So hatten wir wieder ein Dach über dem Kopf gefunden. Sogar für unsere drei Pferde, mit denen wir im offenen Kastenwagen vor der russischen Front geflohen waren, schaffte er Platz in seinem Stall. Es war für uns eine wunderbare Führung Gottes, dass wir gerade in dieser Familie ein neues Zuhause fanden. Opa Becker war Christ, und das zeigte sich auch in seinem Handeln. Wie oft brachte er meiner Mutter einen Liter Milch oder stellte eine Schüssel mit Kochkäse, den er selbst zubereitet hatte, auf den Tisch. Wenn er ein Schwein schlachtete, dann holten wir in unserem Milchkännchen Wurstbrühe, und oft genug legte er noch eine Leberwurst hinein. Unser Wohl lag ihm am Herzen, das spürten wir gerade in den kleinen Freundlichkeiten, die er uns bereitete.
Einmal hatte uns ein Dieb sämtliche Lebensmittelkarten gestohlen. Das war für uns ein schreckliches Dilemma. Für unsere große Familie bedeutete dies, dass wir einen Monat lang nichts Essbares kaufen konnten: keine Milch, kein Brot, keinen Zucker, kein Mehl, kein Fett und kein Fleisch. Dieser Diebstahl stürzte unsere Familie in eine schlimme Krise. Es war so, als wäre uns auf dem Fluchtweg eine Wagendeichsel gebrochen. Eine Deichsel hätten wir durch einen Baumstamm wieder ersetzen können, aber Lebensmittelmarken wurden nicht ersetzt. Opa Becker aber sorgte für uns. Er holte aus seinem Keller Kartoffeln und Zuckerrüben, brachte uns Obst und Gemüse aus seinem Garten und füllte meiner Mutter die Hände mit Mehl und Teigwaren, die er aus seiner Speisekammer zu uns in die Küche trug. Für uns war dieser alte Christ ein wahrer Segen, ein Glücksfall. Noch heute wird es mir warm ums Herz, wenn ich an ihn denke. Seine Liebestaten haben sich mir eingeprägt. Er lud uns auch in die Bibelstunden ein, die jeden Donnerstagabend in seiner Wohnstube stattfanden.
Nun war Weihnachten, die erste Weihnacht in der Fremde. Unser Herz wollte uns schwer werden, wenn wir daran dachten, was uns durch den verlorenen Krieg alles genommen worden war. Wir waren arm, sehr arm sogar. Wir wollten Weihnachten feiern, aber wir hatten keine Geschenke, keine Plätzchen, keine Süßigkeiten, keinen Christbaumschmuck. Mein Vater hatte ein kleines, zierliches Tännchen aus dem Wald geholt und auf den Küchentisch gestellt. Drei Kerzenstummel hatten wir aufgesteckt. Mehr hatten wir nicht, womit wir das Bäumchen hätten schmücken können. Nun standen wir um unseren Christbaum und sangen Lieder, wie wir es in Bessarabien gewohnt waren:
Süßer die Glocken nie klingen
als zu der Weihnachtszeit;
’s ist, als ob Engelein singen
wieder von Friede und Freud,
wie sie gesungen in seliger Nacht,
wie sie gesungen in seliger Nacht.
Glocken mit heiligem Klang,
klingt doch die Erde entlang!
Meiner Mutter liefen die Tränen über die Wangen. Der Schmerz über den Verlust ihres Kindes quälte sie noch allzu sehr. Sie war am 19. Januar 1945 hochschwanger auf die Flucht gegangen. Mitten im Kriegsgeschehen schenkte sie einem kleinen Mädchen das Leben. Aber durch die Strapazen des langen Fluchtweges war meine Mutter zu schwach, zu ausgemergelt, um das Baby stillen zu können, und so musste unsere kleine Erika verhungern. Wir hatten keine Milch, um das Kind am Leben zu erhalten. Heute in unserem Wohlstand ist dies kaum vorstellbar, aber 1945 stand es sehr schlecht mit der Ernährung. Oft mussten wir hungern.
Im Schein der Kerzen und im Klang der Lieder kamen in meiner Mutter noch einmal der ganze Schmerz und Jammer hoch. Sie schluchzte, und uns Kindern bereiteten ihre Tränen großen Kummer. Unser Singen wollte uns fast nicht mehr über die Lippen kommen. Die Töne wurden immer leiser.
Plötzlich klopfte es an unsere Tür. Opa Becker stand davor und sagte: „Herr Hannemann, ich lade Sie mit Ihrer Familie ein. Wir wollen gemeinsam Weihnachten bei meinem Sohn feiern.“
Diesen Satz hatte unser Hauswirt noch nicht zu Ende gesprochen, da steckten wir schon in unseren Wintermänteln. Wir liefen los, hüpften über die Wiesen und sprangen über die Bäche. Vor lauter Begeisterung jubelten wir: „Wir sind eingeladen! Wir sind eingeladen!“ Der Druck, der auf unseren kleinen Kinderseelen gelegen hatte, wich einem großen Freudentaumel.
Wir wurden empfangen, als wären wir die allerliebsten Gäste. Und dann feierten wir Weihnachten. Kein Kaiser und kein König hätte glücklicher sein können. Christi Geburt wurde für uns zu einem Triumph. Wir setzten uns zu Tisch – und wir waren eine große Familie – und wurden mit wunderbaren Köstlichkeiten bewirtet. Es gab Schinken, Wurst, Eier, Plätzchen, Kuchen und noch andere Leckereien. Der Hausherr las die Weihnachtsgeschichte vom Kind in der Krippe vor. Opa Becker hielt eine Andacht und sprach ein Gebet. Jesus Christus, unser Heiland und Erlöser, wurde gelobt über seine große Tat, dass er zu uns Menschen auf diese erbärmliche Welt kam. Ja, es war so, als stünden Maria und Josef mit dem Jesuskind direkt in unserer Mitte, und wir spürten förmlich den warmen Atem von Ochs und Esel im Stall von Bethlehem. Fröhlich stimmten wir unsere Lieder an, und diesmal sang auch meine Mutter mit:
O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren,
Christ ist geboren:
freue, freue dich, o Christenheit.
Noch klang ihr Lied leise, aber der Anfang war gesetzt. Die Traurigkeit musste weichen.
Dieses glückliche Erleben hat sich mir tief eingeprägt. Die Liebe von Opa Becker und seiner Familie wurde mir zu einem Zeichen, es ihnen gleichzutun. Weihnachten kann man nur recht feiern, wenn das Herz weit offen ist für die herrlichste Gabe unseres Vaters im Himmel. Er gab seinen einzigen Sohn. Wie heißt es in Johannes 3,16?
„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Andere noch Christus ferne Menschen in diese Festfreude mit hineinzunehmen ist mir ein Vorrecht. So feiern wir seit über 35 Jahren den Heiligabend mit Leuten, die traurig, allein und einsam sind. Ihnen gilt die Verheißung:
„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Chris-tus, der Herr, in der Stadt Davids (...).“