Autumn Manning ist die einzige Überlebende eines Anschlags auf die Chicagoer Hochbahn. Ein Jahr nach dem Unglück lebt sie immer noch sehr zurückgezogen. Schuldgefühle machen ihr zu schaffen: Warum hat sie als Einzige überlebt? Warum hat Gott das Unglück zugelassen?
Eines Tages steht Reese, die junge Tochter eines Opfers, vor ihrer Tür. Sie will ein Gedenkvideo für ihre Mutter produzieren und bittet Autumn um Hilfe. Ihr Vater, der Psychiater Paul Elliott, ist alles andere als begeistert von dieser Idee. Liegt es daran, dass Autumn nach dem Anschlag zunächst für seine Frau Vivian gehalten wurde? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Als Autumn und Reese sich gemeinsam auf Spurensuche begeben, stoßen sie auf mehr als ein dunkles Geheimnis – und entdecken, wie erleichternd es sein kann, endlich die Wahrheit zu wissen!
Eine fesselnde Erzählung über Leid, Trauer und die Rückkehr ins Leben; extrem hoffnungsvoll und voller überraschender Wendungen.
€ 10,00
Preise inkl. MwSt., keine Versandkosten innerhalb Deutschlands ab € 10,00.
€ 8,99 inkl. MwSt.
Prolog
Wir wissen nur selten, wann der Tod kommt.
Manche werden durch Krankheiten vorgewarnt – wie bei dem Sandstreifen eines Baseballfeldes, dem »Warning Track«, der einem rückwärtslaufenden Außenfeldspieler durch den anderen Untergrund anzeigt, dass er am Spielfeldrand angekommen ist. Das Ende ist nah. Aber andere – viele andere – begegnen dem Tod ohne jede Vorwarnung, in einem unvorhersehbaren Augenblick, der das Bewusstsein zerreißt und die Lebenden von den Toten trennt.
So würde es an diesem Abend für zweiundzwanzig Menschen sein.
Übereifrige, unwillkommene Schneeflocken senkten sich aus einem düsteren Himmel wie Tücher herab. Der Wind erfasste sie und blies sie fort. Derselbe Wind zog Strähnen aus dem Pferdeschwanz einer Frau und ließ sie hin und her flattern wie eine flackernde Kerzenflamme.
Die Frau drückte einen Karton fest an ihre Brust und eilte die Betontreppe hinauf, sodass der Inhalt klapperte.
Das Kinn tief in ihren Schal vergraben und den Blick gesenkt, sah die Frau den Mann nicht, als sie auf dem Bahnsteig ankam. Sie sah nicht, wie er den Zug anstarrte. Sie sah nicht, wie er eine Atemwolke ausstieß. Und sie sah ihn auch nicht, als er herumfuhr.
Die beiden kollidierten, so wie es im Leben manchmal ist.
Die Frau wankte und stürzte und der Karton glitt zu Boden. Sie landete hart auf dem schneebedeckten Asphalt und kastanienbraune Haare fielen ihr ins Gesicht.
Der Mann beugte sich zu ihr hinunter und zog sie hoch. »Alles in Ordnung?«
»I-ich glaube schon.«
Er bemühte sich, den verstreuten Inhalt des Kartons einzusammeln – eine Handvoll Visitenkarten, einen Notizblock mit Spiralbindung, ein zusammengeknülltes T-Shirt, eine offene Tüte mit Lollis und einen Bilderrahmen.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Nein, das war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst. Ich wollte nicht ...« Der Wind riss ihre Worte fort. Sie schob sich die Haare hinters Ohr, während ihr Blick zu dem zerbrochenen Bilderrahmen in seiner Hand wanderte.
Er schüttelte Glasscherben in den Schnee, dann legte er das gerahmte Foto in den Karton und gab ihr den. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Mir geht es gut.« Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sich ihr Gesicht während dieser Worte schmerzlich verzog.
Der Zug war zum Halten gekommen und sie sah, wie der Bahnwaggon hinter ihm seine Türen öffnete.
Sie hielt den Karton fest an sich gedrückt und trat in Richtung der geöffneten Türen, damit sie nicht auf den nächsten Zug warten musste.
Trockene Heizungsluft empfing sie und umwehte ihr Gesicht und ihren Hals. Die Türen glitten zu. Die Bremsen wurden gelöst. Eine verzerrte Stimme erklang über den Lautsprecher, als der Zug ruckartig anfuhr. Sie hielt sich an einer Stange in der Nähe fest und starrte aus dem Fenster. Der Mann stand unter dem Vordach der Haltestelle und sah dem abfahrenden Zug nach, während Schnee und Wind einen wilden Tanz am Himmel vollführten.
Sie bemerkte, dass ihr Rücken von dem Sturz schmerzte, und klopfte sich etwas Schnee von ihrem Mantel. Ihr Blick schweifte über das Zugabteil und blieb an einer Dame hängen, die ganz in der Nähe allein in einer Reihe saß. Sie umklammerte eine teuer aussehende Handtasche, während sie ihre Wangen mit einem zerknüllten rosafarbenen Papiertaschentuch abtupfte.
Als hätte sie den auf ihr ruhenden Blick gespürt, hob die Dame ihren Kopf und sah der Frau in die Augen.
Diese wandte verlegen den Blick ab und setzte sich auf einen Platz zwei Reihen weiter vorne. Der Zug war nicht sehr voll und so konnte sie ihren Karton neben sich auf dem leeren Sitz abstellen.
Ihre Haut fühlte sich kalt an und ihre Zähne klapperten. Sie sehnte sich nach einem heißen Becher Tee. Nach einem langen wohltuenden Bad. Nach etwas, das vielleicht die Kälte vertreiben konnte, die in ihre Knochen gekrochen war, lange bevor sie auf die Straße getreten war.
Sie nahm den Bilderrahmen aus der Schachtel und schnipste eine Glasscherbe von dem Foto, als ihr jemand auf die Schulter tippte.
Es war ein Mann.
Er saß hinter ihr mit einer grünen Kappe mit John-Deere-Logo und geradem Schirm, die so aussah, als wäre sie ganz neu. Sein Rücken war vom Alter gebeugt. »Verrücktes Wetter heute Abend.«
Sie nickte.
»Als wir das letzte Mal so spät im Jahr noch Schnee bekamen, hatte ich noch Haare hier oben.« Er nahm seine Mütze ab und rieb sich lachend über den glänzenden braunen Schädel. »Sie sagen, es könnte bis zu dreißig Zentimeter Schnee geben.«
Die Lippen der Frau verzogen sich ein wenig nach oben – ein höfliches, aber distanziertes Lächeln.
Wenn sie gewusst hätte, dass dies die letzte Unterhaltung des alten Mannes sein würde, hätte sie sich vielleicht mehr Mühe gegeben. Wenn sie es gewusst hätte, wäre sie vielleicht aufmerksamer gewesen. Oder zumindest hätte sie ihm einen Hauch von Freundlichkeit entgegengebracht.
Aber sie wusste es nicht. Keiner von ihnen wusste es.
Nicht das Mädchen mit den kurzen Haaren und den tätowierten Schmetterlingen im Nacken. Nicht der Latino-Junge, der lässig auf seinem Platz hing, Ohrhörer in den Gehörgängen. Nicht die gestresst wirkende Mutter, die versuchte, ein wildes Kind im Zaum zu halten. Nicht der Geschäftsmann, der die Tastatur seines Laptops bearbeitete. Nicht die weinende dünne Dame mit dem zerknüllten Papiertaschentuch. Nicht der alte Mann, der nach Voltarensalbe und Speck roch und über Schneestürme im März plauderte.
Nicht die Frau mit dem Karton, deren Telefon zu vibrieren begann. Sie warf dem Herrn hinter sich einen entschuldigenden Blick zu und zog das Handy aus ihrer Tasche. Eine SMS erschien auf dem Display: Lebst du noch?
Sie schnaubte kurz.
Sie zog den Ring ihrer Mutter ab und starrte auf den vertrauten Anblick. Wenn sie das nicht getan hätte – wenn sie vielleicht nur daran gedreht hätte, anstatt ihn ganz abzuziehen –, vielleicht wäre es dann anders gekommen. Aber sie zog ihn ab. Sie drehte ihn in der Hand und schloss die Finger darum. Und dann tippte sie mit zitternden Daumen eine SMS: Es war eine Nachricht, die nie abgeschickt werden würde. Eine Nachricht, die mit all den anderen Dingen verloren gehen würde, die an diesem Tag verloren gingen. Mitten in ihrer getippten Antwort tickte die letzte Sekunde bis zur Null.
Das Schicksal detonierte.
Eine Hitzeexplosion zerriss die Luft.
Fenster zerbarsten.
Metall krümmte sich.
Sterne tanzten wie Kaleidoskope hinter den Pupillen der Frau und das Leben, das sie bis dahin gekannt hatte, löste sich in Luft auf.
1. Kapitel
Sirenen heulten.
Eine Frau schrie.
Eine unaussprechliche Hitze streckte schwere Finger aus, grub sich in ihr Fleisch und zog sie in die Dunkelheit. Verkohlte Handschuhe umschlossen ihre Handgelenke und zogen sie aus dem Wrack, während Flammen die Welt verschlangen.
Autumn Manning fuhr aus dem Schlaf hoch.
Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, während sie die Geräusche beiseiteschob und wie eine unerwünschte Decke weg-
strampelte. Sie trat nach den Laken, die ihre Beine bedeckten, und fasste sich ins Gesicht, um an Schläuchen zu ziehen, die nicht mehr da waren. Schläuchen, die bereits vor vielen Monaten entfernt worden waren.
Panik stieg in ihr auf.
Sie kratzte in ihrer Brust und ließ sie im Bett hochfahren.
Es war nur ein Albtraum. Sie war nicht von einem brennenden Wrack umgeben. Es gab kein Krankenhaus und keine piepsenden Monitore. Sie befand sich im Schlafzimmer ihrer Wohnung, wo alles ruhig und still und sicher war.
Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 3.36 Uhr an – eine Uhrzeit, mit der man eigentlich nichts zu tun haben wollte. Aber drei Uhr nachts und Autumn waren inzwischen gut miteinander bekannt. Um drei Uhr verwandelte der Schlaf sich in ein Irrlicht und verspottete sie, indem er vor ihrer Nase davontanzte und sich nicht mehr einfangen ließ.
Es war besser, es gar nicht erst zu versuchen.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und schob die Füße in ein Paar Hausschuhe. Dann schob sie die Arme in den Bademantel, der an einem ihrer Bettpfosten hing, und schlurfte an dem Wandschrank vorbei, über den ihre Familie sich Sorgen machte.
Zehn Minuten später saß Autumn mit einem heißen Tee und untergeschlagenen Beinen in einem Sessel und klickte sich durch die verschiedenen Netflix-Optionen, während sie versuchte, die Geister zu ignorieren, die sie vom Flur aus riefen. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, dass sie aufhören würde. Dass sie einen Weg finden würde, mit all dem abzuschließen.
Aber nachts waren die Toten am lautesten.
Dampf stieg in dünnen Fäden zu ihrem Kinn hinauf. Autumn wählte eine Folge der Gilmore Girls aus und wandte sich dann dem Puzzle zu, das auf dem Couchtisch ausgebreitet lag. Je mehr Dinge sie ablenken konnten, desto besser.
Fernsehen, Tee, Puzzle.
Dieses trug den Titel »Waldwichtel« und war besonders schwierig, weil die meisten Teile die gleiche graubraune Farbe von Baumrinde hatten. Gedankenlos knibbelte sie an der Nagelhaut eines Daumens, während sie ein Puzzleteil mit einem Stück vom Hut des Wichtels suchte.
Knibbel, knibbel, knibbel, bis ihre Haut brannte.
Sie steckte den Daumen in den Mund und lutschte daran, dann zog sie ihn wieder heraus und sah zu, wie sich ein roter Blutstropfen bildete. Wenn sie kein Pflaster darummachte, würde sie weiter daran knibbeln – eine unschöne Angewohnheit, die sie sich als Mädchen zugelegt hatte.
»Hör auf zu knibbeln, Liebling«, hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn sie einen Blick in den Rückspiegel ihres Buicks auf ihre Tochter warf. »Deine Nägel sehen schrecklich aus.«
Autumn ging ins Bad, wo sie ihren Daumen mit einem hellgrünen Pflaster versah und dann ihr Bild im Spiegel anstarrte. Eine gerade Narbe verlief quer über ihre Schläfe. Eine federartige tüpfelte ihren rechten Unterkiefer wie weiße Bartstoppeln – so leicht inzwischen, dass man genau hinsehen musste, um sie zu bemerken. Es gab noch eine Narbe an ihrer Schulter, wo sie operiert worden war – diese sah schlimmer aus als die anderen. Aber das war alles. Das einzige äußerliche Zeichen, dass sie überhaupt etwas überlebt hatte.
Drei verblasste Narben, wo die Haut zerrissen, aber anschließend gedehnt und wieder zusammengefügt worden war.
Die lustigen Dialoge der Gilmore Girls drangen über den Flur herüber.
Autumn wusste, dass sie zu ihrem Sessel und ihrem Tee zurückkehren und an ihrem Puzzle weiterarbeiten sollte, während Taylor Doose versuchte, die Bürger von Stars Hollow zur Ordnung zu rufen. Wenn die Folge zu Ende war, könnte sie den Kühlschrank ausräumen – und ihn mit Backpulver und Essig auswischen, bis sie eine Möglichkeit fand, den merkwürdigen sauren Geruch zu beseitigen, der ohne Sinn und Verstand immer wieder kam und ging. Wenn sie damit fertig war, könnte sie ihre Schuhe schnüren und eine frühe Morgenrunde joggen.
Aber morgens um drei Uhr war die Versuchung zu groß, als dass sie ihr hätte widerstehen können.
Sie fühlte sich unweigerlich zu den Dingen hingezogen, die sie wegzuwerfen versprochen hatte.
Resigniert nahm sie eine Schere, das Exemplar der Chicago Tribune mit den Artikeln, die sie vor dem Schlafengehen gelesen hatte, und den Ordner aus dem obersten Fach des Wandschranks im Flur. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und rutschte bis zum Boden hinunter, wo sie die jüngste Schlagzeile ausschnitt.
Tragödie auf den Gleisen: ein Jahr danach
Die Kommission, die für die Errichtung eines Denkmals zuständig war, hatte sich mit einem Künstler der Stadt zusammengetan, um einen Brunnen zu entwerfen. Sie hatten sich für einen großen Phönix aus Stahl entschieden, der aus dem Wasser aufsteigt. Ein Symbol der Hoffnung. Schönheit aus der Asche. Ein Versprechen, das in Autumns Leben bisher noch nicht zur Erfüllung gekommen war. Selbst die Schönheit der Gerechtigkeit gab es für sie nicht.
Der Bombenleger Benjamin Havel war immer noch auf freiem Fuß.
In den Boden um den Brunnen herum waren zweiundzwanzig rote Ziegel eingelassen, jeder mit einem Namen versehen. In der Nähe erläuterte eine Tafel, wofür das alles stand. Es war eine Tafel, die kaum jemand lesen würde, und irgendwann würde der Brunnen nicht mehr sein als ein nasser Mülleimer für überflüssige Pennys und altes Kaugummi.
Autumn seufzte.
Hatte Chad recht? War sie zynisch geworden?
Sie schnitt den Artikel zu Ende aus und versuchte, nicht an die Sprachnachricht des Kommissionsvorsitzenden zu denken, mit der er sie eingeladen hatte, bei der Einweihungszeremonie das Band durchzuschneiden. Oder an Claires ungläubiges Staunen, als Autumn ihr erzählt hatte, dass sie nicht hingehen würde.
»Du willst wirklich nicht dabei sein?«, hatte sie gefragt.
»Glaub mir«, hatte Autumn geantwortet, »diese Familien wollen mich dort nicht sehen.«
Warum sollten sie auch? Für sie war ihr Anblick Salz in einer offenen Wunde. Eine bittere Erinnerung. Ein grausames Fragezeichen. Warum hat diese Frau überlebt und mein Mann (mein Vater, meine Mutter, mein Sohn, meine Tochter, meine Freundin) nicht? Was ist an ihr so besonders?
Autumn wollte die Fragen, die ihr selbst keine Ruhe ließen, nicht in den Augen der anderen sehen. Und sie weigerte sich, ein Maskottchen zu sein. Wenn sie ging, würde sie eine Ablenkung sein. Ein Schauspiel. Der Blickpunkt. Bei dem Denkmal ging es aber nicht um sie. Es ging um die anderen – diejenigen, die nicht überlebt hatten.
Sie musste keine Bänder durchschneiden, um an diese Menschen zu denken.
Das tat sie jeden Tag.
Jede Nacht.
Während die Stadt schlief, trieb dieser Gedanke sie immer wieder um.
Ihr Blick wanderte zu dem Ordner auf ihrem Schoß. Sie blätterte an dem Stapel aus Nachrufen vorbei – die allesamt geschrieben und veröffentlicht worden waren, während sie noch bewusstlos gewesen war. Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, waren die Toten bereits beerdigt gewesen. Autumn musste ihre Namen im Internet recherchieren, um ihre Geschichten zu lesen, und alte Zeitungen aus Büchereien sammeln, um etwas Greifbares zu haben. Zum Kummer ihrer Familie hatte sie sich in ein trübsinniges Kind verwandelt, das einen Satz Sportkarten sammelte, entschlossen, alle ihre Lieblingsspieler zu finden. Nur dass sie bei jedem Fund kein Kaugummi erhielt, sondern einen Messerstich ins Herz.
Sie blätterte durch die gesammelten Todesanzeigen, bis sie zu den Briefen kam – alle von ein und demselben Absender. Die ersten davon waren gekommen, kurz nachdem sie aufgewacht war und die Medien sich auf sie gestürzt hatten.
Zuerst hatten die Briefe sie nur verwirrt.
Doch irgendwann ergaben sie einen Sinn. Autumn wusste, wie es war, wenn man die Gedanken auf eine Sache fixierte. Wenn man wie ein Hund war, der seinen Knochen nicht loslassen wollte. Das musste der Grund sein. Aus Gründen, die sie zu verstehen glaubte, war sie dieser Knochen geworden.
Sie erhob sich von ihrem Platz im Flur. Als sie ihren Computer hochfuhr, dachte sie an nichts. Sie dachte an nichts, als sie sich in ein gefälschtes Facebook-Konto einloggte, und sie dachte an nichts, als sie die Namen und Hashtags in die Suchmaske eintippte. Immer dieselben. Es war eine Angewohnheit geworden. Ein Zwang. So wie das Knibbeln an der Nagelhaut. Sie musste es tun, obwohl sie sich anschließend nicht besser fühlte. Weder, wenn sie etwas Neues fand, noch, wenn sie entdeckte, dass die Konten gelöscht worden waren. Egal, was Autumn herausfand, alles endete auf die gleiche Weise – sie saß dort und verarztete die Wunden, die davon herrührten, dass sie nicht loslassen konnte, und das ohne jedes Pflaster.
Dreihundertfünfundsechzig Tage.
Ein ganzes Jahr, seit die Menschen in dem Ordner aufgehört hatten zu leben.
Zwölf Monate mit derselben Frage als beständigem, aufmerksamem Gefährten. Derselben Frage, die ihre zweijährige Nichte seit zwei Wochen immerzu stellte.
Warum? Warum? Warum?
Autumn holte tief Luft, nahm einen Bleistift und ein Blatt Papier und versuchte – zum hundertsten Mal – einen Antwortbrief zu schreiben.
2. Kapitel
Den ganzen Tag über hatte die Sonne geschienen – beinahe widerwärtig. Ein leuchtendes Gold, das am blauen Himmel hing – kein Hauch einer Wolke in Sicht. Die Temperatur hatte am Mittag fast die fünfundzwanzig Grad erreicht, sodass die Leute ihre Strickjacken abstreiften und ihre Jacketts ablegten. Jetzt, wo die Sonne sich dem Horizont näherte, hatte sich das Thermometer auf angenehme zwanzig Grad eingependelt. Es war, als wäre das Wetter ein Kleinkind, das sich bemüht, die Gunst eines Elternteils wiederzuerlangen.
Ich weiß, dass ich letztes Jahr um diese Zeit ungezogen gewesen bin, sagte es. Aber ich verspreche, mich zu bessern. Sieh doch nur, wie gut ich sein kann.
Als sollte das Wetter der Mittelpunkt dieses Tages sein.
In einem anderen Leben wäre es vielleicht so gewesen.
Vielleicht würden die Leute, die in der Stadt unterwegs waren, etwas sagen wie: »Kaum zu glauben, dass es letztes Jahr um diese Zeit geschneit hat.«
»Nicht einfach nur geschneit. Es war ein regelrechter Schneesturm!«
Aber niemand sprach übers Wetter. Die Stadt Chicago war ernst geworden. In den Cafés nickten Gäste und Baristas ei-
nander vielsagend zu. In der Innenstadt taten Geschäftsleute und Taxifahrer dasselbe. Selbst auf der Michigan Avenue, in der vor allem Zugereiste mit viel Geld wohnten, herrschte eine ehrerbietige Atmosphäre. Angestellte der Chicagoer Verkehrsbetriebe und Polizeibeamte bewegten sich mit noch mehr Wachsamkeit als sonst. Und wann immer jemand etwas sagte, ging es überhaupt nicht ums Wetter.
»Kaum zu glauben, dass es schon ein Jahr her ist.«
»Ich weiß noch genau, wo ich war, als ich die Nachricht hörte.«
»Und ich kann nicht begreifen, dass sie den Täter immer noch nicht gefasst haben.«
Je mehr alle das Wetter ignorierten, desto mehr gab das Wetter an. Und jetzt hatte sich eine ganze Menschentraube im schwindenden Tageslicht auf dem Rasen im Lincoln Park versammelt und verschwendete keinen Gedanken an die Natur, während der Bürgermeister zu einer Schweigeminute aufrief.
Das Wetter hatte genug. Die ersten schwarzen Wolken ballten sich am Horizont und ein Windstoß fuhr in die Versammlung.
Paul Elliott legte die Hände auf die Schultern seiner Kinder. Bei dem siebenjährigen Tate, damit er nicht mitten in der ehrfürchtigen Stille eine laute Frage stellte. Bei der zwölf Jahre alten Reese, um sie daran zu erinnern, dass er da war und immer da sein würde. Ein stärkerer Windstoß folgte gleich darauf und
Pauls Finger drückten noch ein wenig fester zu.
Noch zwei Stunden.
Vor vier Jahren war er einmal mit seinem Freund und Pastor Mitchell Wyatt einen Marathon gelaufen. Mitchell stand jetzt ein Stück vor ihm, etwas weiter rechts. Bei Kilometer achtunddreißig hatte Paul einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr weiterlaufen konnte. Wenn Mitch ihn damals nicht daran erinnert hätte, dass nur noch gut vier Kilometer vor ihnen lagen – eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was sie schon gelaufen waren –, dann hätte Paul vielleicht aufgegeben.
Dies hier fühlte sich genauso an.
Die vergangenen zwölf Monate waren ein langer, zermürbender Marathon gewesen. Und in zwei Stunden konnte er seine Kinder und diesen Tag – und das ganze aufreibende Jahr – zu Bett bringen.
Seine Mutter legte ihre Hand an seinen Arm und drückte ihn sanft. Ihre Augen waren ein wenig feucht, aber ihre Schultern waren breit und kräftig, so als wären sie genau dafür geschaffen, schwere Lasten zu tragen. Links von ihr stand Pauls Großvater und blickte mit gerunzelter Stirn auf seinen Rollator hinunter.
Regina Bell stand auf Pauls anderer Seite.
Das war seine Schwiegermutter, ganz eckig und knochig, und ihre Wangenknochen hatten sich längst von königlich zu grimmig verwandelt. Bei Regina zeigte die Trauer sich darin, dass sie immer dünner und hinfälliger wurde. Es war eine besorgniserregende Verwandlung, denn abgesehen von ihren seltenen Skype-
Unterhaltungen hatte er sie seit der Beerdigung seiner Frau Vivian nicht mehr gesehen. Sie stand jetzt genauso da wie damals, die Lippen fest zusammengepresst – so als ständen sie an einem Sarg und nicht an einem Brunnen. Sie würde noch eine Nacht bei ihnen bleiben. Vielleicht war es also gar nicht wahr, was Paul sich die ganze Zeit einredete. Von wegen zwei Stunden. Vielleicht glaubte er nur, bei Kilometer achtunddreißig zu sein, und war in Wirklichkeit erst bei Kilometer dreißig. Zwölf Kilometer aber waren deutlich mehr als vier.
Vor allem, wenn es um die ungeniert kritische Regina ging.
Zum Glück war Vivians Vater nicht mitgekommen. Er hatte letzte Woche angerufen, um Paul zu sagen, es tue ihm schrecklich leid, aber er könne sich bei der Arbeit nicht freinehmen. Regina tat so, als hätte der Mann ihr einen Dolch in die Brust gerammt. Aber zumindest bedeutete es, dass ein erheblicher Teil ihrer Missbilligung sich gegen ihren Ex-Mann richtete.
Ein schwacher Trost, aber immerhin etwas, fand Paul.
Die Schweigeminute endete.
Der Bürgermeister sprach ein paar Worte ins Mikrofon, von denen Paul keins hörte. Sein Blick wanderte zu mehreren Teams von Nachrichtensendern, die Stellung bezogen hatten, bereit, eine letzte Story aus der Tragödie herauszuschlagen, die wochenlang die Schlagzeilen beherrscht hatte.
Ein Kind, das etwa so alt war wie Tate, trat vor, um das Band durchzuschneiden.
Kameras klickten.
Leute klatschten.
Und langsam löste die Menschentraube sich auf.
Paul atmete erleichtert aus.
Er hatte nicht vor, noch länger zu bleiben. Ihm war nicht danach, in Erinnerungen zu schwelgen. Er wollte nur vergessen und seine Kinder von der beklemmenden Traurigkeit weg nach Hause bringen. Aber Reese rührte sich nicht.
Sie stand auf Zehenspitzen und suchte die Menschenmenge ab. »Wo ist sie?«
»Wo ist wer?«, fragte Paul.
Alle, die zu ihnen gehörten, waren in der Nähe. Mom, Pop. Regina. Mitch und seine Frau Lisa. Pauls geduldige Assistentin Margo, die sein Leben für ihn organisierte. Ihre Nachbarin Deliah Green, die ebenso hilfsbereit wie nervig war. Mrs Ryan und ihre Tochter Mia, seit dem Kindergarten die beste Freundin seiner Tochter. Außerdem mehrere Bekannte von Gemeinde, Schule und Arbeit.
Alle waren gekommen, um sie zu unterstützen.
»Die Frau, die überlebt hat.«
Alle sahen Paul an. Einige unverhohlener als andere.
Paul starrte auf den Asphalt.
»Sie muss hier sein.« Reese reckte den Hals. »Oder?«
»Es sind viele Leute hier, Liebling«, sagte Mom. »Ich bin sicher, sie ist hier irgendwo.«
Paul war sich da nicht so sicher. Soweit er wusste, hatte die Frau alles getan, um den Medien aus dem Weg zu gehen, und dieser Park war im Moment voller Journalisten. Einer davon interviewte den Bürgermeister. Ein Stückchen weiter sprach ein anderer mit einer Gruppe Frauen, die frische Tränen von ihren Wangen wischten.
Ein Jahr danach war ihre Trauer noch immer greifbar.
Paul schob ungeduldig einen Finger unter seinen Kragen.
Zeit zu gehen.
3. Kapitel
Sonntag, den 2. April 2017
Ein Stift in Verbindung mit Papier
kann ein wirkungsvolles Lebenswerkzeug sein.
(Maud Purcell)
Ich weiß nicht, wer Maud Purcell ist, außer dass sie einen Artikel mit dem Titel »Warum Journaling gesund ist« geschrieben hat. Ich bin auf Facebook darauf gestoßen und die Überschrift hat sofort meine Aufmerksamkeit erregt.
Maud sagt, dass es Stress vermindern kann, wenn man ein Journal, ein Tagebuch führt. Man kann klarer denken und findet oft unerwartete Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme. Durch Journaling kann man mit der Zeit Muster, Trends, Verbesserungen und Wachstum erkennen. Maud sagt, dieses Journal wird irgendwann ein Freund, der alles akzeptiert und nicht verurteilt, und zugleich die billigste Therapie, die ich jemals finden werde.
Ich frage mich, ob Journaling meiner Schwägerin Jane genügen wird, die sich eingemischt hat. Und zwar auf eine ganz schön übergriffige Weise.
Vor zwei Tagen betrat ich ihr Haus, ein bisschen verärgert, weil sie mich um Hilfe dabei gebeten hatte, Kisten im Keller hin und her zu räumen. Vollkommen unerwartet fand ich meine ganze Familie in ihrem Wohnzimmer vor, die allesamt ziemlich verlegen dreinblickten. Am schlimmsten war mein Vater. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als Jane mir einen Platz anbot und mich mit beleidigender Langsamkeit fragte – so wie sie es bei ihren Kindern macht, wenn sie kurz vor einem Wutanfall stehen –, ob ich mir jemals etwas antun wollte.
Da habe ich dann die Broschüren gesehen, die sie in der Hand hielten.
Jane gab mir eine.
Es ging darin um Schuldgefühle von Überlebenden und Jane hatte freundlicherweise bereits im Text die krankhafteren Formen markiert, von denen die schlimmste Suizid war.
Ich saß stumm da, während Jane erklärte, dass sie sich alle um mich sorgten und dass es keine Schande sei, eine Therapie zu machen. Wenn es eine Frage der Kosten wäre – da man als Online-Mitarbeiterin kaum eine gescheite Krankenversicherung hatte –, wären alle gern bereit auszuhelfen. Jane hatte sich sogar die Mühe gemacht, die Namen mehrerer angesehener Therapeuten auf eine Karte zu schreiben, zusammen mit ihren Telefonnummern.
Gestern Abend dann, als meine Schwester mit chinesischem Essen vorbeikam, erwartete ich eigentlich eine Entschuldigung von ihr. Ich dachte, wir würden zusammen darüber lachen. Aber Claire erzählte nur ganz aufgeregt von ihrem Job. Sie ist Lehrerin, also gibt es viel, worüber sie sich aufregen kann. Ich hörte geduldig zu, während sie ihrem Unmut Luft machte, und dann, aus heiterem Himmel, sagte sie: »Ich finde, es ist eine gute Idee.«
»Was ist eine gute Idee?«, fragte ich. »Einheitliche Leistungsnachweise?«
Sie schwenkte ihre Stäbchen in meine Richtung. »Nein. Eine Therapie.«
So macht Claire das immer.
Sie nimmt Unterhaltungen wieder auf, die Stunden, Tage oder Wochen her sind, als wäre seitdem überhaupt keine Zeit verstrichen und alle müssten wissen, wovon sie redet.
Meine Schwester hält eine Therapie für eine gute Idee. Meine Schwester hat sich auf Janes Seite geschlagen.
Das Wort Suizid hat sie dazu gebracht, da bin ich mir sicher.
Jedenfalls habe ich jetzt dich. Meine neue therapeutische Freundin, die alles akzeptiert und nichts verurteilt, freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Drogeriemarkt um die Ecke.
Vielleicht sollte ich dich Maud nennen.
Der kleine, altmodische Bungalow, der Autumns Kindheit beherbergte, kauerte vor ihr, die Fenster freundlich hell erleuchtet. Sie hatte eine Schüssel mit Erdbeer-Brezel-Schichtdessert dabei, ihr Standardbeitrag für das gemeinsame Essen am Sonntagabend. Innerlich versuchte sie, sich für die Familie und die Gespräche zu wappnen – etwas, das an jedem Sonntag des vergangenen Jahres besondere Anstrengung erforderte, aber diesmal besonders angesichts der Broschüren von Jane. Würden sie über die Familienintervention reden oder so tun, als wäre nichts geschehen?
Sie klopfte an die Haustür.
Die Tür öffnete sich fast augenblicklich und Leanne kam heraus, schlang ihren dünnen Arm um Autumns Schultern und drückte sie fest, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen und nicht erst vor ein paar Tagen.
Autumn tätschelte den Ellbogen ihrer Stiefmutter. Irgendwie schienen sie beide nie einen natürlichen Umgang miteinander zu finden. Als sie Autumn schließlich losließ, war Claire aus der Küche gekommen.
Autumn riss die Augen auf. Ihre Schwester hatte braune Haare.
Und es war kein unauffälliges Braun, sondern ein kräftiges Schokoladenbraun. Gestern hatte ihre Schwester noch rote Haare gehabt. Sie hatte immer rote Haare gehabt. Wie Autumn auch. Und wie ihr Bruder Chad. Und wie ihre Mutter.
»Wann hast du das denn gemacht?«, fragte Autumn.
»Vor zwei Stunden.« Sie fingerte an ihren Haaren herum. »Gefällt es dir?«
Autumn blinzelte, dann wanderte ihr Blick von Claire zu
Claires Freund Trent, der sich langsam aus dem Sofa pellte, während er ebenso wie Dad gebannt auf das Baseballspiel starrte, das über den Fernsehbildschirm flimmerte. Es war der Eröffnungsabend, auf den ihr Vater jedes Jahr hinfieberte.
»Ich finde, es bringt ihre Augen besonders gut zur Geltung«, sagte Leanne und legte den Arm um Claires Taille. So ging das bei den beiden. Mühelos.
Claire hatte im Laufe der Jahre sogar einige von Leannes Angewohnheiten übernommen und in diesem Augenblick, als sie da Arm in Arm mit ihren Haaren im selben braunen Farbton standen, sahen sie aus wie Mutter und Tochter.
Autumns Herz zog sich zusammen. So sehr, dass es sich ein bisschen so anfühlte, als würde sie ersticken. So, dass sie sich am liebsten verabschiedet hätte und quer durch die Stadt zu ihrer Wohnung zurückgefahren wäre, um allein mit ihren zweiundzwanzig Geistern zu sein. Sie passte nicht mehr in diese Welt der Lebenden.
Zwei unterschiedliche Geräusche drangen von Dad und Trent herüber. Einer jubelte. Der andere stöhnte. Gefolgt von ein paar gutmütig-neckenden Bemerkungen. Anthony Rizzo hatte gerade einen Homerun geschlagen bis über die Mittelfeldmauer.
Die geliebten Chicago Cubs schienen dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten.
Mit einem siegessicheren Grinsen, als hätte er eigenhändig den erfolgreichen Schlag ausgeführt, drückte Trent einen Kuss auf Claires Schläfe. »Du könntest dir den Kopf auch kahl rasieren und wärst immer noch schön.« Dann umarmte er Autumn, was sich immer anfühlte, als würde sie verschluckt, denn Trent war ein riesiger Bär von einem Mann mit Armen wie Baumstämme und einer weichen Mitte.
Dad kam als Nächstes. Er war nicht annähernd so stämmig wie Trent und auch kein großer Fan von Umarmungen, aber es war etwas, das sie inzwischen alle taten. Sie umarmten einander. Es hatte angefangen, als Leanne auf der Bildfläche erschienen war, denn Leanne umarmte für ihr Leben gern andere Menschen.
Autumn löste sich aus Dads ungelenkem Rückentätscheln.
»Chad hat vor einer Weile eine Textnachricht geschickt, dass sie etwas später kommen.« Leanne nahm den Salat mit einem Lächeln entgegen. »Mit zwei kleinen Kindern ist es unmöglich, pünktlich zu sein. Wir wissen ja alle, wie das ist.«
Nein, eigentlich wussten es nicht alle.
Dad vielleicht. Aber Leanne nicht.
Sie war durch ihre Heirat Mutter geworden, als Autumn elf, Chad vierzehn und Claire sechs gewesen war. Eine Sechsjährige war also am nächsten dran an der Erfahrung, wie ein Leben mit Kleinkindern aussah. Mit ihren sechs Jahren aber war Claire längst in der Lage gewesen, ihre Schuhe zu schnüren und den Reißverschluss ihrer Jacke selbst zuzumachen, was offenbar die beiden größten Hindernisse dabei waren, eine junge Familie rechtzeitig auf den Weg zu bringen.
Nach fünf oder zehn Minuten Small Talk, bei dem niemand ein Wort über ihr Treffen von vor zwei Tagen sagte, flog die Tür auf. Die vierjährige Cal und die zweijährige Lulu kamen ins Wohnzimmer gestürmt wie ein Paar Tasmanische Teufel.
Genau genommen hießen die Mädchen Calliope und Talulah.
Chad und Jane erwarteten ihr drittes Kind im Mai. Den ersehnten Jungen. Claire und Trent schlossen bereits Wetten ab, was für einen Namen der Kleine wohl bekommen würde. Wahrscheinlich etwas wie Axel oder Hugo oder Jagger, nur dass alle ihn dann Ax oder Hu oder Jag nennen würden. Jane war wie die meisten Frauen heutzutage, wenn es um Babynamen ging: Je ungewöhnlicher, desto besser.
Lulu schlang ihren kleinen Körper um Leannes Knie und verlangte ein Mentos. Leanne hatte in ihrer Handtasche immer eine Packung für die Mädchen dabei. Nicht die minzige Sorte, bei der sie die Nase rümpften, sondern die fruchtige, bei der sich ein Erdbeergeruch im ganzen Raum ausbreitete, sobald man daraufbiss.
»Keine Süßigkeiten vor dem Abendessen.« Die hochschwangere Jane kam mit Chad herein, was eine erneute Runde Umarmungen auslöste.
Während ihre Familie sich begrüßte und Lulu jammerte, bemerkte Autumn, wie Chad Trent einen fragenden Blick zuwarf. Und Trent schüttelte fast unmerklich den Kopf. Was auch immer Chads Frage war, Trents Antwort lautete offenbar Nein.
Oder wahrscheinlicher: Noch nicht.
Wieder zog Autumns Herz sich zusammen.
Sie war sich ziemlich sicher, dass Trent in den Startlöchern für einen Heiratsantrag stand. Sie freute sich für die beiden. Trent und Claire waren ein tolles Paar und sie waren jetzt seit sechzehn Monaten zusammen. Merkwürdigerweise war es Seth gewesen, der sie verkuppelt hatte. Autumns Ex-Freund. Damals war sie gerade dabei gewesen, sich bei der angesehenen PR-Firma Fishburn & Crandal nach oben zu arbeiten, und Seth hatte kurz davor einen Job bei der Creative Group angetreten, bei der auch Trent arbeitete. Autumn war nicht mehr bei Fishburn & Crandal und Seth nicht mehr bei TCG. Er arbeitete jetzt ausschließlich als Freiberufler, aber Trent und er spielten immer noch Squash zusammen und gingen manchmal zusammen essen.
Autumn fragte sich, ob Trent Seth erzählt hatte, dass er
Claire einen Heiratsantrag machen wollte. Sie fragte sich, was Seth dabei wohl dachte, ob er zur Hochzeit käme und ob Claire es so einrichten würde, dass Autumn mit ihm zusammen durch den Mittelgang der Kirche gehen musste. Sie fragte sich, wie bizarr das wäre, wo sie doch wussten, dass sie das Brautpaar hätten sein sollen, wenn das Leben ihnen nicht einen gigantischen Strich durch die Rechnung gemacht hätte.
Das waren die Gedanken, mit denen sie beschäftigt war, als sie sich alle um den Esstisch versammelten. Sie ging davon aus, dass die Unterhaltung sich um die üblichen Themen drehen würde – Babynamen und Baseball. Sie vermutete, dass Dad und Chad über die Aufstellung der White Sox diskutieren würden, während Trent nicht ernst gemeinte Beleidigungen murmelte, denn Trent war ein eingefleischter Cubs-Fan. Noch etwas, das Seth und er gemeinsam hatten.
Aber noch bevor die Brötchen einmal um den Tisch herumgereicht worden waren oder Cal die Chance hatte, Leannes Hackbraten abzulehnen, setzte sich Jane mit leuchtenden, eifrigen Augen und verkündete voller Stolz:
»Ich habe einen Job für dich gefunden, Autumn.«
4. Kapitel
Blasses Mondlicht fiel durch ein Fenster in der Nähe herein und ließ die schlanke Gestalt seiner Frau als Silhouette erscheinen, als sie ihn vom Treppenabsatz aus rief. »Ich warte auf dich.«
Das Verlangen erwachte.
»Komm rauf«, flötete sie. »Komm zu mir.«
Er legte die Hand auf das glatte Geländer und stieg die Treppe hinauf.
Sie stand am Ende des Korridors im Türrahmen ihres Schlafzimmers und winkte ihn mit ihrem langen, schmalen Finger zu sich, bevor sie im Zimmer verschwand.
Paul folgte ihr, aber als er um die Ecke bog, war da nichts außer der nächsten Treppe. Dann sah er im Dunkeln ein weißes Nachthemd aufblitzen.
»Komm und such mich«, rief sie.
Als er oben ankam, trat er in die kalte Dunkelheit. »Vivian?«
Lachen – neckisch und verführerisch – erklang überall um ihn herum.
»Vivian, wo bist du?« Das Verlangen verwandelte sich in Verzweiflung. Er wandte sich um und da stand sie, so nah, dass er ihren Atem auf seiner Wange spüren konnte.
»Ich bin tot, Paul.«
Er wachte auf, die Augen weit aufgerissen in der Dunkelheit, die Wange fest ins Kissen gedrückt, und starrte auf die leere Seite des Bettes. Er legte die ausgestreckte Hand auf den Bettüberwurf. Dann trat er seine Decke zurück und ging ins Bad, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte und dann die Hände auf beiden Seiten des Waschbeckens aufstützte und in den Abfluss starrte, während Wasser von seiner Nasenspitze auf das Porzellan tropfte.
Zitternd holte er Luft und blickte zu dem Mann im Spiegel auf – einem Mann, der nicht schlief. Dann fuhr er mit der Hand über die Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Reiß dich zusammen.«
»Dad?«
Paul fuhr zusammen.
Reese stand in der Tür wie ein Gespenst, dessen lockige Haare wild das schmale, blasse Gesicht umrahmten. Sie umklammerte ihr Plüschtier – einen ehemals weißen und jetzt grauen Hund namens Gipper –, als wäre sie zwei und nicht zwölf.
Paul atmete aus. »Alles in Ordnung?«
»Tate schnarcht immer.«
Es war beinahe zwei Uhr morgens. Und Tate schnarchte nicht. Er atmete laut, wenn er schlief, aber nicht laut genug, als dass Reese dabei nicht schlafen konnte. Etwas anderes machte Pauls Tochter zu schaffen. In den letzten Tagen war sie launischer gewesen – und stiller als sonst. Der Therapeut in ihm sagte ihm, dass das für ihr Alter normal war, aber er machte sich trotzdem Sorgen.
»Ich muss morgen in der Schule meine Präsentation vorstellen.« Ihre Stimme war ein ängstliches Jammern. »Aber ich kann nicht einschlafen.«
Schlaflosigkeit führte zu mehr Schlaflosigkeit. Das wusste Paul aus eigener Erfahrung. Je länger ein Mensch sich im Bett hin und her wälzte, desto frustrierter und besorgter wurde er, und je mehr Frust und Sorge er empfand, desto unwahrscheinlicher war es, dass er schlafen konnte. Er hatte im Laufe der Jahre genügend Klienten betreut, um zu verstehen, wie der Teufelskreis funktionierte. Nur hätte er nie gedacht, dass dieses Problem auch einmal seine Tochter ereilen würde. Leider war das nicht das erste Ich hätte nie gedacht, das sich in seine Wirklichkeit eingeschlichen hatte.
Ein kleines Nicken war alles, was nötig war. Die kleinste Einladung.
Reese kletterte in sein Bett und kuschelte sich unter die Decke.
Er legte sich neben sie und rieb ihr beruhigend den Rücken, während er das Lied summte, das er extra für sie geschrieben hatte. Ein Lied, dass er ihr im Säuglingsalter oft ins Ohr gesungen hatte, wenn sie wegen einer Kolik nicht hatte schlafen können. Ein Lied, das er sang, wann immer er ein aufgeschürftes Knie oder einen verstauchten Zeh verarztete – damals, als ein einfacher Kuss die bösen Dinge noch vertreiben konnte. Er betete um Entspannung. Dass ihre Nerven sich beruhigen würden. Er betete, dass er seiner Tochter helfen konnte, indem er ihr den Rücken rieb und dieses Lied summte.
Langsam wurde Reese’ Atmung tief und gleichmäßig.
Ein Windstoß pfiff am Fenster und weckte unwillkommene Erinnerungen. Die Einweihung des Gedenkbrunnens war vo-
rüber. Regina war wieder in North Carolina bei ihrem aktuellen Ehemann. Dieses albtraumhafte Jahr war vorbei.
Mit Mumm und Entschlossenheit hatte er seine Kinder so unverletzt wie möglich aus dem Wrack der ganzen Schrecken gezogen. Die Sonne hatte wieder begonnen zu scheinen. Das Atmen fiel nicht mehr ganz so schwer.
Aber nachts? Da heulte der Wind kräftig weiter.
Katie Ganshert
Katie Ganshert war Lehrerin, bis ihr der Durchbruch als Romanautorin gelang. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für »Das Motel der vergessenen Träume«
bekam sie in den USA einen Preis für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres verliehen.
LANGBIOGRAFIE (aus lovelybooks.de):
Gefühlvolles aus dem Mittleren Westen: Die erfolgreiche amerikanische Schriftstellerin Katie Ganshert ist im Mittleren Westen aufgewachsen. Nach ihrem Studium der Erziehungswissenschaften an der University of Wisconsin war sie mehrere Jahre lang als Lehrerin tätig. Anschließend entschied sie sich für ein Leben als Vollzeitautorin, um ihr berufliches Leben ihrer Liebe zum Schreiben zu widmen. Ihre erfolgreichen Romane und Kurzgeschichten berühren die Herzen ihrer Leser. Für ihre Werke erhielt Ganshert zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Christy Award, einen amerikanischen Literaturpreis für Romane mit christlichen Grundwerten. Da ihr Glaube für Ganshert eine wichtige Rolle spielt, spiegelt sich ihre christliche Lebenseinstellung regelmäßig in ihren Geschichten und Charakteren wider. Für ihr in Deutschland unter dem Titel „Das Motel der vergessenen Träume“ erschienenes Werk nahm die Autorin in den USA die Auszeichnung für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres entgegen. Hierbei handelt es sich um eine bewegende Geschichte über das Leben einer jungen Frau, ihre Träume, ihre Entscheidungen und ihre Familie. Ganshert lebt mit ihrer eigenen Familie in Iowa und liebt Schokolade, Kaffee und die Zeit mit ihren Liebsten. Sie ist eine Frau mit Herz, die zeitgemäße Geschichten über die Liebe, den Zusammenhalt und das Leben schreibt, die auf christlichen Grundwerten basieren.
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.