Die rechte führte in Mias Wohnung. Die Wohnung, die ihre Eltern für sie renoviert hatten, als sie reumütig wie Hänschen Klein aus der weiten Welt zurückgekehrt war. Hinter der linken verbarg sich eine minimalistische, selten genutzte Ferienwohnung, gerade groß genug für zwei Abenteurer, die weder Dusche oder Küche noch sonstigen Komfort benötigten. Es kam einem Wunder gleich, dass sich überhaupt ein Pärchen für Silvester angemeldet hatte. Schließlich tauchte Goppeln in keinem Reiseführer auf. Hierher verliefen sich allerhöchstens ein paar Spätbucher, die den Trubel um den Dresdner Striezelmarkt unterschätzt hatten und wie das heilige Paar keinen Raum mehr in den Herbergen fanden.
Mia entriegelte das Schloss und wurde sofort von einem kläglichen Maunzen begrüßt. Tiffany, die greise schwarz-grau melierte Katze, die Mias Eltern zusammen mit ihrem Häuschen von der dementen Frau Steinke übernommen hatten, strich schnurrend um ihre Knöchel herum. Anschließend heftete sie sich wie ein Magnet an sie, begleitete sie in die Küche, zum Heizkörper, zum Kühlschrank, zur Mikrowelle und schließlich zum Esstisch, wo sie es sich auf Mias Schoß gemütlich machte, während diese Kartoffelsuppe vom Vortag löffelte und nebenbei am Laptop lustlos nach einem Rezept für Samstagabend suchte.
Sie ging gerade die Zutatenliste für einen süßen Flammkuchen durch, als ihr Mailprogramm mit einem lauten Bing verkündete, dass sie Post bekommen hatte. Mia warf einen flüchtigen Blick auf den Absender und verschluckte sich. Das Husten vertrieb Tiffany von ihrem Schoß, doch Mia bemerkte es kaum. Ihre Augen klebten förmlich an dem angezeigten Namen.
Vincent Procházka.
Betreff: Und jährlich grüßt der Alexanderplatz!
Mias Herz raste wie nach einem 100 Meter-Sprint. Das musste ein Scherz sein. Nur, dass er nicht witzig war. Kein bisschen.
Ihr erster Impuls war, die Nachricht zu löschen. Sie bewegte den Cursor über die Anzeige. Doch dann zögerte sie. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine ungelesene Mail gelöscht. Schließlich konnte man nie wissen … Ein paar Sekunden lang kaute sie noch auf ihrer Unterlippe herum, dann ergab sie sich mit einem Stöhnen.
Hohoho, es ist mal wieder so weit: Die Procházkas verschicken Weihnachtsgrüße.
Eine Rundmail. Wie um alles in der Welt war sie nur in den Verteiler geraten? Bereitete es Vincent etwa diabolische Freude, in ihren Wunden herumzustochern?
Hinter uns liegen aufregende Monate.
Beinahe hätte Mia gelacht. Das war die Untertreibung des Jahrhunderts.
Inzwischen sind wir zu viert. Margarete liest schon ihre ersten Sätze und Luise ist ein pausbäckiger Wonneproppen, der Carla und mich in den Nächten ganz schön auf Trab hält.
Mia fragte sich, was wohl mehr Kraft erforderte: nachts ein schreiendes Kind zu beruhigen oder jahrelang ein Doppelleben zu führen.
Obwohl Margarete ihrer Mama im Haushalt wie eine Vorzeigetochter hilft, habe ich nun endlich den Posten als Dramaturg am Stage Theater des Westens hier in Berlin angenommen, um ihnen noch besser unter die Arme greifen zu können. Das heißt, ich sehe meine drei Mädchen jetzt viel öfter und das genießen wir alle.
Die Worte verschwammen vor Mias Augen, sodass sie nicht weiterlesen konnte. Lügen, nichts als Lügen.
Sie scrollte zum Ende der Nachricht und zuckte zusammen, als Vincent und seine perfekte kleine Familie sie plötzlich vom Bildschirm her angrinsten. Sie posierten auf einem roten Sofa zwischen Kissen mit Rentiermuster. Vincent hielt Baby Luise in den Armen und Margarete, die stolz ihre fehlenden Schneidezähne präsentierte, kuschelte sich an seine linke Seite. Carla Procházka schmiegte sich von rechts an ihn. Alle trugen winzige Weihnachtsmannmützen auf den Köpfen. Eine klassische, vollkommen ahnungslose Bilderbuchfamilie.
Mias Blick wanderte hinauf zu Vincents blauen Augen, gegen deren Magie sie auch heute noch machtlos war. Sie weckten unzählige Erinnerungen: an leere Theatersäle, an den Weinkeller in der Theodorstraße, an Alsterspaziergänge, an ein Zuhause, das sich im Januar plötzlich als Fata Morgana entpuppt hatte …
Die Türglocke brach den Bann und Mia fuhr zusammen. Hastig wischte sie sich die Tränen aus den Augen, klappte den Laptop so eilig zu, als sei sie bei einer Straftat ertappt worden, und ärgerte sich dabei maßlos über ihre Träumerei. Dumme, naive Mia. Wann wirst du endlich aufhören, ihm nachzutrauern?
Im Flur warf sie einen prüfenden Blick in den Wandspiegel. Ihre rote Nasenspitze und die glasigen Augen verrieten sie, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Sie hoffte nur, dass es nicht ihre Eltern waren, die da vor der Tür standen. Ihr Kreuzverhör würde sie im Moment nicht ertragen. Sicherheitshalber strich sie ihre viel zu langen blonden Haare und den Pony, so gut es ging, glatt.
Doch es waren nicht ihre Eltern, die da draußen vor Kälte zitternd von einem Bein auf das andere traten. Mia hatte den dunkelhaarigen Mann, den sie auf Mitte dreißig schätzte, und den Jungen an seiner Seite noch nie gesehen.
»Hallo.« Der Fremde nickte ihr zu und legte dabei seine Hand auf die bunte Wollmütze des Jungen. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie um diese Uhrzeit rausklingeln, aber wir sind praktisch direkt vor Ihrer Haustür mit unserem Wohnmobil liegengeblieben.« Mit dem Daumen deutete er über seine Schulter, wo Mia in der Dunkelheit die Silhouette eines altmodischen Campingwagens ausmachte.
»Das … tut mir leid. Wie kann ich helfen?« Normalerweise hätte sie alleine schon die späte Stunde misstrauisch werden lassen, doch dass der Fremde ein Kind dabeihatte, beruhigte sie.
»Ich habe vorne an der Kreuzung ein Schild mit der Aufschrift Ferienwohnung gelesen ...«
»Natürlich!« Ein Lächeln stahl sich auf Mias Gesicht. »Sie brauchen einen Schlafplatz. Da haben Sie aber Glück. Normalerweise sind die Ferienwohnungen hier in Goppeln ganzjährig ausgebucht. Nein, Spaß, hierher kommen kaum mal Übernachtungsgäste.«
Der Fremde grinste schief. Er wirkte erschöpft, fand Mia.
»Also ein Zimmer für zwei, oder …?« Sie blickte in Richtung Wohnmobil, auf der Suche nach der fehlenden dritten Person.
»Genau, nur für uns zwei. Und bloß, bis ich das Wohnmobil wieder zum Laufen gebracht habe.«
»Kein Problem.« Mia kam eine Idee. »Wissen Sie, wir haben einen Wohnwagenhändler im Ort. Ich kenne ihn persönlich. Ein Freund meiner Familie. Er bietet einen guten Service und würde Ihr Wohnmobil sicher im Handumdrehen wieder flott machen. Wenn Sie wollen, gebe ich ihm morgen kurz Bescheid«, bot sie an, doch der Mann winkte ab.
»Danke, aber ich denke, ich versuche es erst einmal allein. Kann ich den Stellplatz hinterm Haus nutzen, damit der Uwe nicht die ganze Nacht den Weg blockiert? Vielleicht springt er ja nochmal an.«
»Sicher.« Mia schmunzelte. »Ich gehe davon aus, dass Uwe der Camper ist?«
Grinsend stupste der Mann den Jungen an. »Seine Idee.«
Dann wandte er sich zum Gehen. Zurück blieben Mia und der kleine Knirps, der sie mit so großen Augen musterte, dass sie sich bald unbehaglich fühlte.
»Na du?« Sie beugte sich zu ihm hinunter. »Darf ich fragen, wie du heißt?«
»Mattheo.« Der Klang seiner Stimme machte Mia stutzig. So rau. Vielleicht war er heiser. »Und m-mir ist kalt.«
Kein Wunder! Schließlich stand er seit mindestens fünf Minuten bewegungslos in der eisigen Kälte.
Als Mutter würdest du kläglich versagen, Mia.
Sie nahm den Schlüssel für die Ferienwohnung vom Haken neben dem Eingang, schlüpfte in ihre Winterschuhe und schloss unter Mattheos wachsamem Blick die Nachbartür auf.
»Na, dann zeig ich dir mal, wo du heute Nacht schläfst.«
Hinter ihnen erwachte der Motor des Wohnmobils stotternd zum Leben und der Fremde begann, ihn rückwärts ums Haus herumzumanövrieren. Auf halbem Weg jedoch erstarb das Motorengeräusch plötzlich wieder.
»Und aus«, konstatierte Mattheo.
Er folgte ihr in die eisige Wohnung und Mia fiel auf, dass sein Gang seltsam unrund und schwankend ausfiel.
»Das hört sich aber gar nicht gut an, was?«, meinte sie und beobachtete durch die offene Tür, wie der Mann wieder und wieder versuchte, den Motor zum Laufen zu bringen. »Fahrt ihr in den Urlaub, dein Papa und du?«
»Hm.« Mattheo nickte. »W-wird das h-hier noch warm?«
Mia sperrte die Kälte aus.
»Na klar, wir müssen nur die Heizung aufdrehen. Und natürlich eure Betten beziehen.«
»Das kann ich gut.« Mattheo befreite sich von Mütze, Handschuhen und Jacke und legte alles sorgsam auf den Tisch gleich neben dem Eingang. Dann ließ er sich rückwärts auf den Boden plumpsen und zerrte an seinen Schuhen. Mia kniete sich vor ihn hin und half ihm, die Schleifen zu öffnen.
»Sag mal, wie alt bist du denn, Mattheo?«
Prompt hielt er sechs Finger hoch. »Bald kriege ich meine Zuck-zuckertüte.«
Während Mia beobachtete, wie Mattheo aufstand, verglich sie ihn unwillkürlich mit ihrem gleichaltrigen Neffen. Gegen ihn wirkte Mattheo beinahe wie ein Kleinkind. Mit gerunzelter Stirn drehte sie den Heizungsregler auf Stufe drei und holte Bettlaken und Bezüge aus dem Schrank, der zwischen den Betten stand. Nachdem sie eines davon bezogen hatte, half sie Mattheo, der sich eifrig mit seinem Deckenbezug abmühte, aber nicht wirklich vorwärtskam.
Gerade als sie gemeinsam die Knöpfe schlossen und Mia verfolgte, wie Mattheo wiederholt Anlauf nahm, einen Plastikknopf durch das zugehörige Loch zu schieben, öffnete sich die Tür.
»Na, das sieht doch gemütlich aus«, bemerkte Mattheos Vater mit einem prüfenden Blick durch den Raum.
»Ja, und ich helfe der Tante«, sagte der Kleine stolz.
»Nenn mich ruhig Mia«, bot sie an.
Da fasste sich der Fremde in gespieltem Entsetzen an die Stirn und reichte Mia mit einer leichten Verbeugung die Hand. »Wo sind nur meine Manieren geblieben? Gestatten? Finn Winkler. Wir können gern Du sagen.«
Mattheo lachte über die Theatralik seines Vaters und Mia schoss durch den Kopf, dass er einen guten Schauspieler abgeben würde.
Etwas vibrierte in diesem Moment in Finns Jackentasche, wahrscheinlich ein Handy, doch er ignorierte es.
»Wie viel schulde ich dir pro Nacht?«, wollte er wissen.
»Fünfunddreißig Euro. Für Mattheo berechne ich dir nichts. Dazu kommen sieben Euro pro Person für jede Mahlzeit, wenn das gewünscht ist.« Fast ein wenig schuldbewusst fügte sie hinzu: »Wie du siehst, gibt es keine Küche.«
»Heute Abend brauchen wir nichts mehr, stimmt’s, Matthi? Wir haben unterwegs einen Stopp bei Burger King eingelegt.«
»Ich liebe Pommes mi-mit Mayo«, stotterte Mattheo mit einem seligen Grinsen im Gesicht, das Mia zum Schmunzeln brachte.
Das Vibrieren des Handys verstummte und Mia erhob sich.
»Gut, wie wäre es dann mit Müsli, Ei und Obst zum Frühstück? Ich bringe es gern rüber.«
»Klingt super, nicht wahr, Großer?«
Mia räusperte sich. »Würde … würde es dir etwas ausmachen, mir das Geld für die erste Nacht schon im Voraus auszuzahlen? Weißt du, normalerweise erfolgt die Buchung online und es wird eine Anzahlung verlangt ...«
Finn runzelte die Stirn, zog dann aber seine Geldbörse aus der Hosentasche und kramte drei Zwanziger hervor. »Für die erste Nacht und das Frühstück. Der Rest ist wegen der Umstände. Und jetzt lassen wir dich in Ruhe.«
Mia nahm das Geld entgegen. »Danke. Falls ihr noch irgendetwas braucht, klingelt ruhig. Vor Mitternacht schlafe ich nie. Gute Nacht.«
Sie winkte Mattheo zu, der mit einem Mal Mühe zu haben schien, die Augen offenzuhalten, und zog sich dann in ihre eigene Wohnung zurück, wo ihr Blick sofort auf den Laptop fiel, den sie während der letzten Minuten völlig vergessen hatte.