Sehnsucht.
Manchmal würde ich gern in anderen Zeiten leben. Nicht dass mir die Antike besonders sympathisch gewesen wäre. Sklaverei, Not, Unterdrückung, die ständige Furcht vor Krankheiten und bösen Geistern, all das ist nicht meins. Straßenräuber und Piraten brauche ich auch nicht zum Glücklichsein. Aber wenn ich die Bibel lese, dann überkommt mich oft eine große Sehnsucht.
Bei vielen der dort geschilderten Ereignisse wäre ich gern dabei gewesen. Und natürlich ist das ganz besonders bei Jesus der Fall.
Hier hat sich allerdings im Laufe der Jahre einiges verändert. Anfangs hätte es mir Spaß gemacht, mit ihm durch die Lande zu ziehen, um einfach einmal ein paar Wunder zu erleben. Ich hätte gern zugeschaut, wie ein Bis-eben-Gelähmter die ersten vorsichtigen Schritte macht oder ein Gerade-noch-Blinder erstaunt die Augen aufreißt, und hätte noch lieber gesehen, wie das ist, wenn ein Toter auferweckt wird.
Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn ich so etwas heute erleben würde, aber im Laufe der Jahre hat sich meine Sehnsucht verändert. Irgendwann wollte ich Jesus weniger „bei der Arbeit“ zuschauen – wenn man Krankenheilungen und Wunder so nennen kann –, sondern eher mit ihm reden. Ich würde gern ein tief gehendes Gespräch mit ihm führen, in dem ich ihm von den Herausforderungen erzähle, vor denen wir heute so stehen: wie das ist, in einer Gesellschaft zu leben, die von allem viel zu viel hat und trotzdem so seltsam leer erscheint. Wie man sich fühlt, wenn man weiß, dass praktisch jeder Schritt, den man tut, mit Umweltverschmutzung und Zerstörung verbunden ist. Wie man Nächstenliebe wahrnimmt, wenn man zwar jeden Tag unzähligen Menschen begegnet, allerdings noch nicht einmal ahnt, was die unmittelbaren Nachbarn beschäftigt.
Vielleicht ist das aber gar nicht so sehr die Sehnsucht nach Jesus als eher nach einer Zeit, die im Vergleich zu unserer irgendwie „einfacher“ erscheint – in der die Beziehungen unmittelbarer sind, die Strukturen deutlicher und die Verhältnisse geklärter zu sein scheinen als bei uns heute, wo ein durchschnittlicher Pendler auf dem Weg zur Arbeit mehr Menschen begegnet als ein Bauer im ersten Jahrhundert in seinem ganzen Leben. Ich weiß es nicht.
Eines jedoch weiß ich – dass sich meine Sehnsucht über die Zeit noch ein weiteres Mal verändert hat. Wenn ich heute das Neue Testament lese, habe ich am meisten Sehnsucht nach der Hoffnung, die Jesus und seine Jünger ausgezeichnet hat. Zwischen dem Alten und dem Neuen Testament liegt schließlich ein halbes Jahrtausend. Fünfhundert Jahre Funkstille, fünfhundert Jahre, in denen kein Prophet mehr aufgetreten war. Und dann kam Johannes der Täufer. Wie seinerzeit Mose stand er am Jordan und ließ das Volk mit der Taufe symbolisch ins Gelobte Land einziehen. Dazu kam eine Botschaft, die weltbewegende Umwälzungen ankündigte: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Matthäus 3,2)
Jesus ist nur wenig später mit derselben guten Nachricht aufgetreten (4,17). Was für eine Ankündigung – und was für eine Story! Gott, der Schöpfer des Universums und Herr der Welt, tritt jetzt seine Herrschaft auf eine ganz neue Weise an. Es beginnt also eine Bewegung, die im Vaterunser immer wieder herbeigesehnt und nachgebetet wird: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden.“ Das muss Erinnerungen an Mose wachgerufen haben, an den brennenden Dornbusch, aus dem heraus Gott verkündigt hatte: „Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt“. (2. Mose 3,7f.)
Man kann viel darüber spekulieren, ob Gott nicht auch schon vorher der Herr der Welt gewesen ist, der alles in seiner Hand hält, weil er nach dem Hiobbuch ganz klar auch der Macht des Bösen Grenzen setzt – aber eines kann man nicht leugnen: Mit der Botschaft des Täufers und Jesu ist etwas in Bewegung gekommen. Gott hat sich auf den Weg gemacht wie ein Feldherr, der nun aufbricht, um sein Volk zu befreien, und demnächst steht er vor den Toren. Widerstand erscheint aussichtslos, wer kann, kehrt also um und widersetzt sich ihm nicht.
Was für eine Hoffnung müssen solche Gedanken losgetreten haben! Wir finden ihren Widerhall in den Gebeten, die rund um die Geburt Jesu gebetet worden sind. So ruft Maria, die Mutter Jesu, freudig aus:
„[Gottes] Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“ (Lukas 1,50-55)
Und Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, „weissagte“ (Lukas 1,67) nur wenig später:
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils im Hause seines Dieners David – wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten –, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund, an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben,
dass wir, erlöst aus der Hand der Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.“ (Lukas 1,68-75)
Es scheint, als würde das wahr werden, was Jesus zu Anfang seiner Bergpredigt verheißen sollte: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6) Uns mag das Gericht, das damit unweigerlich verbunden ist, vielleicht erschrecken, weil wir insgeheim ahnen, dass wir eher gewinnen als verlieren, wenn alles so weiterläuft wie bisher. Aber welche Hoffnungen müssen solche Worte bei denen ausgelöst haben, die unter den Zuständen der Welt leiden! Gott ist es nicht egal, dass die einen reich sind und die anderen arm, es ist ihm nicht gleich, dass die einen unterdrücken und die anderen unterdrückt werden, er macht Schluss damit, dass die einen satt sind und die anderen Hunger leiden.
Die Botschaft vom Gericht, von einem Gott, der sich endlich aufmacht, um das Krumme gerade zu machen, die Täler zu erhöhen und die Berge zu erniedrigen, ist schon die erste gute Nachricht. Und noch besser wird sie, wenn sie mit der Aufforderung zur Umkehr verbunden wird. Denn dass die Welt einen neuen Anfang bekommt, gibt auch uns eine neue Chance. Auch unser Leben kann noch einmal neu beginnen, diesmal aber richtig, im Einklang mit dem kommenden Gottesreich.
Deshalb wundert es mich nicht, dass die Massen zu Johannes dem Täufer in die Wüste gezogen sind. Und mich wundert es auch nicht, dass sie kamen, um Jesus predigen zu hören, und dass einige von ihnen alles stehen und liegen gelassen haben, um diesem Mann zu folgen, der eine solche Hoffnung in ihnen geweckt hat. Diese Hoffnung bewundere ich, diese Hoffnung hätte ich auch gern. Sie zeugt von einem Glauben, dem mehr wichtig ist als das tägliche Wohlergehen, die alltäglichen Sorgen, das eigene Schicksal und die Gesundheit der Lieben. Sie zeugt von einer Religion, in der es um mehr geht als Lebensbewältigung und Werte, als Tradition und Erneuerung, als Richtig oder Falsch oder gar als Gebote und Verbote. Sie kündet von einer Spiritualität, in der es nicht in erster Linie um Gesang und Ergriffenheit geht, um Gottesdienste und Austausch und vor allem immer wieder Worte, Worte, Worte.
Oder vielleicht gerade darum: Die Worte, in die diese Hoffnung gefasst worden ist, sind ja besondere Worte. Es sind keine Floskeln, keine leeren Hülsen, keine Formeln und keine Sprüche, sondern Erinnerungen an das eine Wort, das die Welt dereinst ins Leben gerufen hat und sie eines Tages auch wieder beenden wird, an das Wort, das im Anfang bei Gott war und in Jesus Mensch geworden ist.
Ist dieses Wort verblichen und zu bloßen Worten geworden? Ist die damit verbundene Bewegung langsamer geworden und stehen geblieben? Ist die Hoffnung verblasst? Oder ist sie nur verschüttet worden, untergegangen in all dem Alltagstrubel, der Sorge der Welt und dem trügerischen Reichtum, wo sie verborgen liegt und wieder ausgegraben werden kann? Die Sehnsucht ist jedenfalls da und wird immer größer – jedes Mal, wenn Jesu unsterbliche Worte gebetet werden: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe: wie im Himmel, so auch auf Erden.“
Lassen Sie uns also eintauchen in die große Story, die Geschichte Gottes mit den Menschen.