Dieses Buch ist ein persönliches Plädoyer. Die Psalmen, die das großartige Liederbuch im Herzen der Bibel bilden, waren das tägliche Lebenselixier der Christen und natürlich auch des jüdischen Volkes seit frühesten Zeiten. Aber in vielen christlichen Kreisen werden die Psalmen heute schlicht und einfach nicht verwendet. Und an vielen Orten, an denen sie noch verwendet werden, sei es gesprochen oder gesungen, werden sie oft auf ein paar Verse reduziert, die zur „Auffüllung“ zwischen anderen Teilen der Liturgie oder von Anbetungsgottesdiensten rezitiert werden. Im zweiten Fall scheinen die Leute oft gar nicht zu realisieren, was sie singen.
Im ersten Fall scheinen sie nicht zu realisieren, was ihnen entgeht. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Trends umzukehren. Ich halte das für eine dringende Aufgabe.
Angenommen, die Psalmen wären verloren gegangen und niemals in irgendwelchen Bibeln oder Gebetsbüchern abgedruckt worden. Angenommen, sie würden dann in einer verblichenen, aber noch lesbaren Schriftrolle auftauchen, die von Archäologen in der Wüste Jordaniens oder Ägyptens entdeckt wurde. Was würde passieren? Nach ihrer Entzifferung und Übersetzung würden sie auf der Titelseite jeder Zeitung auf der ganzen Welt stehen. Viele Gelehrte aus vielen Fachbereichen würden über die Schönheit und den Inhalt dieser antiken Anbetungslieder und Gedichte staunen.
Die Psalmen gehören zu den ältesten Gedichten der Welt und sie können es immer noch mit jeder Poesie in jeder alten oder modernen Kultur überall auf der Welt aufnehmen. Sie sind voller Kraft und Leidenschaft, entsetzlichem Elend und unbändigem Jubel, voller zarter Sensibilität und kraftvoller Hoffnung. Wessen Herz offen ist für neue Dimensionen menschlicher Erfahrung, wer gute Literatur liebt, wer ein Fenster zu den hellen Lichtern und dunklen Ecken der menschlichen Erfahrung sucht – wer offen ist für den wunderschönen Ausdruck einer größeren Vision der Wirklichkeit, sollte auf diese Gedichte wie jemand reagieren, der seit ein oder zwei Wochen kein gutes Essen mehr hatte. Es ist alles vorhanden.
Überraschenderweise geht dieser Eindruck bei der Übersetzung nicht verloren. Die meiste Poesie leidet, wenn sie in eine andere Sprache übersetzt wird, denn sie ist in ihrer Wirkung vom Klang und Rhythmus der ursprünglichen Wörter abhängig. Es stimmt, dass das Hebräisch dieser Gedichte seine eigene Schönheit hat – für die, die dafür empfänglich sind. Aber die Wirkung der Psalmen hängt von der Art und Weise ab, auf die sie die Hauptthemen darstellen. Sie sagen etwas aus einer bestimmten Perspektive und wiederholen es dann aus einer etwas anderen Perspektive:
Der Himmel ist durch das Wort des HERRN gemacht
und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes.
(Psalm 33,6)
Ich will meinen Mund auftun zu einem Spruch
und Geschichten verkünden aus alter Zeit.
(Psalm 78,2)
Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.
(Psalm 139,3)
Selbst wenn dies nicht Zeile für Zeile geschieht, geschieht es oft zwischen verschiedenen Abschnitten eines Psalms oder im Gleichgewicht der Sammlung als Ganzes oder eines Teils der Sammlung.
Der wichtige Punkt lautet an dieser Stelle, dass einige der wichtigsten Dinge, die wir sagen wollen, noch ein klein wenig jenseits unserer besten Wörter liegen. Der erste Satz ist ein Hinweis auf die tiefe Wirklichkeit; der zweite ein Hinweis von einem etwas anderen Standort aus gesehen. Der Leser ist eingeladen, beidem zu folgen und die größere, unausgesprochene Wahrheit zu sehen, die sich im Hintergrund abzeichnet. Das bedeutet: Die Wirkung kann in der Übersetzung nicht nur erhalten werden, sondern die Wirkung ist selber etwas von dem Tiefsten, was die Psalmen vollbringen, da sie klarmacht, dass die besten menschlichen Worte über sich hinaus auf Wirklichkeiten verweisen, die sogar hohe poetische Beschreibung übersteigen. (Etwas Ähnliches wird andernorts in der Bibel erreicht – zum Beispiel in der Bereitstellung von zwei Schöpfungsgeschichten, die zwei in Bildersprache ausgedrückte Bilder für eine Wirklichkeit anbieten, die jenseits von beiden liegt.)
Wie gesagt: All dies sollte die Aufmerksamkeit erregen und die Begeisterung jedes Menschen wecken, der ein Gespür für die kraftvollen Schriften zu den großen Themen des menschlichen Lebens hat. Doch für alle, die – in welcher Weise auch immer – in den geistlichen Traditionen des Judentums und Christentums stehen, gibt es all dies und noch viel, viel mehr. Daher ist es umso frustrierender, dass die Psalmen heute so oft vernachlässigt oder bestenfalls auf eine oberflächliche und geistlose Weise verwendet werden.
In einigen Kreisen der heutigen Christenheit werden die Psalmen im täglichen und wöchentlichen Gottesdienst nicht mehr verwendet. Das gilt besonders dort, wo es ein bemerkenswertes Wachstum gegeben hat, das sich sowohl zahlenmäßig als auch im Blick auf die Energie niederschlägt, nicht zuletzt in den charismatischen Bewegungen in verschiedenen Denominationen. Unglaublich beliebt sind die „Lobpreislieder“. Einige von ihnen benutzen Formulierungen aus den Psalmen, die meisten allerdings nicht. Für Tausende von regelmäßigen und enthusiastischen Gottesdienstbesuchern haben diese Lobpreislieder den stetigen Rhythmus und die tiefgründige Gewissenserforschung der Psalmen größtenteils ersetzt. Das ist meines Erachtens eine große Verarmung.
Ich bin absolut dafür, dass neue Lieder geschrieben werden. Jede Generation muss das tun. Aber die Vernachlässigung des ursprünglichen Liederbuchs der Kirche ist offen gestanden verrückt. Es gibt viele Weisen, auf denen die Psalmen gesungen und gebetet werden können; es gibt Stile für jeden Geschmack. Das ist in der Tat Teil ihres anhaltenden Charmes. Ich hoffe, dass eine der Auswirkungen dieses kleinen Buches darin bestehen wird, diejenigen, die Gottesdienste und Anbetung in vielen unterschiedlichen Umgebungen leiten, zu stimulieren und zu ermutigen, darüber nachzudenken und dafür zu beten, wie das alte Gebetsbuch der Kirche in das regelmäßige und normale Leben ihrer Gemeinschaft neu integriert werden kann. Die Psalmen repräsentieren das der Bibel eigene geistliche Wurzelwerk des großen Baumes, den wir Christenheit nennen. Man muss kein Gartenbaugenie sein, um zu verstehen, was mit der Frucht am Baum passiert, wenn die Wurzeln in keinem guten Zustand sind.
Ich schreibe aber nicht, um schlicht und einfach zu sagen: „Dies sind wichtige Lieder, die wir benutzen und zu verstehen versuchen sollten.“ Das stimmt zwar, aber damit wird die Betonung falsch herum gelegt – als ob die Psalmen das Problem wären und als ob wir versuchen sollten, sie in unsere Welt einzupassen. Tatsächlich sind wir das Problem – wir konfusen und verwirrten und halbgläubigen Menschen; und die Frage lautet eher: Wie können wir unseren Weg in ihre Welt finden, in ihren Glauben und ihre Hoffnung, die aus einem Psalm nach dem anderen hervorscheinen.
Wie jeden wohlüberlegten christlichen Gottesdienst umgibt auch diesen Ansatz eine gewisse Demut. Gute Liturgie, sei sie formell oder informell, sollte niemals schlicht und einfach ein gemeinschaftliches emotionales Treffen sein, wie „christlich“ auch immer, sondern sollte ein frischer und ehrfurchtsvoller Versuch sein, die größere unaufhörliche Liturgie zu bewohnen, die in den himmlischen Bereichen unablässig geschieht. (Darum geht es in den großartigen Kapiteln Offenbarung 4 und 5.) Die Psalmen bieten uns einen Weg an, auf dem wir in einen Chor aus Lobpreis und Gebet einstimmen können, der seit Jahrtausenden und über alle Kulturen hinweg geschieht. Nicht zu versuchen, sie zu bewohnen, während man damit fortfährt, nicht von den Psalmen beeinflusste „Anbetung“ zu erfinden, die auf unseren eigenen momentanen Gefühlen basiert, heißt zu riskieren, wie ein verwöhntes Kind zu sein, das auf den Gipfel des Tafelbergs gebracht wird, die Stadt und den Ozean vor sich ausgebreitet sieht und sich weigert, den Ausblick zu bestaunen, weil es mit dem Smartphone spielt.
Ich schlage in diesem Buch insbesondere vor, dass das regelmäßige Beten und Singen der Psalmen transformativ ist. Es verwandelt die Art und Weise, auf die wir einige der tiefsten Elemente von dem verstehen, wer wir sind, oder besser, wer, wo, wann und was wir sind: Wir sind Geschöpfe aus Raum, Zeit und Materie, und obwohl wir unsere normale Auffassung dieser Dinge für gegeben halten, lautet mein Vorschlag, dass die Psalmen unser Verständnis aller drei Elemente sanft, aber bestimmt transformieren werden. Sie tun das, damit wir verwandelt werden, damit wir die Welt, uns gegenseitig und uns selbst auf radikal andere Weise ansehen – eine Weise, die wir für Gottes Weise halten. Ich hoffe, dass meine Auslegung dieser Themen helfen wird, meinen eigenen Enthusiasmus für die Psalmen zu erklären und zu vermitteln, aber ich hoffe noch stärker, dass diese Themen jene Kirchen, die den Kontakt zu den Psalmen verloren haben, ermutigen, so schnell wie möglich zu ihnen zurückzukehren. Und ich hoffe, dass die Kirchen, die die Psalmen benutzen, ohne groß zu begreifen, worum es in ihnen geht, ermutigt werden, die Psalmen auf eine neue Weise von innen kennenzulernen.