Pling, pling, pling. Die blutrot lackierten Fingernägel unserer Programmleitung tippen gegen ihre Porzellantasse und mit jedem Mal verrinnt eine weitere der kostbaren Sekunden, die mich noch vom endgültigen Ende meiner Karriere trennen. Dummerweise gibt es nur einen Menschen, der mich jetzt noch retten könnte, doch der schiebt in diesem Moment sein Fahrrad durch die regennassen Straßen von San Francisco.
Unter dem Konferenztisch spiele ich an dem Ring mit dem schwarzen Meerglas herum, der an meinem rechten Zeigefinger steckt. Ich wünschte, er trüge einen Sender, der mir die geschätzte Ankunftszeit meines Assistenten mitteilt.
Am bestem etwa so: Eben eingetroffen! Bin gleich da! Stattdessen leuchtet mein Handydisplay auf und ich lese zu meinem Entsetzen: Kannst du sie noch zehn Minuten hinhalten?
»Du bist dran, Ingrid«, sagt SaBrina Hartley, wobei sie es schafft, die beiden Silben meines Namens so in die Länge zu ziehen, dass daraus drei werden. Diese Kunst hat sie perfektioniert, seitdem sie vor neun Monaten zu unserer Programmleiterin befördert wurde – genau wie ihre Reden über die Wichtigkeit, ausschließlich etablierte Autoren mit einer professionellen Webpräsenz unter Vertrag zu nehmen. »Bist du so weit?«
Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Kein Mensch würde es wagen, SaBrina irgendetwas anderes zu melden als seine uneingeschränkte Einsatzbereitschaft.
»Ähm, ja. Natürlich.« In der verzweifelten Hoffnung, dass Siri meine wachsende Panik spürt und einen Plan zu meiner Rettung entwirft, deponiere ich mein Smartphone mit dem Display nach oben auf dem Tisch. Doch leider geschieht nichts dergleichen. Ich merke, wie mir immer heißer wird, während ich die Hülle meines iPads aufklappe und auf das Exposé eines Romans starre, über den ich nicht viel mehr weiß, als dass er auf zwei Zeitebenen spielt. Keine gute Voraussetzung, um ihn auch nur einigermaßen erfolgreich vorzustellen.
Über unser Herbstprogramm wird auf zwei zentralen Konferenzen entschieden und die Vorbereitung dieser Sitzung hier hatte ich Chip übertragen, dem jungen, begeisterungsfähigen Lektoratsassistenten, den ich seit seinem letzten Collegetag unter meine Fittiche genommen habe. Er dürfte auch der Grund dafür sein, dass ich immer noch über ein Eckbüro verfüge, mich Lektorin nennen und die Projektakquise leiten darf. Während ich mich bemüht habe, alles Wichtige für die Vertreterkonferenz am Ende des Monats zu erledigen, hat Chip die Unterlagen für heute zusammengestellt. Er hat nicht nur das Manuskript gelesen, das wir eigentlich gemeinsam präsentieren wollten, und Vergleichstitel dazu herausgesucht; nur er kann auch SaBrinas Kreuzverhör mit all ihren Fragen nach Autorin und Projekt standhalten. Um ehrlich zu sein, habe ich es nicht geschafft, mehr als die ersten zwei, drei Kapitel des Buchs zu lesen.
Und leider ist es kein Geheimnis, dass der Tag, an dem ich meine letzte Unterschrift unter einen Autorenvertrag gesetzt habe, schon eine ganze Weile zurückliegt. Genauer gesagt: Es war vor neun Monaten und sechsundzwanzig Tagen.
Ich streife mir die dunkle Haarlocke, die meine Sicht behindert, hinters rechte Ohr und richte meinen Blick auf die unverputzte Ziegelwand unseres Konferenzraums. Der riesige Tisch wird von Regalen eingerahmt; sie quellen fast über von Urkunden, Plaketten und den international erfolgreichen Fantasyromanen, auf die sich die meisten dieser Auszeichnungen beziehen. Der unglaubliche Verkaufserfolg, den sie uns beschert haben, hat unser mittelständisches Verlagsunternehmen vor etwa fünf Jahren in nie gekannte Umsatzdimensionen katapultiert. Ihr Anblick fährt mir jedes Mal wie eine brennende Harpune durch den Brustkorb. Deshalb wende ich meine Aufmerksamkeit auch jetzt schnell wieder dem halben Dutzend humorloser Gesichter am Tisch zu. Unser Programmplanungsteam besteht aus vier Lektoren und Lektorinnen sowie zwei Lektoratsassistenzen, die ihre Blicke nur selten von ihren Laptops lösen. Kaum zu glauben, dass das hier früher zu meinen monatlichen Highlights gezählt hat. Das war, bevor SaBrina von einem unserer New Yorker Imprints hergewechselt ist und mein Hirn nach einer Art Kurzschluss entschieden hat, meine Leistungsfähigkeit lieber mal um einiges herunterzufahren.
Unter der ehemaligen Verlagsleitung waren diese Meetings immer eine willkommene Abwechslung zum Kreislauf der gleichen alltäglichen Aufgaben des Büchermachens. So etwas wie ein geschützter Raum fürs Ideen-Ping-Pong. Wir haben über die exotischen Kaffeevarianten, die wir uns bestellten, gelacht und den neusten Gossip aus San Francisco geteilt.
Heute dagegen dürfte die Atmosphäre schon fast mit der Stimmung in Alcatraz vergleichbar sein.
Angestrengt tippe ich auf meinem iPad herum und vertiefe mich in den Text, den Chip in meinem Namen rundmailen musste, weil ich mit besagter Vertreterkonferenz beschäftigt war, an der ich – wie es im Moment aussieht – gar nicht mehr werde teilnehmen können.
Ich räuspere mich, drehe den Ring auf die Innenseite meines Fingers und balle die Faust, sodass ich das kalte Meerglas in meiner Handfläche spüre.
»Der Mond über Sutters Mill«, beginne ich und bemühe mich um einen möglichst professionellen, selbstsicheren Tonfall, »spielt auf zwei Zeitebenen. Die Geschichte hat aus meiner Sicht sehr spannende Alleinstellungsmerkmale. Da ist zum einen der Schauplatz: die berühmte Sägemühle in den Ausläufern der Sierra Nevada, wo 1848 Gold entdeckt wurde.« Ich atme tief durch, krame verzweifelt in meinem Gedächtnis nach dem einen oder anderen Detail zur Handlung, das Chip mir verraten hat, und überfliege seine Notizen. Hastig raffe ich zusammen, was die Zusammenfassung an Informationen hergibt, und werfe mit Fachbegriffen um mich wie eine Zauberkünstlerin, die ihr Publikum mit Taschenspielertricks zu beeindrucken versucht. Ich erzähle etwas von einer generationenübergreifenden Familienfehde, von gut gehüteten Geheimnissen, Skandalen und einer verbotenen Liebe à la Romeo und Julia.
»Doch wahrscheinlich«, lese ich schließlich direkt aus Chips Dokument vor, »ist das Interessanteste an dem Ganzen, dass es sich bei der Autorin, Mary B. Jespersen, um eine entfernte Nachfahrin der im Buch abgebildeten Familie Sutter handelt.«
Mein Blick in die Runde lässt mich nichts Gutes erahnen. Ich warte ein, zwei Augenblicke ab, auch wenn ich aus Erfahrung weiß, dass mir das nicht die Zeit verschafft, die ich brauche, um die mentale Erschöpfung, die mich gerade befällt, zu überspielen. Unglücklicherweise ist Zeit generell ein Luxus, der mir nur selten zur Verfügung steht.
»Ist das auch der Grund dafür, dass du in ihrer Biografie unter ›weitere Werke‹ keinerlei Einträge gemacht hast – weil sie einzig und allein mit ihrer Verbindung zu entfernten, lange verstorbenen Verwandten punkten kann?«
Leider finde ich auf die Schnelle nicht, wo Chip ihre Social Media-Kanäle vermerkt hat, und so, wie ich schon auf den ersten Seiten der meisten Romane vorhersehe, wie sie ausgehen, so genau weiß ich, was SaBrina als Nächstes von sich geben wird.
»Ingrid, wie ich bereits mehrfach betont habe, möchte ich so selten wie irgend möglich das Debüt einer unbekannten Person auf dem Markt platzieren müssen – viel zu viel Risiko für einen in den meisten Fällen viel zu geringen Gewinn. Fog Harbor Books ist nur an der Zusammenarbeit mit Schreibenden interessiert, die sich bereits eine Autorenmarke aufgebaut haben.« Sie lässt das theatralische Seufzen hören, das Chip genauso gerne nachäfft, wie er das B im Namen unserer Chefin überbetont. Schenkt man den Gerüchten Glauben, dann hat sie ihren Wechsel zu uns zum Anlass genommen, sich SaBrina zu schreiben – als ob sich mit einem zweiten Großbuchstaben im Namen auch die berufliche Durchschlagskraft erhöhen würde.
»Ein großer Autorenname bedeutet einen großen Leserkreis, was wiederum gleichzusetzen ist mit hohen Bestellzahlen, mit Sichtbarkeit, mit verkaufsfördernden Platzierungen auf Bestsellerlisten.« Ihr Blick fällt wieder auf mich. »Nicht die tolle Story sorgt für den Verkauf eines Buches, sondern der Bekanntheitsgrad der Person, die es geschrieben hat.«
Ich knirsche mit den Zähnen. In mir regt sich Widerspruch, der so heftig ist, dass er fast meine zusammengepressten Lippen sprengt. Vor gar nicht allzu langer Zeit hat Fog Harbor Books eine unbekannte Autorin publiziert, von deren Buch eine ganz bestimmte Lektorin restlos begeistert war. Und zwar so sehr, dass die ihre Karriere aufs Spiel gesetzt hat, als sie ihre Verlagsleitung bestürmte, dem Roman eine Chance zu geben. Doch das behalte ich für mich. Unter anderem deshalb, weil es immer noch weh tut, in der Vergangenheitsform über meine beste Freundin zu sprechen.
Hektisch versuche ich, mich zu erinnern, weshalb Chip so felsenfest überzeugt war, dass gerade Mrs Jespersens Roman ein großer Erfolg werden kann. Doch mir will nichts mehr einfallen. Also muss ich versuchen, mit dem, was ich über die ersten zwei Kapitel weiß, über die Runden zu kommen. »Mary Jespersens Schreibstil zeugt von Lebenserfahrung und hat eine gewisse Bissigkeit, die den Roman besonders macht. Sie hat ein herausragendes Gefühl für Ort und Zeit. Die Spannung, der Konflikt, in dem die Protagonisten stehen, entfaltet sich schon in den ersten Sätzen des jeweiligen Handlungsstrangs. Das ist in Romanen mit zwei Zeitebenen eher selten der Fall. Besonders beeindruckt hat mich die Gegenwartsebene. Auch die Figur der Urenkelin, der Protagonistin, die ja wirklich gelebt hat, und das Erbe, das sie ...«
»Noch mal, Ingrid – egal wie gut die Story sein mag, die du uns hier vorstellst, es ändert nichts an der Tatsache, dass Jespersen bisher keine Erfolge vorweisen kann.« SaBrina hebt genervt ihre perfekt gezupften Augenbrauen.
Mit einem Ruck schiebt sie ihren Stuhl zurück und erhebt sich, beneidenswert elegant in ihrem dunklen Bleistiftrock und den hochhackigen Schuhen. Während sie zu dem Regal mit den Bestsellern stolziert, spüre ich, wie mein Puls mit jedem Schritt, den sie tut, schneller wird.
Sie bleibt vor einer gerahmten Fotografie stehen, die ich ebenso gut kenne wie die Bücher, die sie zu beiden Seiten flankieren. Die Frau, die den Betrachter durch das Glas hindurch anlächelt, steht auf einer Bühne, die größer ist als alle Podien, die sie je zuvor betreten hat, und hält eine Urkunde in die Kamera, die sie als »Lektorin des Jahres« auszeichnet.
Als SaBrina ihren Blick wieder auf mich richtet, ist klar, dass sie »Finde den Unterschied!« spielen möchte, und zwar in Bezug auf die Ingrid, die als Lektorin des Jahres auf dem Foto posiert, und die, die seit jenem dunklen Tag im September kein einziges Manuskript mehr geliefert hat, das SaBrinas Zustimmung gefunden hat.
Meine Nerven beginnen zu flattern, als SaBrinas Hände die Nachtherz-Romane berühren. Aufreizend lässig tippt sie auf jeden einzelnen Titel dieser epischen Fantasy-Reihe. Scheinbar gedankenverloren hält sie inne und streicht mit ihrem Fingernagel über den Rücken des vierten Bandes, dessen offenes, unverschämt spannendes Ende in den Medien wie im Netz beinahe genauso heftige Reaktionen auslöste wie die Nachricht vom plötzlichen und tragischen Tod der Autorin.
Unwillkürlich muss ich an die Widmung denken, die Cece diesem Band vorangestellt hat.
Für Joel – möge dir diese Widmung als Erinnerungsstütze dienen, dass du mir immer noch den Brombeersaft schuldest, um den wir gewettet haben, bevor ich dich beim Wettrennen zum Leuchtturm geschlagen habe, liebster Cousin.
Es gibt eine Zeugin. Vergiss also nicht, deine Schulden zu begleichen.
Und auf einmal, einfach so, sehe ich die beiden vor mir und wir drei sind wieder zusammen – siebzehn Jahre alt und erfüllt von jenem sorglosen Leichtsinn Jugendlicher, den Erwachsene so fürchten. Der Seewind fährt durch unser Haar und lässt unsere Klamotten flattern. Wir strampeln auf unseren Rädern bis zum Fuß des Hügels und gehen ohne zu zögern in das Wettrennen zur Spitze der Felsklippen über. Cece und Joel liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, als Joel plötzlich die Bremse zieht und stehenbleibt. Im Nu ist Cece außer Sicht und lässt uns auf dem menschenleeren Strandweg zurück. Joel wendet, zwinkert mir kaum merklich über die Schulter zu und rollt wieder bergab, während ich ihm auf meinem gebraucht gekauften Rad hinterherholpere, dass der Rost nur so rieselt. Als ich ihn einhole, ist er immer noch völlig außer Atem. Sein Lächeln aber hat er nicht verloren und das raubt mir wiederum den Atem.
Kaum sind wir unten angelangt, greift er nach meinem Lenker und steuert unsere Räder näher aneinander. Sein Arm streift meinen. »Cece soll ihren Sieg ruhig auskosten. Es gibt nur einen Gewinn, der für mich zählt, und das sind ein paar Minuten allein mit dir.«
SaBrinas Stimme lässt das leise Kribbeln, das die Erinnerung geweckt hat, augenblicklich verschwinden und reißt mich zurück in diese Sitzung, in der ich sie für ein Buch zu begeistern versuche, das ich nie gelesen habe. Zurück in dieses Leben, in dem nichts mehr so ist, wie ich es mir wünschen würde.