Beas geflüsterte Worte, als sie mich zum Abschied umarmt hatte, klangen immer noch falsch. »Du wirst die Nächste sein.« Sie wusste genauso gut wie ich, dass ich seit über einem Jahr mit niemandem mehr ausgegangen war. Seit Mamas unerwartetem Tod und Dads Beinahe-Zusammenbruch.
Mama und ich waren nicht so gewesen wie die meisten Mütter und Töchter, die ich kannte. Mamas Welt hatte sich nicht um mich gedreht, sondern um meinen Bruder Emmett. Ich glaubte nicht, dass mich Mama absichtlich ausgeschlossen hatte. Neben ihrer alles verzehrenden Hingabe für Emmett und in ihrer Sorge um ihn war einfach kein Platz für mich gewesen. Selbst jetzt, ein Jahr nach ihrem plötzlichen Tod, sprach Emmett noch mit ihr, als säße sie direkt neben ihm. Dad sagte, trotz seiner siebzehn Jahre habe Emmett den Verstand eines fünfjährigen Kindes und könne die Bedeutung des Todes nicht begreifen. Vielleicht würde er das nie können. War das vielleicht sogar eine bessere Art zu leben als unter der schweren Decke der Trauer und Schuldgefühle, die ich jeden Tag mit mir herumschleppte?
Ich seufzte erneut und nahm den Roman zur Hand, den ich vor einer Stunde weggelegt hatte. Wer die Nachtigall stört war in aller Munde, aber mir gelang es nur schwer, Zugang zu der Geschichte zu finden. Dennoch war ich fest entschlossen, heute weiter als bis zu Kapitel fünf zu kommen.
Ich hatte bereits ein paar Seiten geschafft, als die Eingangstür des Hotels aufging. Die Nachmittagssonne spiegelte sich so stark auf dem Messing und Glas, dass ich den zurückkehrenden Gast nicht erkennen konnte. In der Gewissheit, dass er an mir vorbeigehen und auf die Fahrstühle zusteuern würde, las ich weiter. Da das Maxwell House inzwischen hauptsächlich von Dauergästen bewohnt und nicht mehr wie früher das Zentrum von Nashvilles sozialem und politischem Leben war, wurde die Rezeptionistin im Grunde nur gebraucht, wenn ein Gast eine klemmende Kommodenschublade nicht aufbekam oder eine Maus durch den Flur huschen sah.
Schritte bewegten sich durch die Lobby, gleichzeitig klingelte das Telefon auf dem Tresen. Ich nahm den Hörer ab, die größte körperliche Anstrengung seit heute Mittag.
»Hier ist Audrey Whitfield. Was kann ich für Sie tun?«
Am anderen Ende der Leitung kicherte unsere Telefonistin. »Audrey, hier ist Lucille.«
»Entschuldige. Ich dachte, es wäre ein Gast.«
»Mach dich bereit.« Ihre Stimme war ganz leise.
»Worauf?«
»Er steuert geradewegs auf dich zu«, flüsterte sie, dann legte sie auf.
Der Fremde kam bei der Rezeption an. Jetzt verstand ich Lucilles kurze Botschaft. Er sah unbeschreiblich attraktiv aus – als wäre er geradewegs dem Titelblatt eines Modekatalogs entstiegen.
»Hallo. Ich bin Jason Sumner. Ich habe ein Zimmer reserviert.«
Ich blinzelte. Dann runzelte ich die Stirn. Eine neue Reservierung? Warum hatte Dad das nicht erwähnt?
»Selbstverständlich, Mr Sumner.« Ich lächelte, als würde mich seine unerwartete Anwesenheit auf der anderen Seite des langen, polierten Tresens nicht völlig überrumpeln. »Warten Sie bitte einen kurzen Moment. Ich sehe nach, welches Zimmer für Sie vorbereitet ist.«
Ich eilte durch den schmalen Flur hinter der Rezeption zum Hotelbüro. Dad war unterwegs, um mit dem Sachbearbeiter vom Finanzamt irgendwelche Diskrepanzen zu klären. Er würde bestimmt nicht so schnell zurückkommen, deshalb musste ich in den Papieren auf dem Schreibtisch kramen, bis ich fand, was ich suchte: eine Rechnung, die in Dads unverkennbarer Handschrift mit dem Datum von vor drei Tagen versehen war und eine überraschende Reservierung für die nächsten vierzehn Tage enthielt.
Ich schnappte mir das Blatt und marschierte zur Rezeption zurück.
Dad hatte jedes Recht, neue Reservierungen anzunehmen, aber es wäre wirklich hilfreich, wenn er mich darüber informieren würde. Hatte er ein Zimmermädchen beauftragt, alles für Mr Sumners Ankunft vorzubereiten? Das bezweifelte ich.
In den letzten vierzehn Monaten hatte sich so vieles verändert, auch Dads Geschäftssinn und die Leidenschaft für seine Arbeit. Dazu kam, dass das Hotel mitten in unserer Trauerzeit verkauft worden war. Der neue Eigentümer, Mr Edwin, schien ein netter Mann zu sein und hatte Dad erlaubt, sich einige Zeit freizunehmen, aber vor ein paar Wochen hatte er ihm mitgeteilt, dass er im neuen Jahr größere Veränderungen plane. Er wolle das Hotel modernisieren und ihm neues Leben einhauchen, hatte er gesagt. Was das genau bedeutete, wussten wir nicht, aber ich spürte, dass mein Vater beunruhigt war.
Wie würden sich die Veränderungen auf die vielen Langzeitbewohner auswirken? Wie würden sie sich auf unsere Familie auswirken?
Ich bog um die Ecke und setzte ein Lächeln auf. »Hier habe ich Ihre Reservierung, Mr Sumner.«
Er verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen. »Gut. Ich dachte schon, es könnte ein Problem geben. Ich wollte schon immer einmal im Maxwell House wohnen.«
»Ich musste nur kurz nachschauen.« Während ich seinen Namen und seine Adresse ins Gästebuch eintrug, fiel mir auf, dass er in Charleston, South Carolina, wohnte. Sein relativ langer Aufenthalt in Nashville so kurz vor den Weihnachtsfeiertagen weckte meine Neugier, aber eine der obersten Regeln im Hotelservice, die mir Dad schon als Jugendliche eingebläut hatte, lautete: Stell keine Fragen!
In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich warf einen Blick zu Lucilles Büro, wo sie im Türrahmen stand und mir bedeutete, den Anruf entgegenzunehmen.
»Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Mr Summer nickte und betrachtete die kunstvoll geschnitzten Balus-traden, die den offenen Raum auf der Galerie umgaben und die Marmortreppe säumten.
Ich nahm ab und drehte Mr Sumner den Rücken zu. »Hier ist Audrey. Ich habe einen Gast.«
»Ich weiß. Ich störe dich wirklich nur ungern.« Lucilles neckender Tonfall von vorhin war verschwunden. »Mrs Ruth hat gerade angerufen. Emmett benimmt sich hysterisch. Er sagt, mit Miss Priscilla stimme etwas nicht.«
Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken. Die schrullige alte Dame hatte mich bei den seltenen Gelegenheiten, in denen ich Dad zu ihrer Suite begleitet hatte, immer ein wenig eingeschüchtert. Emmett, der auf jeden offen zuging, gehörte hingegen zu den wenigen Menschen, zu denen sie gern Kontakt hatte. Ich wusste nicht, wie alt sie genau war oder wie es um ihre Gesundheit stand, aber wenn mein Bruder aufgewühlt war, war das kein gutes Zeichen.
»Danke. Ich kümmere mich darum.«
Nashville, Tennessee
29. April 1897
»Meine Güte, Priscilla! Schau dir nur die vielen Leute an! So eine große Menschenmenge habe ich noch nie gesehen!«
Ich konnte Mutter über den ohrenbetäubenden Lärm der quietschenden Räder des Zuges hinweg kaum verstehen. Auf dem Bahnsteig vor unserem Waggon, der in den überfüllten Bahnhof einfuhr, herrschte lautes Stimmengewirr, und der Schaffner schrie praktisch, um uns auf das Offensichtliche hinzuweisen: Wir hatten unser Ziel, Nashville, Tennessee, erreicht.
Hunderte Fahrgäste strömten auf unzähligen Gleisen aus den Eisenbahnwaggons und waren alle aus demselben Grund hier: um die Tennessee Centennial Exposition zu besuchen, die in zwei Tagen zur Feier des hundertsten Bestehens des Bundesstaates Tennessee eröffnet werden würde.
Ich hielt die Hand an meine Stirn, um meine Augen gegen die Spätnachmittagssonne abzuschirmen, und verfolgte das Geschehen vor dem Fenster mit offenem Mund. Auch ich hatte noch nie zuvor so viele Menschen an einem Ort gesehen. Wie sollten wir Papa in diesem Gedränge finden? Er war schon Anfang der Woche mit dem Präsidenten und anderen führenden Vertretern der Eisenbahn nach Nashville gefahren, um sicherzustellen, dass ihr Ausstellungsgebäude auf dem Expo-Gelände für die Millionen Besucher, die im Laufe der nächsten sechs Monate durch die Tore strömen würden, bereit war.
Die Handvoll Fahrgäste in unserem Privatwaggon – Ehefrauen, Kinder und Freunde von wichtigen Eisenbahninvestoren – begannen, ihre Sachen einzupacken und auszusteigen.
»Priscilla, pass auf deine Handtasche auf. Ich dachte, es wäre eine kluge Entscheidung, unseren Schmuck selbst mitzunehmen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Schau dir das nur an! Dein Vater hätte doch sicher dafür sorgen können, dass wir an einer Stelle eintreffen, die nicht so öffentlich ist.«
Ich schmunzelte. Mutter war ein unverbesserlicher Snob. »Wir sind nicht wichtiger als irgendjemand von diesen Leuten da draußen.« Ich deutete auf die vielen Menschen auf dem Bahnsteig. »Sie sind hier, um Tennessees Geburtstag zu feiern, genau wie wir.«
Mutter bedachte mich mit einem langen, gequälten Seufzen. Dieses Seufzen hatte ich in den fünfundzwanzig Jahren meines Lebens als einzige Tochter von Cora und Eldridge Nichols schon sehr oft zu hören bekommen.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass dein Vater und dein Großvater einen wichtigen Beitrag zum Bau dieser Eisenbahn geleistet haben. Du musst mehr Stolz auf dein Erbe zeigen. Dein Vater ist immer noch verletzt, weil du uns ursprünglich nicht nach Nashville begleiten wolltest. Du hättest es verpasst, den Erfolg seiner ganzen Anstrengungen zu sehen, die Eisenbahnausstellung zu einer der großen Attraktionen auf der Expo zu machen.«
Ich wusste, dass es am besten war, den Mund zu halten, wenn Mutter sich genötigt sah, mir einen Vortrag zu halten.
Die Vorfreude auf die Jubiläumsfeier des Bundesstaats Tennessee – die genau genommen mit einem Jahr Verspätung gefeiert wurde – hatte in den letzten Monaten vor der Eröffnung am 1. Mai geradezu fieberhafte Ausmaße angenommen. Es war das einzige Gesprächsthema, über das alle redeten. Unzählige Male waren Papa und seine Geschäftspartner mit ihrem mit Flaggen geschmückten Sonderwaggon unterwegs gewesen. Die Leute waren von weither gekommen, um zu bejubeln, wie die Männer winkten und Reden hielten, in denen sie die Attraktionen der Ausstellung rühmten.
Trotzdem hatte ich keine Lust gehabt, herzukommen. Tennessee feierte zwar, dass es seit hundert Jahren ein Bundesstaat war, aber den Frauen, die hier wohnten, wurde nach wie vor das Recht verweigert, an den Wahlen für die Abgeordneten, die besagten Bundesstaat regierten, teilzunehmen. Dass die Hälfte der Bürger von Tennessee in ihren Rechten beschnitten wurde, war meiner Meinung nach kein Grund zu feiern.
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08.10.2024Kristina Ein Erinnerungsalbum erzählt eine spannende Geschichte
Nashville, 1961: Die junge Audrey Whitfield räumt das Zimmer einer langjährigen Bewohnerin des Maxwell House Hotels aus. Zwischen den Sachen entdeckt sie ein Album voller Erinnerungen an die Weltausstellung in Nashville im Jahr 1897. Beim vorsichtigen Ansehen löst sich eine nie abgeschickte Postkarte, die auf eine heimliche Liebesgeschichte schließen lässt. Doch was bedeuten die
Hinweise auf das unerklärliche Verschwinden junger Frauen" Gemeinsam mit Hotelgast Jason begibt sich Audrey auf Spurensuche....
Während Audrey und Jason sich mit der Weltausstellung beschäftigen, entfaltet sich in einem 2. Zeitstrahl die Geschichte einer anderen jungen Frau. Priscilla Nichols wohnte 1897 mit ihren Eltern einige Zeit im Maxwell House Hotel. Als einziges Kind wohlhabender Eltern ist ihre Zukunft vorgeplant, doch Priscilla kann sich eine Ehe mit Kenton Thornley nicht vorstellen. Sie glaubt an die wahre Liebe... In Nashville begegnet sie Luca Moretti, der als Kutscher für die Familie arbeitet, und seiner Schwester Gia. Gemeinsam mit dem charmanten Italiener entdeckt Priscilla die Sehenswürdigkeiten der Ausstellung. Doch schon einen Tag später ist etwas geschehen, dass alles für immer verändert...
„Jede Nacht hat ihre Sterne“ ist ein spannender historischer Roman. Beide Zeitstränge erzählen jeweils in der Ich-Form aus Sicht der weiblichen Hauptprotagonisten. So lernt man Audrey und Priscilla sehr gut kennen, erfährt ihre Gedanken und Gefühle und Hoffnungen. Ihre Entwicklung im Laufe des Romans hat mir sehr gut gefallen. Sie müssen manche Herausforderung meistern, wichtige Entscheidungen treffen, finden Halt im christlichen Glauben und besonders Priscilla, die am Ende ihres Lebens steht, ist über sich hinaus gewachsen und hat ihre Berufung gefunden.... Ich habe Priscilla, Luca und Gia ebenso wie Audrey, ihre Familie und Jason schnell ins Herz geschlossen und sie gern begleitet.
Sehr interessant war es in die Geschichte einzutauchen, die Zeit der Weltausstellung in Nashville zu entdecken, viel über das berühmte Maxwell House Hotel zu erfahren. Wie gern würde ich selbst in dem alten Erinnerungsalbum blättern, die Karten und Fotos betrachten.
Der Roman lässt sich sehr gut lesen und die Spannung erhöht sich im Laufe der Geschichte stark, so dass ich irgendwann das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Sehr gern empfehle ich das Buch weiter.
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09.09.2024Monika S.-W. Ein anrührender Roman, der tiefe Einblicke in das Leben der beschriebenen Menschen gibt. Besonders zum Nachdenken finde ich das Thema sozialer Unterschiede. Der Schein scheint oft zu trügen und man findet nette Leute oft da, wo man sie nicht vermutet. Das Verlorengehen von jungen Frauen ist auch ein Thema, das schwerwiegende Konsequenzen hat für alle Beteiligten. Schade ist nur,
dass meistens die Opfer den Schaden allein tragen und die Kriminellen davon zu kommen scheinen.
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