Maine 1892: Esperanza Estrada träumt davon, mehr aus ihrem Leben zu machen. Seit Jahren sehnt sie sich nach höherer Bildung und schwärmt für den Erben des örtlichen Sägewerks. Doch die Einwanderertochter ist auf der falschen Seite der Stadt aufgewachsen. Früh musste sie die Schule verlassen, um sich um ihre zehn jüngeren Geschwister zu kümmern, und so arbeitet sie nun in einer Konservenfabrik.
Als sie die Gelegenheit erhält, als Haushaltshilfe bei den wohlhabenden Stocktons anzufangen, ist Espy überglücklich. Denn Mr Stockton ist Professor an der örtlichen Schulakademie und sie darf sich nicht nur seine Bücher ausleihen, sondern er gibt ihr sogar Privatunterricht. Mit einem Mal scheint ihr Ziel zum Greifen nah – zumal der Mann ihrer Träume endlich Notiz von ihr nimmt. Doch dann macht ein böses Gerücht die Runde ...
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1. Kapitel
Holliston, Maine, Juni 1892
„Warum bist du so in Gedanken vertieft, Brenty?“
Espy Estrada trat hinter dem dicken Stamm einer Ulme hervor und versperrte Warren Brentwood den Weg.
Er blieb wie angewurzelt stehen. Es war ihm unangenehm, dass er sich erschrocken hatte, und dann ärgerte er sich darüber, dass es ihm unangenehm war, und so nickte er nur kurz. „Hallo, Esperanza.“
„Selber hallo, Warren.“ Sie stemmte eine schmale Hand in die Hüfte und schob eine Schulter vor. Ihre Augen, die von dichten Wimpern umrahmt wurden und deren Farbe irgendwo zwischen Bernstein und Braun changierte, funkelten belustigt.
Durch die hohen Ulmen, die über die Straße hinausragten, warf die Sonne Schattenflecken auf ihren ebenmäßigen Teint.
„Was ist los? Hast du deine Zunge verschluckt?“
Sie zog die Mundwinkel nach oben, als wüsste sie ganz genau, wie verwirrend ihr Lächeln war, und als hätte sie vor, dieses Wissen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Da Espy in den Slums am Stadtrand von Holliston aufgewachsen war, hätte Warren erwartet, dass sie inzwischen den einen oder anderen Zahn verloren hätte, aber ihre Zähne waren strahlend weiß. Umgeben von ihrer braunen Haut leuchteten sie nur noch mehr.
„Wo kommst du denn her?“
„Ich war die ganze Zeit hier. Du warst ja mit den Gedanken meilenweit fort. Woran hast du denn gedacht?“
Warren schluckte und widerstand dem Drang, einen Schritt von Espy zurückzuweichen. In letzter Zeit schienen ihre Wege sich oft zu kreuzen. Seit er vor einigen Wochen nach Holliston zurückgekehrt war, fiel ihm jedes Mal, wenn er ihr über den Weg lief – oder sie ihm – auf, was für eine ansehnliche junge Frau aus dem barfüßigen Mädchen geworden war, das in seinem ausgeblichenen Kattunkleid in der ersten Reihe des Schulhauses gesessen hatte, in das sie beide früher gegangen waren.
Anstatt ihre Frage zu beantworten, stellte er selbst eine. „Was machst du denn in der Elm Street?“ Immerhin war diese Straße ein ganzes Stück von ihrem Stadtviertel entfernt.
Wenn seine spitze Frage sie aus der Fassung brachte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie schob die Unterlippe ein wenig vor und sah ihn aus großen, tief liegenden Augen an.
„Ich habe hier heute Nachmittag eine Ver-ab-re-dung.“ Sie betonte die einzelnen Silben, als wollte sie die Bedeutung des Ereignisses unterstreichen.
„Wirklich?“ Er konnte die Überraschung in seiner Stimme nicht verbergen.
Espy nickte und warf ihm einen kecken Blick zu. Ihr goldfarbener Teint verriet die portugiesische Herkunft väterlicherseits und hob sich deutlich von der modischen Blässe der Frauen ab, die er sonst kannte. Aber er passte gut zu ihren Haaren, die zu einem lockeren Knoten hochgesteckt waren, aus dem Ranken wie glänzende Schlangen über ihren Hals krochen. Ihre Strohhaube war zurückgerutscht und wurde nur noch von dem Band über Espys Schlüsselbein gehalten.
Warren sah, dass ihre Kleidung sich nicht sehr verändert hatte, aber das, was sich darin befand, hatte sich ganz eindeutig verändert. Hastig wandte er den Blick ab, weil die Richtung, in die seine Gedanken wanderten, ihn beunruhigte.
Mit einem kurzen Nicken machte er Anstalten, an ihr vorbeizugehen. „Wenn du mich entschuldigst, Esperanza … ich war gerade auf dem Weg zurück ins Büro.“
„Es gefällt mir, wenn du mich Esperanza nennst. Irgendwie klingt das so steif und spießig. Ist das die Stimme, mit der du den ganzen Tag im Büro sprichst, wenn du in der Mühle hinter deinem großen Schreibtisch sitzt?“
Warren starrte sie an und fragte sich, was sie meinte. Bevor ihm eine passende Entgegnung in den Sinn kam, fiel sie mit ihm in Gleichschritt. Ihre bloßen Arme schlenkerten munter vor und zurück. Er konnte es sich nicht verkneifen, kurz die Straße hinaufzuspähen, um zu sehen, ob jemand in der Nähe war.
Was für ein merkwürdiges Paar sie abgeben mussten; er in seinem Anzug – „spießig“ hatte sie ihn genannt – und sie … erneut musterte er ihre Silhouette. Espy trug einen dunkelblauen Baumwollrock und eine karierte, kurzärmlige Bluse. Als sein Blick zu Boden wanderte, stellte er überrascht fest, dass sie nicht barfuß war, sondern unter dem Saum ihres Rocks staubige Stiefeletten hervorlugten. Als Mädchen war sie im Sommer immer barfuß herumgelaufen.
„Willst du nicht wissen, wohin ich gehe?“
Er ging schneller, um zu zeigen, dass er weder Zeit noch Neigung hatte herumzustehen und Konversation zu betreiben. Doch anstatt mit einem eindeutigen „Nein“ zu antworten und sie ein für alle Mal loszuwerden, ertappte er sich dabei, wie er sagte: „Wohin gehst du denn?“
„Zu den Stocktons.“
Warren riss die Augen auf. George Stockton war Professor an der örtlichen Schulakademie.
„Ja, genau.“ Sie faltete die Hände auf dem Rücken. Aus dem dürren, schlecht ernährt aussehenden Mädchen von etwa acht Jahren war eine große, gertenschlanke Frau geworden.
Er spürte, wie die Röte seinen Hals hinaufkroch.
„Mrs Stockton stellt mich vielleicht ein“, fuhr sie fort.
„Ich verstehe.“ Natürlich, eine Stellung als Dienstmädchen.
„Was soll das heißen: ‚Ich verstehe‘?“ Espy ahmte seinen Tonfall nach.
Hatte er wirklich so überheblich geklungen? Nach dem „steif und spießig“ traf ihn das Nachäffen doch ein wenig.
„Das heißt, dass ich angenommen habe, dass Mrs Stockton dich als Haushaltshilfe einstellen könnte.“
Das Funkeln in ihren Augen erlosch und ihre Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Warren wandte den Blick ab und zwang sich, nur darauf zu achten, was sie sagte.
„Ich habe neulich gehört, wie Mrs Stockton in Watts Bekleidungsgeschäft mit Mrs Ellison gesprochen und ihr erzählt hat, Annie hätte sie verlassen und sie bräuchte ein neues Mädchen, das ihr beim Putzen und den gröberen Arbeiten hilft.“ Jetzt lächelte sie wieder. „Also werde ich meine Arbeit in der Konservenfabrik kündigen und für die Stocktons arbeiten. Mrs Stockton sagte, ich könnte die Bibliothek ihres Mannes abstauben.“
Der Professor unterrichtete Geschichte und hatte eine gut gefüllte Bibliothek. Warren hatte sich in seiner Schulzeit so manches Buch von ihm ausgeliehen. „Da dürftest du eine Weile zu tun haben.“
„Vielleicht darf ich ja welche von seinen Büchern lesen.“
Warren zog seine Augenbrauen fast unmerklich hoch. „Liest du gerne?“ Espy war in der Grundschule einige Jahre unter ihm gewesen, also hatte er nicht viel von ihr mitbekommen. Und als er auf die weiterführende Schule gekommen war, hatten ihre Welten sich nicht länger überschnitten.
„Ich lese für mein Leben gern! Aber ich bekomme nicht so oft Bücher in die Hand. Das ist einer der Gründe, warum ich für die Stocktons arbeiten möchte.“
Wenn er sich recht entsann, war Espy in der Grundschule eine intelligente Schülerin gewesen. Warren runzelte die Stirn. „Zahlt die Konservenfabrik nicht besser?“
„Ja, aber die Bezahlung ist nicht alles.“
Dass sie das sagte, stimmte ihn nachdenklich. „Ich dachte, das Geld, das du von der Arbeit nach Hause bringst, hilft deiner Mutter. Hast du nicht einige Geschwister, die noch zur Schule gehen?“
Er hatte sich die ganzen Estradas nie merken können. Jeden Herbst schien ein neues Familienmitglied in die Schule zu kommen, und die jüngeren liefen hinter den älteren her.
„Sechs gehen in die Schule, Alvaro und Angela sind fertig, und die zwei jüngsten sind noch zu Hause.“
Warrens Kopf drehte sich von der Aufzählung. „Wie viele seid ihr insgesamt?“
Sie hob keck das Kinn. „Elf.“
Er überlegte, was er sagen sollte. „Was machen denn die älteren im Moment?“
„Angela arbeitet auch in der Konservenfabrik. Weil wir in unterschiedlichen Schichten arbeiten, können sie, Mama und ich uns um die Kleinen kümmern. Alvaro sucht gerade eine Arbeit.“ Espy warf ihm einen hoffnungsvollen Blick zu. „Vielleicht könnte er ja in eurem Sägewerk arbeiten.“
Warren nickte, aber er verlor das Interesse. Die meisten gesunden jungen Männer arbeiteten irgendwann im Sägewerk, wenn sie keine Fischer waren. „Klar, sag ihm, er soll sich bewerben.“
„Ich dachte, du könntest vielleicht ein gutes Wort für ihn einlegen, weißt du, weil dein Vater dir doch jetzt die Leitung übergeben hat.“
„Mal sehen.“ Warren holte seine Uhr heraus und warf einen Blick darauf. Sein Vater war sehr pedantisch, was Pünktlichkeit betraf. „Also, Esperanza, jetzt muss ich aber wirklich los.“
„Wieso hast du es denn so eilig?“ Sie zupfte an dem Band ihrer Haube, sodass seine Aufmerksamkeit auf ihr Schlüsselbein gelenkt wurde. „Du scheinst es immer schrecklich eilig zu haben.“
Allmählich wurde Warren ärgerlich. „Hast du nicht eine Verabredung? Ich könnte mir vorstellen, dass du Mrs Stockton nicht warten lassen willst.“
Esperanza zuckte mit den Schultern. „Mrs Stockton sagte, ich solle irgendwann heute Nachmittag vorbeikommen.“
„Ich hingegen muss um eins wieder im Büro sein, und wenn es nicht etwas ganz Bestimmtes gibt, weswegen du mich sehen wolltest“ – er lupfte seinen Hut ein wenig und setzte ihn dann wieder auf, so wie er es Hunderte Male bei seinem Vater gesehen hatte, wenn dieser eine Begegnung abkürzen wollte, ohne unhöflich zu erscheinen, und auch sein Tonfall klang so wie der seines Vaters, als er dessen Worte nachplapperte – „dann sage ich Auf Wiedersehen.“
Bevor er zu Ende gesprochen hatte, lächelte Espy. „In Ordnung. Wir können zusammen gehen.“
„Wie du willst.“ Seine Worte klangen kurz angebunden.
Espy war glücklich, dass sie einige Minuten in Warren Brentwoods Gegenwart verbringen konnte. Während sie gemeinsam die Straße hinuntergingen, plauderte sie über die Menschen in Holliston und darüber, was sich alles ereignet hatte, während er fort gewesen war.
An der Kurve vor der Brücke blieb Espy stehen und lächelte Warren an. „Vielleicht laufen wir uns ja morgen wieder über den Weg.“
„Vielleicht.“ Er tippte sich kurz an die Hutkrempe und verließ sie mit langen Schritten, die ihn in Richtung Brücke trugen.
Seine kurze Antwort war weder Ermutigung noch Entmutigung. Sie würde damit zufrieden sein müssen, dass er nicht Nein gesagt hatte.
Espy beobachtete Warren noch einige Augenblicke, während er auf der überdachten Brücke verschwand, die über diesen Abschnitt des Flusses führte. Wenn Warren Brentwood sich überhaupt verändert hatte, dann war er noch attraktiver geworden, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn immer aus der Ferne bewundert, den Schulhelden, dessen sportliche Errungenschaften ebenso beeindruckend waren wie seine schulischen Leistungen und ihn zum meist gepriesenen Schüler des Ortes machten.
Sie selbst war natürlich nicht bis zur Highschool gekommen. Ungefähr zu dem Zeitpunkt hatte ihr Vater seine Verletzung erlitten und als ältestes Kind hatte Espy in der Konservenfabrik anfangen müssen, um Geld zu verdienen.
Aber sie hatte Warren auf dem Spielfeld beobachtet und in der Holliston News über ihn gelesen.
Seine Jahre im College hatten seine breiten Schultern nur noch breiter werden lassen und das Grün seiner Augen war jetzt noch intensiver. Er hatte gewonnen an … Espy suchte in Gedanken nach einem angemessenen Wort, fand aber keines. Jedenfalls erschien er ihr mehr Mann zu sein als die anderen Männer seines Alters in dieser Stadt. Ihre Mutter würde sagen: „Er ist ein Sahnebonbon.“
Doch Espy wusste, dass Warren Brentwood mehr zu bieten hatte als nur ein attraktives Äußeres. Er trug nicht nur einen klugen Kopf auf den Schultern, sondern hatte auch ein Herz. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie freundlich er in der Grundschule jüngeren Kindern gegenüber gewesen war. Und da er ein geborener Anführer war, waren andere seinem guten Beispiel gefolgt. Hinzu kam, dass er kein Schwächling war: Er hatte jeden Jungen verprügelt, der es gewagt hatte, ein Mädchen oder ein kleineres Kind zu ärgern.
Aber seit seiner Rückkehr hatte Warren sich jedes Mal entweder äußert reserviert verhalten oder er war in Eile gewesen, wenn sie ihm begegnet war. Hatten die Zeit auf dem teuren Privatcollege und zwei Jahre Reisen in alle Teile der Welt ihn etwa in eine Kopie seines Vaters verwandelt? Sie hoffte nicht.
Espy spielte mit dem Band ihrer Haube und fragte sich, welche Erinnerung Warren an sie hatte. Ein dürres, kleines Mädchen mit Zöpfen? Wie auch immer, sie gedachte dafür zu sorgen, dass Warren Brentwood bemerkte, wie sehr sie sich in den vergangenen Jahren verändert hatte.
Mit einem zufriedenen Nicken strich sie ihren Rock glatt. Sie hatte dieses Mädchen weit hinter sich gelassen. Doch in ihrem Magen bildete sich ein flaues Gefühl des Zweifels. Konnte Warren die hübsche Frau hinter der verschlissenen Arbeitskleidung überhaupt sehen? Sie war hübscher als die meisten anderen Mädchen, die sie kannte. Espy schalt sich für diesen Gedanken. Vergib mir meine Eitelkeit, Herr, aber ich weiß, dass es stimmt. Ich hoffe nur, Warren merkt es. Da sie weder Geld noch eine Ausbildung hatte, gehörte ihr Aussehen zu ihren wenigen Vorzügen, und sie wusste, dass sie es gut nutzen musste, solange sie konnte.
Als Espy bewusst wurde, dass sie seit Minuten an derselben Stelle stand und auf die leere Straße starrte, zuckte sie zusammen. Wenn sie nicht zu ihrer Verabredung ginge, würde sie die Stelle nie bekommen, und dann würde sie Warren Brentwood garantiert nicht mehr über den Weg laufen.
Rasch fuhr sie sich über die Haare und wandte ihre Aufmerksamkeit dann dem weißen Herrenhaus zu, das sich hinter dem Streifen mit leuchtend grünem, ordentlich geschnittenem Rasen erhob. Nirgendwo war ein Löwenzahnblatt zu sehen, fiel ihr auf, als sie das Grundstück mit ihrem eigenen Vorgarten verglich.
Während sie sich dem Lattenzaun näherte, schnürte Espy noch einmal ihre Schürze fester und murmelte ein letztes Stoßgebet. Du weißt, wie gerne ich diese Arbeit hätte, Gott. Dann holte sie tief Luft und als sie den Haken des weißen Gartentors öffnete, fühlte sie sich wie Scheherazade auf dem Weg zum König in dem zerfledderten Exemplar von Tausendundeiner Nacht, das sie in der Schule gelesen hatte.
Das Tor öffnete sich lautlos. Mit zitternden Fingern schloss Espy es hinter sich, bevor sie den gepflasterten Weg zur Haustür hinaufging. Glänzende schwarze rechteckige Läden umgaben jedes der acht Fenster des ebenso rechteckigen weiß verkleideten Hauses. Die Blumen in den Kästen vor den Fenstern, leuchtend bunte Petunien und üppige Geranien, waren die einzigen nicht geometrischen Formen und wirkten wie Farbkleckser auf einer weißen Leinwand.
Das Haus war früher der Wohnsitz eines Kapitäns gewesen, erbaut auf der Klippe oberhalb des Flusses. Seit einigen Jahren wohnten der Professor und seine Frau darin. Als sie vor der schwarzen Tür stand, holte Espy tief Luft und streckte dann die Hand nach dem Messingtürklopfer aus. Mit einem dumpfen Schlag ließ sie ihn fallen. Nach einigen Augenblicken fragte sie sich, ob sie ein zweites Mal klopfen sollte.
Bevor sie sich entscheiden konnte, ging die Tür auf und Mrs Stockton erschien höchstpersönlich in dem dämmrigen Hausflur. Sie war eine Frau mittleren Alters, mittlerer Größe und mittlerer Figur, und ihr unauffälliges braunes Haar war zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden. Sie lächelte Espy an. „Da bist du ja. Ich habe dich schon erwartet. Komm herein.“
Espy nickte. „Danke, Mrs Stockton. Ich bin gleich gekommen, nachdem ich zu Hause das Geschirr vom Mittagessen abgewaschen hatte.“
„Ich verstehe. Aber nun komm erst einmal aus der Sonne. Es ist furchtbar heiß heute, nicht wahr? Gut, dass wir am Fluss leben. Hier drinnen wird es nie zu heiß, weil immer eine Brise durch die Veranda hinter dem Haus hereinweht.“
Espy trat ein und genoss die Kühle. Dieses alte Haus mit seinen breiten, unebenen Fußbodendielen und den weichen Teppichen darauf strahlte eine wundervolle Ruhe und Eleganz aus. Ein Blumenstrauß stand in einem glänzenden Kupferkrug am Eingang. Keine Wildblumen, wie sie sie pflückte, sondern gezüchtete Blumen aus dem Garten.
Espy folgte Mrs Stockton den Flur hinunter, der das Haus in der Mitte teilte, und erblickte eine hohe Standuhr mit einem Pendel und Gewichten aus Messing, dunkle Holzschränke, Tische mit ungewöhnlichen Gegenständen darauf und in Gold gerahmte Gemälde an den tapezierten Wänden. Sie hatte kaum genug Zeit, all diese Dinge in sich aufzunehmen, bevor sie eine sonnige Küche im hinteren Teil des Hauses betraten.
„Setz dich doch, Esperanza.“
„Bitte sagen Sie Espy zu mir.“
„Espy?“
„So nennen mich alle“, sagte sie lächelnd, „seit ich klein war.“
„Also gut, dann Espy.“
Mrs Stocktons Züge waren freundlich und ihre Haut blass. Ein bisschen erinnerte sie Espy an ihre Mutter, obwohl diese Frau ganz eindeutig nicht so verhärmt war.
„Zum Glück hast du davon erfahren, dass ich ein Mädchen für alles brauche. Dieses Haus ist groß und für mich allein zu viel. Es geht mir nicht immer gut, musst du wissen. Wir haben eine Köchin und einen Mann, der sich um Reparaturen kümmert, aber ich brauche ein gutes, kräftiges Mädchen, das die täglichen Arbeiten im Haushalt verrichtet.“
Espy lächelte, jetzt selbstbewusster. „Dann bin ich die Richtige für Sie.“
Mrs Stockton erzählte ihr einige Einzelheiten in Bezug auf ihre gesundheitlichen Probleme und Espy gab mitfühlende Laute von sich und nickte. Sie hatte gelernt, das zu tun, wann immer ihre Mutter über irgendwelche Beschwerden klagte. „Zeigen Sie mir einfach, was getan werden muss, und dann wird es erledigt, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Meine Mama sagt immer, ich hätte Energie für zwei.“
„Genau so eine Person brauche ich. Ich zeige dir alles und sage dir, was deine Aufgaben sein werden. Du kannst heute schon anfangen, wenn du willst. Die Räume unten müssen dringend abgestaubt werden. Ich mache dich auch mit Mr Stockton bekannt. Er ist im Sommer zu Hause, weil keine Schule ist. Aber er verbringt viel Zeit in seinem Studierzimmer.“
Espy nickte, beeindruckt von einem feinen Herrn, der ein eigenes Zimmer nur zum Studieren hatte.
Während sie die Runde durch die Räume im Erdgeschoss des großen Hauses machten, bestaunte Espy jeden einzelnen von ihnen, was ihrer neuen Arbeitgeberin zu gefallen schien. Zuletzt klopfte Mrs Stockton leise an die einzige geschlossene Tür.
Als die männliche Stimme im Inneren des Raumes sie hereinbat, öffnete sie die Tür und schob Espy hinein. „Mein Lieber, ich möchte dir gerne Espy vorstellen. Sie ersetzt Annie und wird unser neues Hausmädchen. Ich hoffe, du lässt sie heute Nachmittag hier staubwischen.“
Mr Stockton blickte von einem großen Schreibtisch mit geneigter Oberfläche auf. Espy erkannte ihn aus der Kirche und der Akademie, an der er unterrichtete, obwohl sie diese Schule nie besucht hatte. Es war eine private Highschool östlich von Holliston. Obwohl Holliston seit der Mitte des Jahrhunderts eine eigene weiterführende Schule hatte, gab es die Akademie schon seit der Kolonialzeit, und die Brentwoods und andere Holzbarone schickten ihre Söhne und Töchter weiterhin dort ins Internat.
Espy bewunderte Mr Stockton als Gelehrten. Er und seine Frau wohnten erst seit einigen Jahren in Holliston, aber sie hatten sich schnell die Achtung der Gemeinde erworben. Er galt als Autorität in historischen Fragen und seine Frau wurde für ihre ehrenamtliche Arbeit in verschiedenen Komitees und Wohltätigkeitsorganisationen geschätzt.
Er erhob sich, als die beiden Frauen eintraten, und streckte die Hand aus. „Guten Tag, Miss Esperanza, es freut mich, Sie kennenzulernen.“
Er war Mitte vierzig, schätzte Espy, mit kurzem braunen Haar, das etwas dunkler war als das seiner Frau, und einem Backenbart und Schnauzer, die seine markanten Züge unterstrichen.
Graublaue Augen lächelten sie an.
Sie ertappte sich dabei, wie sie unter seinem offenen Blick errötete. „Oh, bitte, sagen Sie einfach Espy. So nennen mich alle.“
„Also dann: Espy. Willkommen in unserem Haus. Ich hoffe, Sie werden Ihre Arbeit als lohnend empfinden.“
„Das werde ich ganz sicher.“ Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu der Wand aus Büchern hinüber. „Hier drin sieht es aus wie in einer richtigen Bibliothek.“
Sein Blick folgte dem ihren. „Lesen Sie gerne?“
„Ich lese für mein Leben gern, wenn ich die Gelegenheit dazu habe … und ein Buch“, fügte sie wehmütig hinzu. „Und das ist nicht so oft der Fall, wie ich es mir wünsche.“
„Das müssen wir unbedingt ändern, nicht wahr?“ Mr Stockton wandte sich an seine Frau.
„Ja, natürlich, wenn du es sagst, John. Obwohl ich mir sicher bin, dass Espy viel zu tun haben wird, während sie hier ist.“
„Gewiss. Ich will mich nicht in deine Absprachen einmischen, meine Liebe.“ Sein schmunzelnder Blick wanderte zu Espy zurück. „Aber wenn Sie fleißig arbeiten und meine Frau zufrieden ist, wüsste ich nicht, warum Sie sich nicht hin und wieder ein Buch von mir ausleihen sollten, solange Sie es zurückbringen, wenn Sie es ausgelesen haben.“
Espy riss die Augen auf, als sie dieses Angebot hörte. Noch nie hatte sie jemanden kennengelernt, der mit seinen Büchern so freigebig war. Sie holte tief Luft und sah wieder zu den Regalen hinüber, als würde ein Goldschatz sie daraus anstarren. „Ach, du liebe Güte, da weiß ich ja gar nicht, was ich sagen soll. Ich würde jedes Buch, das Sie mir leihen, ganz sorgsam behandeln und so bald wie möglich zurückbringen. Ich lese schnell.“
„So? Das werden wir ja sehen.“
Mrs Stockton räusperte sich. „Du wirst hier drin abstauben und aufräumen. Aber die Papiere auf Mr Stocktons Schreibtisch darfst du nicht verrücken.“
Espy betrachtete die unter Bergen von Papier begrabene Schreibtischoberfläche. „Nein, Ma’am. Ich werde ganz bestimmt nichts anrühren.“
Mr Stockton stieß einen belustigten Laut aus. „Sie brauchen nicht so ängstlich zu gucken. Mrs Stockton ist sehr um meine Arbeit besorgt. Treten Sie ruhig näher, damit Sie sehen können, was ich mache. Ich stelle momentan Nachforschungen für ein Buch an, das ich im Herbst schreiben werde.“
Espy folgte ihm, neugierig und fasziniert von einem Mann, der sogar selbst Bücher schrieb.
„Ich beschreibe die Seeschlacht hier vor unserer Küste während des Unabhängigkeitskrieges. Darüber wurde bislang noch nicht viel geschrieben. Ich muss alle möglichen alten Zeitschriften und Unterlagen ausgraben, die in unserem Stadtarchiv und dem der historischen Gesellschaft verstaut sind, um die Ereignisse zusammenzufügen.“
Espy hörte aufmerksam zu, während er ihr alte Register und in Leder gebundene Notizbücher mit feinen handschriftlichen Eintragungen auf den gelblichen Seiten zeigte.
„Sie können hier ruhig staubwischen, aber legen Sie bitte alles wieder genau dorthin, wo es war.“
„Ja, Sir.“
Mrs Stockton trat an den Schreibtisch und räusperte sich. „Komm mit, Espy, ich zeige dir jetzt das Grundstück.“
Mit einem letzten Blick zurück in den Raum, der gewiss ihr Lieblingszimmer in diesem Haus werden würde, verabschiedete Espy sich von Mr Stockton und folgte ihrer neuen Arbeitgeberin.
Warren verließ den Firmensitz von Brentwood & Co. um halb sieben und begab sich zur Main Street hinunter, wobei er unterwegs einige Bekannte grüßte. Seit er nach Hause zurückgekehrt war, genoss er den Anblick der geschäftigen Hauptstraße ganz besonders, die ein Stück weit dem Fluss folgte, bevor sie ins Landesinnere zu den Feldern und Wiesen der umliegenden Farmen abbog.
An der Straße befanden sich mehrere Läden und andere Etablissements: zwei Sparkassen, ein Kurzwarengeschäft, ein Bekleidungsgeschäft, eine Schmiede, Buchmacher und Souvenirläden, einige Restaurants, zwei Zeitungsbüros, eine Anwaltskanzlei. Warren überquerte die zweite größere Straße, die die Main Street auf halber Strecke kreuzte und passend Center Street hieß. Dort stand die Bank seines Vaters, ein solides Steingebäude mit weißen Säulen vor dem Eingang.
Das neu erbaute Post- und Zollamt befand sich am Ende dieser Straße, gegenüber dem Gericht und dem Gefängnis. Zwei Hotels und Ställe, von denen aus die Postkutsche zweimal täglich nach Bangor und Calais aufbrach, waren ebenfalls dort angesiedelt.
Die mit Weiß gestrichenen Holzschindeln verkleidete Kirche mit ihrem schmalen, spitzen Turm in der Mitte der Center Street war das Wahrzeichen der Stadt. Sie verlieh der sich am Fluss entlangwindenden Kleinstadt im Tal eine besondere Silhouette.
Auf den hölzernen Bürgersteigen waren viele Menschen unterwegs, da die Sonne an diesem frühen Abend noch hoch am Himmel stand. Warren lief über die Brücke und passierte die beiden Sägewerke und die Getreidemühle auf der kleinen Insel, die den Fluss in der Mitte teilte. Das Geräusch der brüllenden Wasserfälle unter seinen Füßen entspannte ihn immer, wenn er einen langen Tag über den Büchern hinter sich hatte. Die Stromschnellen in diesem Teil des Holliston River bildeten die Trennlinie zwischen dem geschäftigen Treiben der Main Street und dem erfrischenden Schatten und der stillen Eleganz der Elm Street, der hübschesten Wohngegend der Stadt.
Warren trat in den Schatten der überdachten Brücke, die sich über die andere Hälfte des Flusses spannte.
Der Lärm des rauschenden Wassers wurde langsam leiser, als er den Holliston River hinter sich ließ und dem Verlauf der Straße in Richtung Süden folgte. Die Nachmittagssonne lugte durch Jahrhunderte alte Ulmen und Eichen und ließ auf dem Gehweg ein fleckiges Muster entstehen, das an ein riesiges Spitzendeckchen erinnerte.
Warrens Blick wanderte über die breite Straße, während er an seine Begegnung mit Esperanza Estrada am Morgen dachte. Jetzt war sie nicht hier. Außer ihm waren nur einige andere zu sehen, die zu ihrem Abendessen nach Hause eilten.
Seine Schultern lockerten sich und er war froh darüber, einige ungestörte Augenblicke zu haben, in denen er sich innerlich auf die Welt seiner Mutter einstellen konnte.
Diese Stadt war bereits der Wohnort seiner Familie, seit der erste Brentwood vor mehr als hundert Jahren Mitte des 18. Jahrhunderts am Ufer der Holliston Bay gelandet war. Jetzt, nachdem er einen beträchtlichen Teil der Welt gesehen hatte, konnte Warren das alte Sprichwort nachvollziehen, dass es nirgendwo so schön war wie zu Hause.
Nach ungefähr einem Kilometer blieb er vor seinem eigenen Gartentor stehen und öffnete es. Das weiße Haus im klassizistischen Stil stand etwas zurückgesetzt von der Straße, mit einer großen Ve-
randa hinter dorischen Säulen. Sein Urgroßvater hatte es gebaut und Warren ging fest davon aus, dass er eines Tages seine eigenen Kinder hier großziehen würde.
Das würde allerdings nicht so bald geschehen, auch wenn seine Mutter bereits sehnsüchtig darauf wartete, dass er heiratete.
In all den Jahren, die Warren auf Reisen verbracht hatte, war ihm nur eine junge Frau begegnet, die sein Herz berührt hatte. Aber sie hatte seine Gefühle nicht erwidert und so hatte er sich in den vergangenen Jahren darauf konzentriert, sich die Welt anzusehen und in jedem Hafen Station zu machen, der von den Schonern seines Vaters angesteuert wurde.
Anscheinend hatte einer der Bediensteten ihn bereits kommen sehen, denn als Warren die Veranda betrat, öffnete sich lautlos die Tür.
„Guten Abend, Mr Brentwood.“
„Hallo, Samuel“, antwortete Warren dem guten Geist der Familie. Er war es noch immer nicht gewohnt, so förmlich angesprochen zu werden. Ihm fiel wieder ein, dass Espy ihn „Brenty“ genannt hatte, und er runzelte die Stirn. „Mr Brentwood“ war dieser Art von Vertraulichkeit eindeutig vorzuziehen.
„Ihre Mutter erwartet Sie auf der Terrasse.“
„Danke.“ Er reichte dem weißhaarigen Mann seine Aktentasche. „Ich gehe gleich durch.“
„Wie Sie wünschen, Sir.“
Die Nachmittagssonne schien noch immer hell auf den Garten – ein Kontrast zu dem Schatten auf der Terrasse unter einer dunkel-
blauen Markise. Warren trat auf die breiten Pflastersteine und hörte das Klirren von Gläsern und das Murmeln von Stimmen, bevor er die Personen auf der Terrasse sah.
„Da bist du ja endlich, Warren. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“
„Hallo, Mutter.“ Er ging auf sie zu und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. „Ich musste noch einige Dinge beenden, bevor ich nach Hause gehen konnte.“
„Dein Vater ist schon aus der Bank zurück.“ In ihrer kultivierten Stimme lag ein Anflug von Tadel. „Er kommt gleich herunter. Willst du Christina nicht begrüßen?“
Warren ging zu der gepolsterten Zweisitzerschaukel, wo eine junge Dame, die er schon lange kannte, ihm lächelnd die Hand entgegenstreckte. „Hallo, Warren. Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr. Dein Vater erwartet doch bestimmt nicht, dass du jeden Abend so lange arbeitest.“
Er lachte leise, um seine Verärgerung darüber zu verbergen, dass er wegen seiner Ankunftszeit kritisiert wurde. „Mein Vater hat nichts damit zu tun, schließlich arbeitet er in der Bank.“ Obwohl sein Vater ihm die Leitung des Sägewerks übertragen hatte, schienen alle zu glauben, dass sein Vater immer noch das Sagen hatte, und das ärgerte ihn. Vielleicht, weil er allmählich feststellte, dass es zutreffender war, als ihm lieb war.
Warren ergriff Christinas Hand und hielt sie einen Augenblick, bevor er sie losließ. Wie immer war das Mädchen, mit dem er schon als Kind gespielt hatte, ein hübscher Anblick. Sie wirkte so souverän und selbstsicher mit dem hellblauen Kleid und den dunkelblonden Locken, die auf modische Weise hochgesteckt waren.
„Christina hat mich nach deinem Parisaufenthalt gefragt. Erzähl ihr doch davon, während wir auf deinen Vater und deine Schwester warten.“
„Wie du willst, Mutter.“
Christina rutschte auf ihrer Schaukelbank zur Seite und Warren blieb nichts anderes übrig, als sich neben sie zu setzen, obwohl er viel lieber einen breiten, bequemen Sessel für sich gehabt hätte. Lässig lehnte er sich gegen die aus Korb geflochtene Rückenlehne. Inzwischen war er daran gewohnt, seine Auslandsreisen mit wenigen Sätzen zusammenzufassen. Er hatte festgestellt, dass die Leute zwar erwartungsvoll lächelten, aber eigentlich gar nicht an den Einzelheiten seiner Erfahrungen interessiert waren.
„Hast du den Arc de Triomphe gesehen?“, fragte Christina.
„Oh ja.“ Das war alles, was gebildeten Personen für gewöhnlich zu Paris einfiel.
„Ich würde Paris ja so gerne einmal selbst sehen.“ Christina faltete ihre schlanken Hände unter ihrem Kinn und seufzte tief. „Papa verspricht mir jeden Sommer eine Reise nach Europa, aber bisher hat sich noch keine Gelegenheit ergeben.“
„Es würde dir sicher gefallen.“ Sie würde sich mühelos in die Pariser Gesellschaft einfügen. Christina sah ihn mit ihren blauen Augen an und lächelte.
„Meinst du?“
„Bestimmt. Die Pariser wirken vielleicht wie Snobs, aber sie würden dich sofort in ihre Kreise aufnehmen. Du müsstest nur von den richtigen Leuten eingeführt werden.“
Ihre Augen leuchteten auf. „Könntest du das für uns arrangieren?“ Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er schwören können, dass sie bei ihren Worten kokett mit den goldenen Wimpern klimperte. Aber Christina flirtete doch nicht … jedenfalls nicht so, wie manche anderen Frauen es taten.
„Gerne. Ich werde bei der nächsten Gelegenheit mit deinem Vater sprechen. Eigentlich müsste ich ihn morgen früh beim Frühstück der Geschäftsleute treffen.“
Christina legte eine Hand auf seinen Arm. „So eilig ist es nun auch wieder nicht. Wir werden nicht gleich das erste Schiff nehmen, das nach Europa geht. Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass wir uns gesehen haben. Fast habe ich das Gefühl, als müssten wir uns wieder ganz neu kennenlernen.“ Ein leises Lachen folgte ihren Worten.
Warren stützte einen Ellbogen auf die Armlehne der Schaukelbank. Er kannte die subtilen Signale der Ermutigung, die Frauen in seinen Kreisen aussandten. Aber gleich darauf tat er den Gedanken, dass Christina ihre Worte so gemeint haben könnte, als absurd ab. Sie waren schon ihr ganzes Leben lang befreundet. Und was auch immer sie mit ihrer Bemerkung hatte andeuten wollen, er verspürte nicht das Verlangen, darauf zu reagieren.
Seit Charity, die er in seinem zweiten Jahr am College kennengelernt hatte, war ihm keine junge Dame begegnet, zu der er sich hingezogen fühlte. Charity war die Tochter eines Professors gewesen und reizend, damenhaft und schön. Warren war ihr vom ersten Augenblick an verfallen gewesen.
Seine Mundwinkel wanderten nach unten. Neben dem Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, war Warren sich wie ein Grisaille-Gemälde vorgekommen, grau und langweilig. Es war eine demütigende Erfahrung für ihn gewesen, denn er war es nicht gewohnt, von anderen Männern ausgestochen zu werden – noch dazu von einem, der lediglich ein Arbeiter war. Aber Charity hatte für keinen anderen Augen gehabt.
Warren kehrte gedanklich zu Christinas Bemerkung zurück. „Ich glaube nicht, dass ein paar Jahre Abwesenheit dich oder mich so sehr verändert haben.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“ Sie zupfte an der Spitzenrüsche um ihren Hals und lächelte selbstironisch. „Bitte verzeih meine Besorgnis. Ich habe einfach Angst, dass du durch deine Reisen zu so vielen fernen Ländern so gebildet bist, dass du jetzt auf uns alle hier als hoffnungslose Landeier herabsehen könntest.“
Warren lachte und entspannte sich. „Keine Sorge. So ein Snob bin ich nicht. Außerdem habe ich festgestellt, dass die Leute immer noch genauso sind, wie sie bei meiner Abreise waren. Diejenigen, vor denen ich damals Achtung hatte, achte ich immer noch. Eine Reise in ein anderes Land ändert daran nichts.“
Seine Mutter reichte ihm ein hohes Glas. Er nahm die kühle Limonade mit einem dankbaren Lächeln entgegen. „Danke.“
Sie lehnte sich in ihrem gepolsterten Korbschaukelstuhl zurück und nahm einen Fächer aus Elfenbein in die Hand. „Wo wir gerade von Menschen reden, die du schon dein Leben lang kennst – Mrs Hawkins sagte, sie habe dich heute Mittag mit diesem Mädchen gesehen. Wie heißt es noch? Emily? Nein, es war irgendetwas Ausländisches. Helena?“ Seine Mutter schürzte die Lippen und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine feine Falte.
Ruth Axtell
Ruth Axtell wusste schon als Kind, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und wohnte zeitweise in Paris, Miami, den Niederlanden und auf den Kanarischen Inseln. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern in Maine.
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