählt und zu dem Juden tagtäglich beten. Wenn sie »Gesetz« sagen, dann meinen sie die Tora, aus der an jedem Sabbat in den Synagogen vorgelesen wird. Viele andere grundlegende Worte und Inhalte der Botschaft Jesu stammen aus dem alten Schatz des jüdischen Glaubens: die Errettung durch Glauben, das Gebot der Nächstenliebe, die Königsherrschaft Gottes, der Glaube an einen gnädigen und barmherzigen Gott, die Erwartung eines gerechten Gerichts, eines neuen Himmels und einer neuen Erde. In den Festen und Feiertagen des jüdischen Jahreskreises werden diese Glaubensüberzeugungen regelmäßig gefeiert, in den Gebeten der Synagogen werden sie benannt und besungen. Und in ihren Grundzügen reichen sie zurück bis in die Zeit des Neuen Testaments. Diese Überzeugungen machen einen Großteil der Theologie des Neuen Testaments aus, auch wenn sie oft nur stillschweigend vorausgesetzt und nicht ausdrücklich angesprochen werden. Die vielen kleinen Andeutungen und Anspielungen auf jüdische Feste, Bräuche und Rituale, die uns als nichtjüdische Leser des 21. Jahrhunderts leicht entgehen, machen aber deutlich, wie eng die Botschaft Jesu und die Briefe des Paulus mit dem jüdischen Glauben verbunden und wie tief sie in ihm verankert sind.
Neues aus dem alten Schatz
Auf das breite Fundament dieser jüdischen Glaubensgrundlagen baut das auf, was im Neuen Testament das »Evangelium« genannt wird. Es ist das »Neue«, das der von Jesus beschriebene Schriftgelehrte aus dem alten Vorratsschrank hervorholt (im Griechischen und Hebräischen sind »Schatz« und »Vorratsschrank« dasselbe Wort). Es ist die Spitze des Eisbergs, die im Neuen Testament im Mittelpunkt steht und auf die ausdrücklich verwiesen wird. Dieses Neue ist aber keine neue Religion, kein neuer Gott und auch kein neues Gesetz. Sondern es ist die Nachricht von einem Ereignis, von einem neuen Handeln Gottes in der Geschichte: die Botschaft, dass Gott in Jesus nun seinen Sohn in die Welt gesandt hat, der als Messias Israels am Kreuz die Sünde der Welt trägt und durch die Auferstehung von den Toten ein neues Zeitalter einläutet. Die Zeit des Messias, in der Gott sein Gesetz durch seinen Geist in die Herzen der Menschen schreibt und in der alle Völker der Welt hineingenommen werden in den Bund Gottes mit seinem Volk.
Diese neue und gute Botschaft ist nicht das Ende des Judentums. Sondern seine Bestätigung. In Jesus spricht Gott sein »Ja und Amen« zu dem, was er seit alters her dem Volk Israel verheißen hat. Er bestätigt und erfüllt die Hoffnungen und Erwartungen des jüdischen Glaubens. Das zumindest ist es, was Jesus behauptet und was seine ersten Nachfolger glauben und verkündigen. Natürlich stieß diese Botschaft auch auf Widerstand und Ablehnung, zuerst und vor allem bei jüdischen Hörern. Bis heute sind dieser Anspruch Jesu und dieser Glaube seiner Nachfolger das, was zwischen Christen und Juden umstritten bleibt und was zur Trennung ihrer Wege geführt hat. Und bis heute ist es nur eine kleine Gruppe innerhalb des Judentums, die sogenannten »messianischen Juden«, die diesen Glauben des Neuen Testaments teilen. Und das Christentum hat durch seine lange Geschichte der Judenfeindschaft und Judenverfolgung erheblich dazu beigetragen, die Botschaft von einem jüdischen Messias Jesus für jüdische Ohren unglaubwürdig, unverständlich und unerkennbar zu machen.
Die jüdischen Feste als Schlüssel zur Botschaft Jesu
»Der Katechismus des Judentums ist sein Kalender.« Mit diesen Worten beschrieb der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) die zentrale Bedeutung der Feste für das Verständnis des jüdischen Glaubens. Christen fassen ihre Glaubensüberzeugungen in einem »Katechismus« zusammen: kompakte Büchlein, in denen die wichtigsten Grundlagen des Glaubens zusammengestellt sind, sodass man sie auswendig lernen und nachschlagen kann. Es gibt den kleinen und den großen Katechismus von Martin Luther, den Heidelberger Katechismus und weltweit noch viele andere. Im Judentum gibt es nichts Vergleichbares. Aber, und das will Samson Raphael Hirsch mit seinem Ausspruch sagen: Es gibt die jüdischen Feste, in denen über das Jahr hinweg an alle wichtigen Heilstatsachen, alle wichtigen Ereignisse der Geschichte Israels und alle wichtigen Glaubensüberzeugungen des jüdischen Glaubens erinnert wird. Wer den Jahreskreis der Feste einmal durchlebt und mitgefeiert hat, der hat die Grundlagen der jüdischen Theologie lebendig und anschaulich erfahren.
In den vielen Jahren, in denen ich mich jetzt bereits mit den jüdischen Hintergründen des Neuen Testaments beschäftige, ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass die jüdischen Feste den heimlichen Bezugsrahmen der neutestamentlichen Theologie bilden. Immer wieder wird auf diese Feste angespielt, ausdrücklich oder durch versteckte Anspielungen. Die entscheidenden Höhepunkt der Evangelienerzählungen, der Tod Jesu am Kreuz und seine Auferstehung, geschehen sicher nicht umsonst an einem jüdischen Fest, dem Passa- oder Pesachfest. Und auch die Ausgießung des Heiligen Geistes fällt mit einem Fest zusammen, dem Pfingst- oder Schawuot-Fest. Und wie wir noch sehen werden, spielen die Feste an vielen weiteren Stellen eine Rolle, wo es nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Deshalb spreche ich von der »verborgenen Theologie« der Evangelien und des Neuen Testaments. Der jüdische Kalender mit seinen Festen und Feiertagen ist so etwas wie das Koordinatensystem, in das die Ereignisse rund um das Leben Jesu hineingeschrieben werden. Immer wieder werden Bezugspunkte hergestellt und damit den Worten und Ereignissen ein tieferer geistlicher Sinn verliehen. Als Leserinnen und Leser der Evangelien werden wir deshalb eingeladen, diesen Hinweisen und Spuren nachzugehen, um das zu entdecken, was unter der Oberfläche des geschriebenen Wortes verborgen liegt.
Ein Wort zur Methode
Die jüdischen Feste haben sich über einen Zeitraum von Jahrhunderten entwickelt und auch verändert. Nicht immer wurden sie so gefeiert, wie sie heute gefeiert werden. Manche dieser Feste sind schon im Alten Testament ausführlich beschrieben, andere sind nur kurz erwähnt. Jüdische Quellen aus der Zeit des Neuen Testaments sowie aus den Jahrhunderten davor und danach helfen uns zu rekonstruieren, wie diese Feste zur Zeit Jesu gefeiert wurden und welche Bedeutung sie hatten. Aber auch in den Jahrhunderten danach, im Mittelalter und in der Neuzeit haben sich die Feste weiter verändert. Neue Aspekte sind hinzugekommen, Bedeutungen haben sich gewandelt.
Man darf daher nicht den Fehler machen, von den heutigen Festbräuchen unmittelbar auf die Zeit Jesu zu schließen. Ich möchte auch nicht, dass dieses Buch so missverstanden wird. Mir geht es weniger um einzelne Bräuche und Traditionen als um die geistliche Grundbotschaft der Feste. Dennoch möchte ich auch die wichtigsten Aspekte der heutigen Praxis beschreiben, denn es geht mir auch darum, das heutige Judentum besser zu verstehen und Brücken zu bauen für das christlich-jüdische Gespräch. Wo es mir möglich ist, werde ich die Feste in ihrer chronologischen Entwicklung darstellen: zunächst die alttestamentlichen Grundlagen und Bibeltexte, dann die Entwicklung bis in die neutestamentliche Zeit und die rabbinischen Schriften hinein und schließlich auch die moderne Gestalt. Manchmal wird es aus Gründen der besseren Verständlichkeit und Anschaulichkeit auch nötig sein, die verschieden Ebenen zu vermischen. Dieses Buch soll kein wissenschaftliches Fach- und Lehrbuch sein, sondern ein Buch für interessierte Bibelleser, das zum Nachdenken anregt und zum näheren Hinsehen und Selberforschen inspiriert. Auf fachliche Literatur verweise ich deshalb hin und wieder in den Fußnoten.
Immer wieder werde ich von Lesern meiner bisherigen Bücher und von Zuhörern meiner Vorträge gefragt, warum ich so viel aus den rabbinischen Schriften zitiere, also aus Talmud, Midrasch, Mischna und Tosefta. Schließlich seien viele dieser Texte erst Jahrhunderte nach dem Neuen Testament entstanden, während andere jüdische Schriften, wie etwa die Textfunde aus Qumran und die Werke von Josephus und Philo, viel näher dran seien an der Zeit Jesu. Weil diese Frage wichtig und berechtigt ist, habe ich im Anhang dieses Buches dazu eine kurze Antwort formuliert. Denn auch in diesem Buch werde ich wieder viele Worte der jüdischen Rabbinen zitieren, auch dann, wenn sie aus späterer Zeit stammen. Denn erstens bin ich überzeugt, dass viele dieser Worte tatsächlich sehr alt sind und bis in die Zeit des Neuen Testaments zurückreichen, auch wenn sie erst später aufgeschrieben wurden. Zweitens fassen sie oft in sehr treffenden Worten und anschaulichen Bildern zusammen, was auch in älteren Texten zu finden ist, aber dort nicht so kunstvoll ausgedrückt ist. Und drittens möchte ich auch damit eine Brücke bauen in die Welt des heutigen Judentums. Denn es sind die Worte und Gleichnisse der alten Rabbinen und nicht die Schriften von Josephus, Philo oder Qumran, die bis heute für das Leben in den Synagogen prägend und bestimmend geblieben sind, die in Predigten und Diskussionen zitiert und in den Lehrhäusern unterrichtet werden. Deshalb ist es für uns Christen eine gute Übung, einzutauchen in die Welt der jüdischen Rabbinen, um von dorther auch die Welt Jesu besser zu verstehen.
Dr. Guido Baltes
Guido Baltes ist evangelischer Theologe und Pfarrer und lebt mit seiner Frau Steffi in Marburg. Er arbeitet als Dozent für Neues Testament am MBS Bibelseminar und ist Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg.
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