Ohio, 1875: Susanna Hanbys Zukunftspläne werden jäh durchkreuzt, als ihre Schwester Rachel samt sechs Kindern spurlos verschwindet. Mithilfe von ihrem Onkel Will und ihrer Tante Ann macht Susanna sich auf die Suche. Sie ist überzeugt: Ihr trunksüchtiger Schwager muss schuld sein an der Misere.
Doch als sich die Ereignisse überschlagen und die Hanbys in große Gefahr geraten, erkennt Susanna, dass sie ihre Vorurteile auf den Prüfstand stellen muss. Nicht zuletzt wegen Johann, dem charmanten Brauerei-Erben, der eine völlig unerwartete Lösung ihrer Probleme bietet.
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Kapitel 1
Ohio, 1875
Hohes Gras und Wildblumen versperrten ihr die Sicht. Susanna blieb inmitten der Wiese stehen. Sie hatte das unangenehme Gefühl, als beobachte sie jemand – doch außer ihr war an diesem heißen Junimorgen bestimmt niemand hier draußen.
Ganze Heerscharen von Margeriten lugten mit flachen gelben Augen aus der Graswand vor ihr. Die drückende Luft umhüllte sie von allen Seiten und die undurchdringliche Stille wurde nur vom Summen einer Wespe unterbrochen, die über Susannas Kopf schwirrte.
Ihre Schwester brauchte sie. Sie musste so schnell wie möglich das Farmhaus erreichen.
Susanna umfasste den Griff ihrer schweren Reisetasche mit beiden Händen und kämpfte sich durch das Gras, suchte nach alten Fußspuren, um in diesem Gestrüpp nicht vom Weg abzukommen. Unter der Bluse und dem Korsett floss der Schweiß über ihren Rücken. Der Unterrock hing schwer um ihre Beine. Am liebsten hätte Susanna ihre Locken aus dem Nacken geschüttelt und sich Luft zugefächelt, doch sie stapfte weiter. Immerhin hielt ihr Strohhut die Sonne etwas ab.
Die andauernde Hitze dieses Sommers wollte einfach nicht nachlassen, eine Hitze, die auf der Haut brannte wie Whiskey auf der Zunge. Susanna hatte einmal einen Schluck Whiskey probiert, weil ihr Vater es von ihr verlangt hatte. Er hatte gesagt, sie solle den widerlichen Geschmack kennenlernen, damit die Neugier sie niemals in Versuchung führen würde – obwohl sie ihm glaubhaft versichert hatte, dass das Trinken keinen Reiz auf sie ausübte. Der Whiskey hatte schon mehr als genug Übel angerichtet.
Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie war hier, um ihrer Schwester und ihren Nichten und Neffen Gesellschaft zu leisten und mit ihnen ein paar schöne Tage zu verbringen, bevor sie sich auf den Weg zum College nach Westerville machte.
In ihrer Tasche hatte sie eine Überraschung, die die Kleinen bestimmt stundenlang beschäftigen würde – Bögen um Bögen mit hauchdünnem Papier in sieben verschiedenen Farben. Damit würde sie den Kindern zeigen, wie man etwas Wunderbares entstehen lassen konnte, nämlich genaue Abbildungen der Blumen aus dem Botanikbuch. Susanna konnte es kaum erwarten zu sehen, wie die Freude über die bunten Basteleien die Sorgen aus den kleinen Gesichtern wischen würde, zumindest für die wenigen Tage, die sie bei ihnen war. Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Die Kinder würden sich mit leuchtenden Augen um sie versammeln und fragen, was denn in ihrer Tasche sei, denn sie wussten, dass ihre Tante immer eine Überraschung mitbrachte. Sie wünschte sich nur, sie könnte ihnen noch mehr geben.
Ein Schornstein ragte über das Gras, das sich endlich zu einer Lichtung öffnete. Das Haus, in dem ihre Schwester mit ihrer Familie lebte, kauerte vor ihr, die weiße Farbe blätterte von den Holzwänden. Rostige Arbeitsgeräte lehnten an den Wänden und auf den umliegenden Feldern wuchs nur etwas welkender Mais. Doch diese Vernachlässigungen konnte man Rachel nicht vorwerfen. Mit einem faulen Ehemann und sechs hungrigen kleinen Mäulern konnte Rachel sich nicht auch noch um die Bewirtschaftung der Felder kümmern.
Susanna eilte weiter. Ihre Schultern schmerzten vom Gewicht der Reisetasche.
Warum kamen die Kinder noch nicht herbei, um sie zu begrüßen? Zumindest Clara und Wesley hatte sie draußen bei der Arbeit erwartet, auch wenn Rachel die kleineren Kinder bei dieser Hitze vermutlich im Haus lassen würde.
Susanna blieb stehen. Etwas war mit den Beeten geschehen. Die Blumen lagen zertrampelt und braun auf der Erde neben dem Haus. In Susannas Hals formte sich ein Kloß – Rachel musste untröstlich sein. Die einzige Farbe und das winzige bisschen Luxus im Haus waren durch die Blumen eingezogen, die Rachel so unendlich geduldig gegossen und gepflegt hatte. Und jetzt waren sie alle vertrocknet.
Susanna stellte ihr Gepäck auf der untersten Stufe der Veranda ab, stieg die Treppe hinauf und klopfte. Aber keine Antwort. Zaghaft legte sie die Hand auf den Knauf und öffnete die knarzende Tür.
„Rachel?“ Susannas Ruf sank in eine gespenstische Stille hinein. In ihrem Magen entstand ein seltsames Gefühl der Leere. Nur zögernd ließ sie den Türknauf los, während sie einen Schritt über die Schwelle setzte. Das kleine Wohnzimmer mit seinen abgenutzten Möbeln war leer.
Mit wenigen Schritten hatte sie das kleine Zimmer durchquert, lief durch den dunklen Flur und schob die Tür zum Schlafzimmer auf. Auch hier war niemand. Die Bettwäsche war zerwühlt, der Quilt lag auf dem Boden und die Kinderwiege war leer. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Susannas Herz klopfte rasend schnell und ihr Atem beschleunigte sich.
Nein, sie durfte nicht in Panik ausbrechen. Vielleicht waren die Kinder oben und kümmerten sich um Rachel. In ihrem letzten Brief hatte ihre Schwester geschrieben, dass sie leichtes Fieber hatte. Wenn sie immer noch krank war, würden sich Clara und Wesley um sie kümmern, denn ihr Vater wäre mit Sicherheit keine große Hilfe.
Die abgestandene, modrig warme Luft im Haus verursachte Übelkeit bei Susanna, doch sie stieg trotzdem die schmale Treppe hinauf. Hier gab es zwei Kinderzimmer: eins für die zwei älteren Jungs und eins für die drei Mädchen.
„Clara?“, fragte sie in die Stille hinein.
Beide Zimmertüren standen offen und es strömte ein unangenehmer Geruch heraus. Susanna spürte ein eiskaltes Ziehen in ihrer Brust. Sie zog ein Taschentuch hervor und wappnete sich, um hinter die Tür zu blicken. Es war viel zu still hier. Sie presste sich das Tuch an die Nase und trat entschlossen vor.
Das Zimmer war vollkommen durchwühlt, aber verlassen. Der scheußliche Gestank kam von benutzten Windeln, die auf dem Boden lagen. Fliegen krabbelten darauf herum. Eine alte Decke lag wie ein unordentlicher Haufen auf dem Bett, als hätten die Kinder damit gespielt. Das alles sah Rachel überhaupt nicht ähnlich. So schwer ihre Lebensumstände auch sein mochten, hatte sie ihr Heim doch immer sauber und ordentlich gehalten. Susanna versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war wie ausgetrocknet.
Das Zimmer der Jungs war gleichermaßen verlassen und die Bettdecken ebenso unordentlich. Aus der alten Kommode war eine Schublade gezogen worden, die nun auf dem Boden lag.
Susanna eilte nach unten; ihre Absätze trommelten auf die Dielen. Sie musste so schnell wie möglich zurück in die Stadt und herausfinden, ob jemand etwas über den Verbleib von Rachel Leeds, George Leeds und ihren Kinder wusste. Sie würde jetzt nicht den Kopf verlieren, sie würde ruhig bleiben, ermahnte sie sich selbst. Doch dazu musste sie das Treppengeländer sehr fest umklammern.
Sie sollte ihrer Schwester eine Nachricht hinterlassen, falls sie noch einmal hierherkommen würde. Ein einfacher Schreibtisch stand an der Wohnzimmerwand. Susanna durchsuchte die Schubladen. Es gab nur einige Papierfetzen, doch das würde ausreichen. Keine Tinte – vielleicht gab es einen Bleistift. Sie öffnete die zweite Schublade.
„Was tust du hier?“
Susanna zuckte zusammen und wirbelte herum.
George stand in der Tür; der Gestank von Alkohol wehte bis zu ihr herüber. Er trug keine Krawatte und sein Hemd und die Weste waren schmutzig und zerknittert. Sein ungepflegter Schnurrbart ging in den struppigen Backenbart über. Susanna konnte sich kaum noch daran erinnern, dass er vor einigen Jahren ein gut aussehender, hart arbeitender Farmer gewesen war, der um ihre fröhliche Schwester geworben und ihr Herz erobert hatte. Doch nun war Rachel schon lange nicht mehr fröhlich. Seinetwegen.
„Wo sind Rachel und die Kinder?“ Ihre Stimme wollte ihr kaum gehorchen.
„Weg.“
Sie musterte ihren Schwager prüfend. Hatte Rachel ihn tatsächlich verlassen? Aber wohin sollte sie mit all ihren Kindern gehen?
Er starrte zurück. „Sie ist weg. Mit einem anderen Mann.“
„Das kann nicht sein. Sie war krank, das hat sie mir geschrieben.“
„Vielleicht hatte sie Gehirnfieber, vielleicht ist das ihre Ausrede.“ George Leeds Mund verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. „Aber sie war nicht zu krank, um den Zug zu nehmen.“
Rachel. Susannas Herz zog sich zusammen. „Wo sind die Kinder?“
„Die hat sie dem Staat übergeben.“
„Dem Staat?“, wiederholte sie fassungslos.
„Dem Waisenhaus.“
„Aber warum sollte sie das tun?“
„Vielleicht wollte sie die Blagen nicht bei sich haben, wenn sie mit dem anderen Kerl ein neues Leben anfängt. Und ich kann mich bestimmt nicht um sie kümmern. Jetzt sind sie mutterlos.“
„Aber sie sind nicht vaterlos. Du lässt deine Kinder ins Waisenhaus gehen?“ Susannas Hände fingen an zu zittern und sie versteckte sie hinter dem Rücken.
„Sie hat mich nicht gefragt. Sie hat mir einfach einen Zettel dagelassen. Aber jetzt ist es vorbei, ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Und du brauchst gar nicht mit mir zu diskutieren, Susanna Hanby. Du und deine Schwester, ihr glaubt, ihr könnt mit eurem Aussehen alles erreichen. Ihr Hanbys haltet euch doch sowieso für was Besseres! Ich könnte dich mit einer Hand hochheben, wie ich es mit deiner Schwester getan habe. Naja, du siehst ja, was aus Weibern wie ihr wird – eine Ehebrecherin.“
Er war ein Lügner. Rachel war niemals eingebildet gewesen, auch wenn sie wunderschön war – vielmehr gewesen war. Susannas Nägel gruben sich schmerzhaft in ihre Handflächen. Am liebsten hätte sie George ins Gesicht geschlagen.
„In welchem Waisenhaus sind sie?“
„Keine Ahnung. Irgendeins in Columbus. Wie sollte ich mich um die Rotznasen kümmern? Und dann auch noch ein Baby? Die brauchen eine Frau.“
„Nein, nur einen nüchternen, anständigen Mann!“ Susanna schob sich an ihm vorbei zur Tür hinaus und taumelte die Treppe hinunter. Alle sechs Kinder waren verschwunden. Und was konnte sie schon tun, wenn Rachel sie tatsächlich dem Staat übertragen hatte und George sie nicht zurückhaben wollte?
Sie griff sich ihre Tasche, raffte ihre Röcke und lief davon, so schnell sie konnte. Das konnte einfach nicht wahr sein. Rachel würde so etwas Grauenhaftes nicht tun. Vielleicht war es ja George gewesen, der die Kinder weggegeben hatte.
Doch warum sollte er lügen?
Es sei denn, er hatte Rachel etwas angetan.
Nein, an so etwas durfte sie gar nicht erst denken; sonst würde sie es nicht bis zum Bahnhof schaffen. Bestimmt war schon ein Brief von Rachel an sie unterwegs. Ihre Schwester würde ihr schreiben, was geschehen war, und alles aufklären.
Susanna dachte an Georges alkoholgeschwängerten Atem und an seine Unmenschlichkeit und Gleichgültigkeit seinen Kindern gegenüber. Wut flackerte in ihr auf – sie schloss die Augen, atmete tief durch und ließ ihren Zorn weiterlodern. Sie würde die Kinder finden. Sie durften nicht voneinander getrennt und fremden Familien übergeben werden, wo sie vielleicht nicht geliebt und schlecht behandelt wurden.
Sie hatte Rachel von Anfang an vor George gewarnt, genau wie ihre Eltern. Wenn Rachel nur auf ihre Familie gehört und den Antrag von George Leeds abgelehnt hätte, wäre das alles nicht geschehen. Natürlich hatte George damals, als sie ihn kennengelernt hatte, noch nicht Tag und Nacht getrunken. Er war ein fröhlicher, fleißiger Farmer gewesen, der am Wochenende leider nur zu gerne in den Saloon gegangen war. Ihre Eltern und Susanna hatten Rachel vor der Zukunft gewarnt, aber sie hatte ihre Bedenken beiseitegewischt.
Susanna konnte nicht schlecht von ihrer Schwester denken, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatte. Und bestimmt nicht jetzt, wo Rachel verschwunden war.
Sie schüttelte das Zittern aus ihren Armen und Beinen und ging weiter. Sollte sie nach Hause zurückkehren und ihren Eltern erzählen, was passiert war, damit sie die Kinder zu sich holten?
Aber wie sie das bewerkstelligen sollten, konnte sich Susanna beim besten Willen nicht vorstellen. Die letzten Ersparnisse ihrer Familie wurden für das Schulgeld gebraucht, das Susanna für das College in Westerville benötigte – Geld, das zu einem festen Bündel gerollt in ihrer Handtasche versteckt war. Ihre Eltern wurden alt und konnten sich von dem kleinen Stück Land und der Kuh und den paar Hühnern gerade mühsam ernähren. Sie war eine Hanby; deshalb schickten ihre Eltern sie ans Otterbein-College, wo alle Hanbys ihren Abschluss gemacht hatten.
Nein, Susanna durfte nicht zurückgehen – sie musste ihre Reise wie geplant fortsetzen. Westerville war nur wenige Bahnstationen entfernt. Ihr Onkel Will und ihre Tante Ann waren wohlhabender als ihre Eltern, nicht wahr? Vielleicht konnten sie sogar die anderen Verwandten überreden, Rachel und ihren Kindern zu helfen, auch wenn diese Verwandten mittlerweile über das ganze Land und sogar im Ausland verstreut lebten.
Susanna stolperte über eine Wurzel und klammerte sich an ihre Tasche, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. George Leeds war einmal ein guter Mann gewesen, bevor der Whiskey ihn ruiniert hatte. Dieser grässliche Whiskey! Am liebsten hätte sie alle Fässer dieser Welt verbrannt.
Die Hitze machte sie benommen. Ich werde nicht ohnmächtig. Ihre Bluse war klatschnass und Schweiß strömte ihr übers Gesicht, als würde ihr ganzer Körper über das Schicksal ihrer kleinen Nichten und Neffen weinen.
Onkel Will würde seine Großnichten und -neffen nicht im Stich lassen. Und wenn er seinen letzten Dollar für sie geben müsste – er würde es tun.
Vor ihr wurde ein Dach sichtbar, von dem Licht widerspiegelte. Susanna hatte den Bahnhof fast erreicht.
Ihre Nichten waren noch so klein ... Della und Annabeth. Und Jesse war ein Baby. Er würde sich nicht einmal an seine Mutter oder seine Familie erinnern können, wenn man ihn weggab.
Wo war ihre Schwester nur? Susanna ließ ihre Tasche mit einem dumpfen Schlag fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Am liebsten hätte sie nur noch geweint, doch sie musste sich zusammenreißen. Tränen halfen jetzt nicht weiter.
Sie konnte nichts erreichen, bis sie es nicht endlich wieder zurück in die Zivilisation geschafft hatte. Susanna atmete tief durch, nahm ihre Tasche wieder auf und ging weiter, fixierte das Dach der kleinen Bahnstation. Sie würde Rachel und die Kinder nicht im Stich lassen.
Rosslyn Elliott
Rosslyn Elliott studierte Literatur- und Theaterwissenschaften an der Yale University. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt sie im Süden der USA.
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