Wenn eine konservative Buchhalterin bei einer freiheitsliebenden Sozialarbeiterin einzieht, fliegen die Fetzen – es sei denn, die beiden haben etwas gemeinsam.
Als Elisabeth kurz vor der Silberhochzeit ihren Mann beim Ehebruch ertappt, zerbricht ihre Welt in tausend Scherben. Ihr Zufluchtsort ist der abgeschiedene Bauernhof ihrer verrückten Schwägerin Anja, denn dort wird ihr Mann sie garantiert nicht vermuten. Zwischen herzlichem Chaos, bedingungsloser Annahme, Teenie-Dramen und unkonventioneller Lebensgestaltung findet Elisabeth allmählich wieder zu sich selbst. Doch woher soll sie die Kraft und Zuversicht für einen Neustart nehmen, wenn ihr ständig Steine in den Weg gelegt werden?
»Dieses Buch hat mich von der ersten Seite an völlig gepackt und mir sehr gefallen. Ich mochte einfach nicht aufhören zu lesen und war erstaunt, dass Lachen und Weinen so nahe beieinanderliegen können.« – Anna Hübner, Bloggerin von Annislesewelt
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»Ich werde dich so vermissen, Elisabeth!« Steffi schlang einen Arm um meine Taille, die Augen voller Tränen.
»Wir bleiben in Kontakt«, versicherte ich ihr, während ich das Weinglas in ihrer anderen Hand im Blick behielt, dessen Inhalt gefährlich schwappte.
»Aber es wird nie wieder so sein wie jetzt!« Sie ließ mich los und machte eine ausladende Geste, wobei sie Wolf aus Versehen gegen die Brust schlug.
Er verdrehte nur die Augen.
Widersprechen konnte ich ihr nicht.
Unsere Clique verbrachte den letzten Abend zusammen. Wir hatten gemeinsam studiert, gelitten, gefeiert und morgen würden wir uns in alle Winde zerstreuen. Wolf und ich waren die Einzigen, die in der Stadt blieben.
»Du kannst jetzt den ganzen Abend rumheulen«, sagte ich energisch, nahm Steffi das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. »Oder du feierst noch einmal so richtig, wie du es nur mit uns kannst.« Ich zwinkerte Wolf zu, packte ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche, wo wir von unseren Freunden johlend empfangen wurden. Innerhalb von Sekunden war die Melancholie vergessen. Wir hatten Grund genug zum Feiern. Alle hatten ihren Abschluss geschafft. Alle hatten bereits Jobangebote. Alle hatten eine Wohnung gefunden, mit Ausnahme von mir. Ich hatte mein Wohnheimzimmer noch nicht gekündigt. In dem ganzen Prüfungsstress war ich nicht dazu gekommen, mir eine Bleibe zu suchen, doch das war mir egal. Die Lernerei hatte sich gelohnt. Ich hatte den drittbesten Abschluss des Jahrgangs hingelegt. Wolf erzählte es jedem mit einem Stolz, als wäre es sein persönliches Verdienst, dass ich so gut abgeschnitten hatte. Es war mir schon fast peinlich, denn ich hätte es niemals so herumposaunt, wie er es tat. Gleichzeitig machte es mich froh, dass er sich nicht von mir übertrumpft fühlte, sondern sich für mich freuen konnte.
Mein Blick sprang zu ihm. Er stand noch am Tisch und beobachtete mich. Jedes Mal, wenn ich zu ihm sah, trafen sich unsere Blicke. Als würde er seine Augen keine Sekunde von mir abwenden können. Ich genoss die Aufmerksamkeit, auch wenn ich es schade fand, dass er nicht tanzte.
»Meinst du, ich will mich blamieren?«, hatte er mal gesagt. »Die Leute werden sich fragen, was diese tolle Frau mit so einem unbeholfenen Tölpel will.«
Jetzt tanzte ich zu ihm, legte ihm die Arme um den Hals und sah ihm tief in die Augen. »Sicher, dass du nicht tanzen möchtest?«
Sein Lächeln lockte mich noch näher an ihn heran. »Wer weiß«, sagte er dicht an meinem Ohr. Sein Atem verursachte ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut.
Gespannt löste ich mich von ihm und kehrte auf die Tanzfläche zurück, doch er folgte mir nicht. Egal. Ihn würde ich noch länger um mich haben, die anderen nicht.
Es war schon weit nach Mitternacht, als das Licht im Saal gedämpft wurde. Unsere Truppe protestierte lautstark. Wir waren nicht in der Stimmung für eine Schmuserunde, doch um uns herum fanden sich sofort Paare zusammen, die scheinbar nur darauf gewartet hatten, sich eng umschlungen im Rhythmus zu wiegen.
Ich spürte Hände auf meinen Hüften und fuhr herum. Wolf stand hinter mir.
»Was …?«
Er zog mich an sich.
»Du brichst mit deinen Prinzipien?«, fragte ich atemlos.
»Vielleicht«, murmelte er geheimnisvoll und begann tatsächlich zu schunkeln.
Ich konnte mein Glück kaum fassen und schmiegte mich eng an ihn, bevor er sich noch umentschied. Um uns herum erklang lautes »Ohhh« und »Ahhh«, begleitet von Gelächter und einigen frechen Bemerkungen. Jeder wusste, wie eisern Wolf sich bisher geweigert hatte, eine Tanzfläche zu betreten. Es war mir ein Rätsel, warum. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich mit einem unbeholfenen Tölpel tanzte.
Plötzlich wurde es hell. Erschrocken schaute ich mich um. Ein Scheinwerfer war auf uns gerichtet und Wolf grinste von einem Ohr zum anderen. Mein Herz stolperte kurz und raste dann los, als wäre ich in größter Gefahr. Fassungslos schaute ich zu, wie der Mann, der mich eben noch im Arm gehalten hatte, vor mir auf ein Knie sank. Die Musik wurde leiser, aber von allen Seiten hörte ich unterdrücktes Kreischen, lautes »Psssst« und »Halt die Klappe«. Ich schlug die Hände vor den Mund und starrte Wolf an.
Er wartete geduldig, bis es einigermaßen ruhig war. »Elisabeth«, sagte er klar und deutlich, »möchtest du meine Frau werden?« In seiner Hand erschien ein aufgeklapptes Kästchen mit einem Ring.
Atemlose Stille folgte. Mir wurde schwindelig. Alle sahen mich an, wie ich da im Spotlight stand und hektisch dachte: Er hat das geplant! Er hat das alles geplant! Nur für mich! Erst dann fiel mir ein, dass ich vielleicht antworten sollte.
»Ja!«, schrie ich und warf mich unter aufbrandendem Jubel in seine Arme. Zum Glück war er schnell genug wieder auf den Füßen, um mich aufzufangen und leidenschaftlich zu küssen.
Ich konnte es kaum glauben. Es war perfekt. Alles, was ich mir je erträumt hatte, wurde wahr. Wolf liebte mich nicht nur, er wollte mich heiraten! Wir würden gemeinsam in die Zukunft starten, in unsere Zukunft, Seite an Seite leben und arbeiten, uns gegenseitig stützen und ergänzen. Ich brauchte mir gar keine Wohnung zu suchen, weil ich bei ihm wohnen würde. Alles fügte sich zusammen wie ein Puzzle.
Glückwünsche regneten auf uns herab. Wie ihm Traum fand ich mich mit einem Glas Sekt in der Hand wieder, während Steffi mich drückte und immer wieder »Das ist so unglaublich romantisch!« rief.
»Du wirst meine Trauzeugin, das ist dir ja wohl klar«, sagte ich und stieß mit ihr an.
Wolf ließ mich den Rest der Nacht nicht mehr los. Er hätte mit tausend Worten nicht deutlicher sagen können, dass wir zusammengehörten. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so glücklich.
Vierundzwanzig Jahre später …
Ich schluckte mehrmals, um die Enge in meiner Kehle zu vertreiben. Das Handy landete auf dem Tisch und stieß gegen die Gabel, die dadurch nicht mehr exakt parallel zum Messer lag. Einen wilden Moment lang war ich versucht, den Teller an die Wand zu werfen. Das Piepsen des Ofens hielt mich davon ab.
Wie ferngesteuert ging ich in die Küche und schaltete ihn aus. Der Braten musste jetzt noch zehn Minuten ruhen. Eigentlich hatte ich in der Zeit die Spätzle mit Butter in der Pfanne durchschwenken und den Salat anmachen wollen, aber das konnte ich mir jetzt wohl sparen. So viel zum Thema »Ich überrasche meinen Mann mit einem schönen Abendessen«. Ich lehnte mich an den Türrahmen der Küche und starrte auf den festlich gedeckten Tisch. Natürlich würde ich nie im Leben das teure Hochzeitsgeschirr an die Wand werfen.
Bevor ich im Selbstmitleid versinken konnte, klingelte es. Wer konnte das sein?
Ein Blick durch die Glaseinsätze unserer Haustür verriet mir, dass meine Schwägerin draußen stand. Was um alles in der Welt wollte die denn hier? Ich schloss kurz die Augen, um mich gegen die ästhetischen Verirrungen zu wappnen, die mit Anja einhergingen. Wie man auf die Idee kommen konnte, lila Birkenstocksandalen und rosa Zehennägel mit einer grün gemusterten Pluderhose und einer überdimensionalen rot-braunen Strickjacke zu kombinieren, war mir ein Rätsel. Wenigstens waren die Haare heute nicht blau wie damals beim siebzigsten Geburtstag ihres Vaters, sondern orange. Das passte immerhin zu dem Strickungetüm.
Ich öffnete die Tür und zwang ein Lächeln in mein Gesicht. »Hallo Anja, was für eine Überraschung.«
»Tachchen! Ich war grad in der Gegend und dachte, ich schnei mal bei dir rein.« Sie schob sich an mir vorbei.
Ich war so überrascht, dass ich die Tür hinter ihr schloss. Normalerweise setzte Anja keinen Fuß in unser Haus.
»Ui, das riecht ja himmlisch!« Ihre unförmige, selbst gehäkelte Handtasche plumpste neben der Garderobe auf den Boden.
»Komm doch rein«, sagte ich überflüssigerweise, denn Anja stand schon im Esszimmer.
»Gibt’s was zu feiern?«
Ich seufzte. »Nur den Start ins Wochenende.«
Sie drehte sich zu mir um und sah mich prüfend an. »Hat mein Bruderherz dich versetzt?«
Wieder schnürte sich mir die Kehle zu. »Ihm ist etwas Geschäftliches dazwischengekommen.«
»Was Geschäftliches, soso. Am Freitagabend.« Sie zog eine Augenbraue hoch.
Ich erwiderte nichts und ging so locker wie möglich in die Küche. Das Essen war fast fertig. Wenn Anja schon hier war, konnte sie auch mitessen. Dann war ich wenigstens nicht allein. »Hast du etwas Zeit mitgebracht? Ich hätte hier einen Braten mit Spätzle, Soße und einen schön frischen Feldsalat im Angebot.«
»Da sag ich nicht Nein! Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal an einer so hübsch gedeckten Tafel gegessen habe. Deko ist echt dein Ding, oder? Ich bin da sowas von nutzlos.« Anja kam in die Küche. »Kann ich dir was helfen?«
Die Frage war so ungewohnt, dass ich wie eine Idiotin mit der Pfanne in der Hand dastand und meine Schwägerin anstarrte.
»Ist die Salatsoße schon fertig?«
Ich nickte.
»Cool.« Anja kippte die Soße in die Salatschüssel und trug sie ins Esszimmer. Dann kam sie zurück und goss ungefragt die Bratensoße in die Sauciere, die ich schon bereitgestellt hatte. Auch die brachte sie zum Tisch.
Ich beeilte mich mit den Spätzle und schnitt den Braten auf. Es war jedes Mal ein Augenblick der Genugtuung, wenn mir das Innere zartrosa entgegenleuchtete.
»Wo darf ich sitzen?«, fragte Anja. Ihre Hände lagen auf meinem Stuhl.
»Wo du möchtest«, überwand ich mich zu sagen, obwohl mir bei dem Gedanken, auf Wolfs Platz zu sitzen, eine Gänsehaut über die Arme jagte.
Anja schaute mich schon wieder so prüfend an. War das Mitleid in ihrem Blick? Was auch immer es war, sie ging um den Tisch herum und überließ mir meinen Platz. Ob mir das jetzt lieber war, wusste ich selbst nicht.
»Ich schätze, du betest vor dem Essen?«, fragte sie.
»Natürlich.« Angesichts ihres amüsierten Grinsens verzichtete ich darauf, laut zu beten. Ich schloss kurz die Augen, sagte meinen Dank im Stillen und legte dann das Handy auf die Fensterbank, ehe ich Anjas Teller füllte.
»Das ist wirklich ein Gedicht, Elisabeth«, schwärmte Anja. »Da kann ich Wolfgang direkt dankbar sein, dass er …« Sie zögerte kurz. »Dass ihm was dazwischengekommen ist.«
Ich erwiderte nichts. Was sollte ich auch dazu sagen? Zumal es mir immer noch seltsam erschien, dass sie so plötzlich hier aufkreuzte. Zwischen ihr und meinem Mann herrschte seit Jahren Funkstille – und damit auch zwischen uns.
»Wolltest du etwas mit ihm besprechen?«, fragte ich.
»Mit Wolfgang? Nein.« Sie klang, als wäre das vollkommen absurd.
Wolf hätte vermutlich ähnlich reagiert. Er machte kein Hehl daraus, dass er seine jüngste Schwester für einen hoffnungslosen Fall hielt. Das schwarze Schaf der Familie.
»Kommt das öfter vor?«, fragte sie.
»Was?«
»Dass ihm was dazwischenkommt.«
»Ach, du weißt doch, wie das ist, wenn man selbstständig ist – selbst und ständig.«
»Hat er irgendwas dazu gesagt, was ihn jetzt aufgehalten hat?«
Ich zog die Stirn kraus. Dafür, dass wir so gut wie noch nie länger miteinander gesprochen hatten, war sie ganz schön neugierig. »Ein Geschäftspartner ist auf der Durchreise und wollte die Gelegenheit nutzen, sich mit ihm zu treffen.«
»M-hm.« Wieder so ein Blick. »Und das glaubst du ihm.«
Ich biss die Zähne zusammen und atmete ein paar Mal tief durch. »Warum sollte ich meinem Mann nicht glauben?« Ich zuckte innerlich zusammen, weil ich dabei so arrogant klang.
Sie hob nur eine Schulter und schob sich noch ein Stück Braten in den Mund. Für den Rest der Mahlzeit beschränkte sie sich darauf, mir immer wieder zu versichern, wie gut alles schmecke.
Es versöhnte mich etwas. Nein, wenn ich ehrlich war, tat es mir unendlich gut. Wolf hätte das Essen in sich hineingeschlungen, während er mir von seinen Erfolgen des Tages erzählt hätte. Irgendwann hätte ich gefragt, ob es ihm schmecke, und dann hätte er »aber natürlich, Mutti« gesagt. Manchmal, wenn er einen anstrengenden Tag gehabt hatte, sagte er auch nur: »Wenn es nicht schmecken würde, würde ich es wohl kaum essen.«
Anja half mir, den Tisch abzuräumen. Auch das war ungewohnt. Es irritierte mich mehr, als es sollte, dass sie die Teller auf der falschen Seite in die Spülmaschine stellte. Ich schaffte es nicht, sie dort stehen zu lassen. Als Anja bemerkte, dass ich alles umsortierte, fing sie an zu lachen.
»Was?«, fragte ich gereizt.
»Och, nichts, alles gut. Deine Spülmaschine, deine Regeln.« Sie sah sich in der Küche um. »Weißt du, was mir noch fehlt? Ein Gläschen Wein.«
»Bist du nicht mit dem Auto hier?«
»Mit dem Fahrrad. Aber ich sprach von einem Gläschen; besaufen wollte ich mich jetzt nicht.«
Ich zögerte. Wir hatten Wein da, das war nicht das Problem. Wollte ich, dass sie es sich hier noch richtig gemütlich machte? Was würde Wolf sagen, wenn er nach Hause kam und seine Schwester vorfand? Ich warf einen Blick auf die Uhr. Erfahrungsgemäß würde er nicht vor zehn kommen. Genug Zeit, um meine Schwägerin vorher hinauszukomplimentieren.
»Kleinen Moment«, sagte ich und lief in den Keller.
Als ich mit der Flasche wieder nach oben kam, hatte Anja bereits zwei Weingläser auf den Tisch gestellt. Wie viele Schränke hatte sie aufgemacht, bevor sie die gefunden hatte? Die Flasche machte ich in der Küche auf, um mich wieder in den Griff zu kriegen. Diese ganze Situation brachte mich an meine Grenzen. Wolf und ich empfingen nur gemeinsam Besuch. Wir waren ein eingespieltes Team und es war für mich ungewohnt, sowohl zu bewirten als auch zu unterhalten. Normalerweise war mein Mann für die Unterhaltung zuständig. Er hätte es keinesfalls geduldet, dass ein Besucher unsere Schränke durchstöbert, auch oder sogar gerade bei seiner Schwester nicht.
»So, bitte sehr«, sagte ich, während ich Anja einschenkte.
»Danke.« Sie schwenkte den Wein im Glas und roch erst daran, bevor sie einen Schluck nahm. »Mmm, der ist gut.«
Fast hätte ich »selbstverständlich« gesagt, aber das wäre unhöflich gewesen. Stattdessen lächelte ich und setzte mich wieder. Worüber sollte ich jetzt mit ihr reden? Wir hatten so wenig miteinander zu tun, dass ich nicht einmal wusste, was sie beruflich machte. Nur dass sie auf einem alten Bauernhof außerhalb der Stadt wohnte, wusste ich, weil Wolf sich schon oft darüber echauffiert hatte. Der Hof hatte seiner Großmutter gehört und er und sein Bruder hatten ihn nach deren Tod verkaufen wollen. Anja hatte sich massiv dagegen gewehrt und ihre Brüder schließlich ausbezahlt, was sie fast in den Ruin getrieben hatte.
»Ich bin nicht ganz so zufällig hier, wie ich vorgegeben habe«, sagte Anja in meine Gedanken hinein.
»Wie bitte?«
»Was ich dir jetzt sage, wird dich vermutlich ziemlich schocken, aber ich kann das nicht länger mit ansehen. Du musst einfach Bescheid wissen.«
»Wovon redest du?« Die Wärme, die sich nach dem ersten Schluck Wein in meinem Magen ausgebreitet hatte, schien sich zusammenzurollen und zu einem Eisklumpen zu erstarren.
Anja hatte ihre so oberflächlich wirkende Fröhlichkeit abgelegt und schaute mir ernst in die Augen. »Ich war eben in der Stadt und habe deinen Mann gesehen.«
»Und?«
»Und es kann ja durchaus sein, dass sein Geschäftspartner, der so überraschend auf der Durchreise ist, weiblich ist.«
Ich schluckte.
»Aber dass die ein geschäftliches Treffen bei der Thai-Massage abhalten, wage ich zu bezweifeln.«
Ich stellte das Weinglas auf den Tisch, bevor es mir aus der Hand rutschen konnte. »Das ist nicht wahr.«
»Doch, Elisabeth, das ist wahr. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich Wolfgang mit irgendeiner Frau in der Stadt gesehen habe. Ich könnte dir nicht sagen, ob es immer die gleiche war. Bisher war es nie so, dass es nicht auch geschäftlich hätte sein können, deswegen habe ich die Klappe gehalten. Aber bei einer Partner-Massage hört der Spaß auf. Insbesondere, wenn ich mir das hier alles so ansehe.« Ihre Geste umfasste den Tisch mit der Kerze, den Blumen und dem schicken Läufer, den ich extra vorher noch gebügelt hatte.
Ich legte meine Hände auf die Oberarme, denn ich spürte, wie ich zu zittern begann.
»Wolfgang betrügt und belügt dich, Elisabeth. Er behandelt dich wie den letzten Dreck und auch wenn es mir keinen Spaß macht, diejenige zu sein, die dir das steckt, kann ich das nicht länger verschweigen. Ich weiß, wir stehen uns nicht nahe und ich habe absolut Verständnis dafür, wenn du mir nicht glaubst. Überprüf es. Oder ignorier es und mach so weiter wie bisher. Das ist ganz allein deine Entscheidung. Aber wenn du Hilfe brauchst, egal, was es ist, dann kannst du jederzeit zu mir kommen. Tag und Nacht. Hast du das verstanden?«
Nein, schrie eine Stimme in mir. Nein, das ist nicht wahr! Er liebt mich. Wir führen eine gute Ehe! Anja irrt sich. Sie interpretiert irgendwelche Sachen in eine völlig harmlose Situation hinein. Es gibt bestimmt eine Erklärung!
»Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.« Meine Stimme klang überraschend ruhig, wenn auch sehr abweisend.
Anja trank noch einen Schluck Wein und stand auf. »Ich bin für dich da. Tag und Nacht«, wiederholte sie.
Ich begleitete sie nicht hinaus, hörte nur, wie die Tür ins Schloss fiel.
Annette Spratte
Annette Spratte lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Westerwald bei Altenkirchen. Aus einer tiefen Liebe zum geschriebenen Wort heraus arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Ihre im Westerwald angesiedelten historischen Romane erfreuen sich großer Beliebtheit. Daneben hat sie auch in anderen Genres veröffentlicht, u.a. die Kinderbuchreihe „Jabando“.
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