Madison hat sich geschworen, nie wieder angeln zu gehen. Als sie die alte Angelhütte ihres Vaters erbt, die diesem immer mehr bedeutet hat als seine eigene Tochter, steht ihr Plan fest: Sie will den Sommer am Storm Lake verbringen, um sie zu renovieren und anschließend zu verkaufen.
Gleich am ersten Tag lernt sie den verschlossenen, aber überaus attraktiven Fishing Guide Matt kennen. Blöd nur, dass er sie für eine leidenschaftliche Anglerin hält. Und sie den richtigen Zeitpunkt verpasst, ihn aufzuklären. Aber so schwer kann es doch nicht sein, sich mithilfe von YouTube die richtigen Tricks beizubringen, oder?
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Maddie
Das Zündschloss meines Autos glich einem schwarzen Loch. Je länger ich es betrachtete, desto mehr zog es mich an. Als besäße es eine eigene Art von Gravitation. Zeit und Raum schienen sich zu verbiegen. Keine Ahnung, wie lange ich es schon anstarrte.
Plötzlich erfüllte die Titelmelodie von Medical Detectives das Wageninnere und ließ mich unwillkürlich zusammenzucken.
Stöhnend lehnte ich mich über die Mittelkonsole in den Fußraum der Beifahrerseite, um nach dem Handy zu greifen. Bei der unvorhergesehenen Ich-bremse-abrupt-ab-und-parke-auf-dem-Seitenstreifen-Pause war meine Tasche vom Sitz gerutscht.
»Hi Kat. Was gibt,’s?«, fragte ich, um einen normalen Tonfall bemüht. Zumindest so normal, wie es eben ging, wenn man zuvor in den Sog des Zündschlosses geraten war.
»Bist du gut angekommen?« Meine beste Freundin Kathrine hielt sich selten mit Begrüßungsfloskeln auf und kam stets direkt zum Punkt. In meinem Fall zum wunden Punkt.
»Habe gerade geparkt«, entgegnete ich und rieb mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Es war brütend heiß in meinem Corolla. Ein Blick in den Seitenspiegel zeigte eine junge Frau mit geröteten Wangen und schweißverklebten Haaren. Ich sah fertig aus. Und das lag nicht nur an der Hitze.
»Vor der Blauen Hortensie?«
Ich verdrehte die Augen. »Würdest du bitte aufhören, es so zu nennen?«
»Aber so heißt das Haus nun mal.«
»Wer gibt einem Haus ... nein, warte ... einer Angelhütte einen solchen Namen?«
Ach, ja: mein verstorbener Vater.
»Hm«, machte Kat. »Du bist meiner Frage ausgewichen.«
»Und du wolltest deine psychologischen Tricks bei mir sein lassen«, fauchte ich.
»Welche Tricks? Komm schon ... Sag mir, wo du bist!«
Mein Blick scannte die Umgebung jenseits der Windschutzscheibe. Dunkle Wolken rollten von Westen her auf mich zu. »Auf dem Standstreifen irgendeiner Straße.«
»Aber du bist schon noch im Bundesstaat Washington, oder?«, witzelte Kat.
In Wirklichkeit erkannte ich sofort, wo ich mich befand: auf der Dubuque Road, kurz bevor es zu den Three Lakes abging. Während ich mit dem Zeigefinger auf den Handyrücken tippte, fand mein Blick zurück zum Zündschloss. Es gab so viel zu sagen, doch die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Zum Glück musste ich sie auch nicht aussprechen. Kathrine Thompson, angehende Psychologin mit Profiler-Superkräften – daher der Klingelton der Mordermittlungsserie –, wusste immer, was in mir vorging.
»Du hättest mit der Reise auch noch etwas warten können. Dann hätte ich dich begleitet.« Kats leise Stimme durchbrach das entstandene Schweigen.
Mich störte die Traurigkeit, die sich, nachdem ich Vollwaise geworden war, ein weiteres Mal um uns gelegt hatte. Normalerweise waren Kat und ich fröhliche, verrückte, junge Frauen, die Gott und das Leben dafür feierten, dass er sie unter beinahe acht Milliarden Menschen auserkoren hatte, um beste Freundinnen zu werden. Deshalb war ich nun hier. Alles sollte wieder so werden wie früher. Ich würde das Haus – die Angelhütte, berichtigte ich mich in Gedanken – ein bisschen aufhübschen, schätzen lassen und verkaufen. So schnell wie möglich.
Ein Abschluss.
Ein Neustart.
Die düsteren Gedanken verflogen bei der Vorstellung, mit Kat in wenigen Monaten das Seafair, das legendäre Sommerfest Seattles, zu besuchen. Kat, ich und die Torchlight-Parade.
»Lachst du?«, fragte Kat und es raschelte auf ihrer Seite des Telefons. Sie befand sich gerade in der letzten Lernphase ihrer Abschlussprüfungen. Vermutlich sah ihr Studentenzimmer so aus, wie ich mir die Leitstelle einer Mordermittlung vorstellte: alles übersät mit Fotos und Notizen der gesammelten Informationen, die zusammenhängenden Hinweise mit einem roten Faden verbunden, bis sich ein erkennbares Muster abzeichnete. Ich prustete in den Hörer.
»Woran denkst du?«, empörte sich Kat mit amüsiertem Unterton.
»An Russell Crowe in The Next Three Days.«
»Um deine Gedankengänge zu verstehen, reicht kein Master in Psychologie. Hast du in den nächsten drei Tagen etwa vor, jemanden aus dem Gefängnis zu befreien?«
Mein Lachen wurde lauter. »Deswegen bin ich die perfekte Freundin für dich, Kat. Wir wissen doch beide, wie schnell dir langweilig wird. Du wirst es schon noch herausfinden«, entgegnete ich und sandte ein Dankesgebet zum Himmel. Mit Kat zu reden, war Balsam für die Seele. Ihr Anruf war wie so oft genau zur rechten Zeit gekommen.
»Aber mal ernsthaft, Kat«, kam ich auf das Ursprungsthema zurück. »Von einer Reise kann man ja wohl kaum sprechen. Zum Storm Lake braucht man von Seattle aus gerade mal eine knappe Stunde.«
»Zwei, wenn du in die Rush Hour gerätst«, warf Kat ein.
Erneut umspielte ein Lächeln meine Lippen. »Ich werde das schon schaffen«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr.
»Das wirst du«, bestätigte sie trotzdem. »Und ich bin Tag und Nacht erreichbar, falls du über Frank sprechen möchtest. Wenn es nötig ist, fahre ich sogar höchstpersönlich zu dir.«
Ungläubig hob ich die Augenbrauen. »Du hast das Auto seit einem halben Jahr nicht mehr bewegt. Sicher, dass der Motor nicht längst von Motten zerfressen wurde?«
»Motten fressen kein Metall, soweit ich weiß.«
»Sag mir, Frau Psychologin, wie heißt es im Fachjargon, wenn man panische Angst vorm Autofahren hat?«
»Amaxophobie«, antwortete Kat wie aus der Pistole geschossen. Aber sie ergänzte ein Zungenschnalzen, als ihr bewusst wurde, dass ich mich über sie lustig machte.
»Pass einfach auf dich auf, Maddie.«
»Na klar.« Mein Blick landete erst auf dem Zündschloss und anschließend auf dem Schlüssel in meinem Schoß. Ich brauchte ihn nur wieder hineinzustecken, umzudrehen und loszufahren. »Was soll schon schiefgehen?«
Meine Worte in Gottes Ohren.
* * *
Mit gemischten Gefühlen fuhr ich auf den kleinen Privatparkplatz, der den Anwohnern des Storm Lake vorbehalten war. Ich verband viele Erinnerungen mit der Blauen Hortensie. Bevor Mom gestorben war, hatte meine Familie alle freien Tage hier verbracht. Danach hatten wir manchmal Kat mitgenommen. Die Besuche hatten aufgehört, nachdem ich mit sechzehn zu ihr gezogen war.
Ich parkte das Auto auf einem der freien Stellplätze, band mir einen hohen Pferdeschwanz – nur um ihn gleich wieder zu lösen – und stieg aus. Kies knirschte unter meinen Ballerinas. Das Geräusch jagte mir eine Gänsehaut über die nackten Arme. In Gedanken hörte ich Frank vor mir herlaufen. Schwer bepackt mit Rutentasche und Klappstuhl, bohrten sich seine Schuhsohlen bei jedem Schritt in den steinigen Untergrund.
Fester, als es nötig gewesen wäre, schlug ich die Fahrertür zu, um mich in die Gegenwart zurückzuholen. Einer der Psalmen kam mir in den Sinn. Ich werde mich nicht fürchten, ermutigte ich mich. Doch es war Kats Stimme, die die Worte in meinem Geiste aussprach. Meine persönliche Mutmacherin.
Tief durchatmend setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis der Trampelpfad in Sicht kam, der durch das kleine Wäldchen zur Blauen Hortensie führte. Der leicht feuchte Boden dämpfte den Klang meiner Schritte, dafür hörte ich allerlei Vögel zwitschern. Die Wolkendecke riss für einen kurzen Moment auf. Sonnenstrahlen fielen vereinzelt durch die dichten Baumkronen. Es dauerte nicht lange, bis die Hütte in Sicht kam. Ihr Anblick löste die verschiedensten Gefühle in mir aus. Zerrissenheit, Wehmut, Trauer und allem voran Zorn.
Und da war natürlich Irritation. Wie immer. Denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum Frank sie Blaue Hortensie getauft hatte. An dem Gebäude war nichts in dieser Farbe zu finden. Von dem windschiefen, ausgeblichenen Holzschild über der Eingangstür einmal abgesehen, auf dem in krakeligen blauen Lettern der Name geschrieben stand.
In einigen Metern Entfernung kam ich stirnrunzelnd zum Stehen. Warum hatte ich meine Eltern nie danach gefragt?
Wie angewurzelt betrachtete ich die Hütte. Eine kleine, salbeigrün gestrichene Holzbrücke führte zur Haustür, da sie direkt in den steilen Abhang hineingebaut worden war. Doch die Natur versuchte sich das Land bereits zurückzuholen. Pflanzenranken schlängelten sich durch das Kreuzmuster der Seitenabtrennung und der Überdachung hindurch. Bestimmt hausten dort achtäugige Monster, die nur darauf lauerten, sich auf Besucher zu stürzen. Bei der Vorstellung schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Es hielt nicht lange an. Der Ausblick von der Veranda aus auf den See hinab war atemberaubend. Das hier war bis zu Moms Tod mein Lieblingsleseort gewesen. Ein nostalgisches Seufzen entwich mir.
»Kann man dir helfen?«, erklang hinter mir die Stimme eines Mannes.
Erschrocken fuhr ich mir über die feuchten Wangen, ehe ich mich umwandte. Mein Lächeln geriet schief und gefror mir im Gesicht. Das musste der Verwalter der Campinganlage sein. Nathan, der Nachlassverwalter, hatte mir zuvor in einer E-Mail mitgeteilt, dass ich hier jemanden zur Schlüsselübergabe treffen würde. Ich hatte mit einem alten Kauz gerechnet oder mit einem überengagierten Studenten, aber nicht mit ... ja, mit ihm. Einem Pfadfinder, allem Anschein nach. Zumindest kleidete er sich so. Die an den Knien abgetrennte Outdoorhose war mit kleinen Pins versehen, wahrscheinlich irgendwelche Abzeichen. Das unter den Armen durchgeschwitzte, beigefarbene Kurzarmhemd trug über der Brusttasche die Aufschrift B.I.G. – möglicherweise die Abkürzung seines Stammes? Lediglich das rote Halstuch fehlte, um das Bild in meinem Kopf zu vervollständigen.
Als sich unsere Blicke trafen, erschrak ich beinahe. Nichts hätte mich auf den Anblick dieser leuchtend aquamarinblauen Augen vorbereiten können. Moms Augenfarbe. Karibikblau, so würde ich sie in einem Buch beschreiben. Diese Farbe zog mich gegen meinen Willen mit in die Vergangenheit.
Ich saß auf der Veranda der Blauen Hortensie und las Der Herr der Fliegen für den Englischunterricht. Die Schiebetür zum Wohnbereich stand einen Spalt offen und ich hörte meine Eltern miteinander diskutieren. Es ging um die Jahreshauptversammlung der Hauseigentümer. Eigentlich hatten sie geplant, gemeinsam hinzugehen, aber Frank hatte den Termin vergessen und sich zum Angeln verabredet. Mom schien nicht glücklich, doch letztlich hörte ich, wie Dad ihr einen Kuss gab und das Haus durch die Vordertür verließ. Kurze Zeit später trat Mom zu mir nach draußen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie sich an das Verandageländer lehnte und den See betrachtete. Ihr Seufzen veranlasste mich dazu, das Buch sinken zu lassen. Mom massierte sich mit Zeige- und Mittelfinger die Schläfen, so als hätte sie Schmerzen. Dabei hatte ich Eindruck gehabt, dass ihre Migräneattacken seltener geworden seien.
»Soll ich heute mitkommen?«, fragte ich, was ihr ein sanftes Lächeln entlockte.
Sie verneinte, kam zu mir herüber, verabschiedete sich mit einem Wangenkuss und verließ allein die Blaue Hortensie. Ich wünschte, ich hätte sie aufgehalten – und sei es nur für wenige Minuten. Vielleicht hätte es alles verändert. Aber tragischerweise tat ich nichts und ihr Auto verunglückte. Sie starb allein.
Damals war ich noch jung. Es hieß, Details des Aussehens eines geliebten Menschen vergesse man mit der Zeit. An ihre Augenfarbe würde ich mich allerdings mein ganzes Leben lang erinnern.
»Alles okay?«
Ich blinzelte. »Was? Ja ... na klar!«
»O-kay ...«, entgegnete der Mann gedehnt, doch das breite Lächeln kehrte bereits auf seine Züge zurück. »Hast du dich verlaufen?«
»Nein.« Das Wort purzelte aus mir heraus, während mein Verstand immer noch versuchte, die vielen Eindrücke und Erinnerungen zu verarbeiten. »Die Hütte ...«, ich wies mit dem Daumen hinter mich, »gehört jetzt mir. Hast du die Schlüssel?«
Auf seiner Stirn erschien eine tiefe Falte. Dann brach er ohne Vorwarnung in Gelächter aus. »Was ist so lustig?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor.
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte er beschwichtigend. »Na ja, irgendwie doch. Aber eigentlich liegt es an mir. Noch mal auf Anfang.« Er räusperte sich, trat einen Schritt auf mich zu und streckte mir seine von Schwielen übersäte Hand entgegen. »Hi, ich bin Matt. Sorry für den schrägen Auftritt.«
Immer noch in Abwehrhaltung verzog ich missmutig den Mund. Aus zu Schlitzen verengten Augen musterte ich ihn für einige Sekunden. Es war sein ehrliches Lächeln, das mich schließlich den Ärger vergessen ließ. So gab ich mir einen Ruck und schlug ein. »Madison.«
»Madison«, wiederholte er und ich sah, wie für einen Moment Trauer seine Züge zeichnete. »Wie schön, deine Bekanntschaft zu machen.« Er zog die Hand weg und rieb sich über Kinn und Nacken. »Irgendwie dachte ich, du wärst ein Kerl.«
»Madison ist ein Unisexname«, entgegnete ich. Den Kommentar, bisher noch keinen Mann getroffen zu haben, der so hieß, sparte ich mir.
Er hob entschuldigend die Hände. »Wohl wahr. Aber als ich hörte, es gehe um die Blaue Hortensie, die meist von Anglern gemietet wird ... da dachte ich ...« Matt schüttelte den Kopf und mied meinen Blick.
»Frauen angeln auch«, sagte ich in vorwurfsvollem Tonfall.
Hatte er tatsächlich gerade geschnaubt?
»Ja, klar«, gluckste er.
Also hatte er definitiv geschnaubt. Was für ein Macho.
Annemarie Blenk
Annemarie Blenk, 1992 in Münster geboren, wuchs in einer kleinen Waldsiedlung im Taunus auf und lebt heute mit ihrer Familie bei Bad Kreuznach. Durch die Liebe zu Fantasy-Büchern entdeckte sie während des Abiturs ihre Leidenschaft zum Schreiben. Nach der Veröffentlichung von »Zwillingskronen« und »1001 Nadelstich« widmet sich die dreifache Mutter nun vermehrt romantischen Geschichten, die durch ihren christlichen Glauben geprägt sind.
Instagram: annemarie.blenk