»Sie haben einen schönen, gesunden Jungen.«
Kit drehte sich auf die Seite und starrte die Wand an. Die Umrisse ihres Körpers waren unter der dünnen, abgenutzten Decke gut zu erkennen: Sie war dürr, fast ausgemergelt und wirkte, als habe sie schon lange vor diesem Tag ihre Kraft und Lebensfreude verloren.
»Ich möchte, dass Sie anfangen, den Kleinen zu stillen.« Catherine hatte den Säugling fertig eingewickelt, dessen lautes Weinen jetzt, da er es warm und kuschelig hatte, einem leisen Wimmern gewichen war. Sie drehte Kit auf den Rücken, hielt ihr das Baby hin und betete, dass sich durch das Stillen die Gebärmutter zusammenzog und der Blutfluss aufhörte.
Aber Kit bewegte sich nicht, sie schlug nicht einmal die Augen auf.
Diese Lethargie war kein gutes Zeichen.
Catherine blickte sich suchend nach einem Platz für den Säugling um, damit sie Kit versorgen konnte. Außer dem Bett und einem wackeligen Nachttisch gab es in dem Zimmer keine Möbel. Eine abgenutzte Reisetasche, die vermutlich Kits ganze Habseligkeiten enthielt, war unter das Bett geschoben.
Catherine zog die Tasche hervor und fand darin zusammengeknüllte Kleidungsstücke und ein Paar Schuhe. Schnell formte sie aus der Kleidung eine Art Nest und legte das Baby hinein. Der Kleine quengelte protestierend, doch darauf konnte sie im Moment keine Rücksicht nehmen.
Catherine nahm eine braune Flasche mit einer Tinktur aus Frauenwurzel, Hirtentäschel und anderen Kräutern, die Kit hoffentlich helfen würde.
Als sie versuchte, Kit dazu zu bewegen, sich aufzusetzen, wehrte sich die junge Mutter mit überraschender Kraft.
»Bitte, Kit. Trinken Sie diese blutstillende Medizin.«
Kit kniff die Lippen zusammen und drehte sich wieder zur Wand. »Ich werde sowieso sterben, egal was Sie machen.« Große Bitterkeit lag in der Stimme der jungen Mutter.
Einen Moment lang wusste Catherine nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wollte nicht zugeben, dass Kit recht hatte. Bei der Blutmenge, die sie bereits verloren hatte und immer noch verlor, sank ihr Blutdruck und ihr Körper würde bald mit Schock reagieren.
Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war Catherine für eine Hebamme sehr jung, aber da sie ihrer Großmutter und Mutter so viele Jahre assistiert hatte, hatte sie mehr Erfahrung als manche Hebamme, die doppelt so alt war wie sie.
Sie drehte die Frau wieder auf den Rücken. Kit wog nicht viel und ließ sich mühelos bewegen, da sie zu schwach war, um sich zu wehren. »Ihr Baby braucht Sie. Deshalb werden wir alles tun, damit Sie für Ihren kleinen Sohn am Leben bleiben.«
Kit schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann ihm nicht das Leben bieten, das er braucht. Nicht hier.«
»Was ist mit dem Vater des Kindes? Vielleicht kann er helfen.«
Kit starrte zur Zimmerdecke hinauf und ihre Miene wurde traurig. »Er hat mich sitzen gelassen.«
»Dann wissen Sie, wer er ist?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut sicher.« Kits Stimme war nur ein leises Flüstern.
»Wenn Sie sicher sind, wer der Vater Ihres Babys ist, schlage ich vor, dass Sie Kontakt zu ihm aufnehmen, ihn um Unterstützung bitten und ihn für sein Tun zur Verantwortung ziehen.«
»Das kann ich nicht. Er wohnt nicht mehr in Chicago. Er ist ins Colorado Territory zurückgekehrt.« Jetzt schlug Kit die Augen auf. »Bitte bringen Sie das Baby zu seinem Vater. Er hat eine Familie, die ihm helfen wird, das Kind aufzuziehen.« Kits Bitte war klar und unmissverständlich. In ihre Augen trat eine so starke Hoffnung, dass Catherine versucht war, ihr alles zu versprechen, nur um diese Hoffnung am Leben zu erhalten.
Aber die Ehrlichkeit siegte. »Das ist nicht möglich.«
Kits Griff wurde stärker. »Sie sind eine gute Frau. Sie können das. Ich weiß, dass Sie sich gut um Austin kümmern werden.«
»Austin?«
»Ich nenne das Baby nach dem Vater seines Vaters.«
»Bitte? Bringen Sie Austin zu ihm?« Kits Flüstern wurde immer schwächer und ihr Atem immer flacher. Sie hatte so viel Blut verloren, dass ihre Organe ihren Dienst einstellten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie starb. Mit ihrer letzten Kraft bemühte sie sich, dafür zu sorgen, dass ihr Kind in gute Hände kam.
Kit warf einen Blick auf Austin, der immer noch in der Reisetasche lag. »Er sieht genauso aus wie sein Vater.«
Das Baby hatte dunkelbraunes Haar, ein schönes Gesicht und starke, markante Gesichtszüge. Catherine sah in dem Kind nicht viel von Kit und vermutete, dass es tatsächlich seinem Vater ähnelte.
»Er braucht nur einen Blick auf Austin zu werfen, dann weiß er, dass er sein Sohn ist.« Kit schloss die Augen und eine starke Erschöpfung zeigte sich auf ihrem Gesicht.
Catherine setzte sich auf die Bettkante und streichelte die Stirn der jungen Frau. Ihre Haut war kalt, da sie nicht mehr mit genügend Wärme versorgt wurde.
»Bitte. Ich flehe Sie an.«
Catherine strich mit den Fingern durch Kits Haar und wehrte sich gegen die Verzweiflung, die sie jedes Mal befiel, wenn sie eine Patientin verlor.
»In der Tasche ist auch ein Tagebuch. Darin stehen die nötigen Informationen über seinen Vater.«
Kit schaute mit einer solchen Verzweiflung zu Catherine hinauf, dass sie es nicht übers Herz brachte, Nein zu sagen. Aber wie konnte sie einwilligen, nach Colorado zu fahren und das Baby seinem Vater zu bringen?
Catherine bemühte sich zu lächeln. »Ich werde mein Möglichstes tun.« Mehr würde sie nicht versprechen.
Diese Worte genügten Kit offenbar, denn sie schloss die Augen, sank auf die Matratze zurück und atmete tief aus. Als sie nicht wieder einatmete, atmete Catherine ebenfalls mit einem tiefen Seufzen aus.
Die Hand der Frau rutschte aus Catherines Hand und sank auf die Matratze. Kit war tot.
Fairplay, Colorado, Mai 1871
Dylan McQuaid ließ seinen Blick über die Hügel schweifen, die mit Felsen und Kiefern übersät waren. Der Löwenzahn blühte leuchtend gelb, teilweise direkt neben den Schneehaufen, die noch nicht alle geschmolzen waren. Das Gras wurde allmählich grün. Heute hatte er sogar schon einen Schmetterling gesehen. Der Frühling hielt im Hochland Einzug, wenn auch später als in den tiefer liegenden Regionen. Aber der Anblick der Natur war unvergleichlich schön.
»Danke, dass ich hierher zurückkommen durfte. Danke, dass du mir eine zweite Chance gibst.« Sein geflüstertes Gebet hing in der friedlichen Stille, nur unterbrochen durch das Plätschern eines Bachs, der durch die Schneeschmelze gespeist wurde.
In solchen Momenten konnte er nur verwundert staunen, dass er wieder zu Hause sein durfte, dass er ein freier Mann war und dass der Bezirk ihn sogar zum Sheriff gewählt hatte.
Der Sheriffstern an seiner Jacke hatte seine Brüder sichtlich stolz gemacht. Er hatte diese Stelle seit einigen Monaten inne und konnte sich gut vorstellen, dieses Amt langfristig auszuüben. Er würde gern dauerhaft als Sheriff arbeiten, damit seine Brüder auch weiterhin stolz auf ihn sein konnten. Aber auch, damit er wieder ein wenig Selbstvertrauen zurückgewann.
Dylan bemühte sich nach Kräften, allen zu beweisen, dass er sich geändert hatte. Aber vor ihm lag immer noch ein weiter Weg.
Mit dem Lederhandschuh an seiner Hand polierte er den silbernen Stern an seiner Weste, auf dem das Wort Sheriff eingraviert war. Seit dem Tag, an dem er aus Chicago weggegangen war, hatte er kein einziges Mal zurückgeblickt.
Als er sein Pferd vor dem Sheriffbüro zum Stehen brachte, trat sein Hilfssheriff Stu aus dem Haus und zog die Tür hinter sich zu. Mit seinem struppigen, braunen Schnurrbart, seinen langen Koteletten und seinem wild wuchernden Vollbart hatte der Mann genug Haare im Gesicht, um einem Elch Konkurrenz zu machen. Im Grunde sah Stu nicht nur aus wie ein Elch, er war auch genauso mürrisch. Als Gott Stu erschaffen hatte, hatte er es offenbar versäumt, diesem Mann auch nur ein Quäntchen Humor zu verleihen. Der Hilfssheriff konnte weder lachen noch lächeln – selbst dann nicht, wenn ihm jemand dafür Gold anbieten würde.
Stu trat von der Tür weg. »Es gibt Schwierigkeiten. Jemand ist aus Chicago gekommen und will dich sprechen.« Stu nahm das Zaumzeug des Pferdes.
»Aus Chicago?« Warum in aller Welt sollte jemand aus Chicago ihn sehen wollen? Außer Jericho Bliss hatte er dort keine Freunde gehabt. Alle anderen hatten sich nur für ihn interessiert, weil sie sich einen Vorteil davon versprochen hatten, da er überall, wohin er gekommen war, Leben in die Bude gebracht hatte. Aber keiner dieser Menschen war treu oder loyal gewesen. Und keinen hatte es interessiert, als er weggegangen war. Wer sollte ihn also jetzt besuchen? Nach so vielen Monaten?
Er legte die Hand auf seinen Revolvergriff, als könnte ihm das irgendwie den Mut geben, den er brauchte, um ins Haus zu gehen und sich den Geistern aus seinem früheren Leben zu stellen. Er würde die Sache schnell erledigen, seinem Besucher die nötigen Informationen geben und den Mann dann wieder fortschicken.
Mit klirrenden Sporen marschierte er auf die Tür zu.
»Sie stellt eine ziemlich schwerwiegende Behauptung auf.«
»Sie?« Dylan blieb abrupt stehen, drehte sich um und schaute Stu fragend an.
»Ja. Sie.« Die Besorgnis in Stus Augen beunruhigte Dylan erneut.
»Hat sie ihren Namen genannt?«
»Nein. Ich habe sie auch nicht danach gefragt.«
Warum kam eine Frau aus Chicago den weiten Weg in den Westen, um ihn zu sehen? Was hatte er dieses Mal ausgefressen?
»Du solltest lieber hineingehen. Sie wartet schon eine ganze Weile.«
Dylan verkrampfte die Hände um seine Revolvergriffe, stählte sich und trat ein.
Das Innere des Büros wurde von der Spätnachmittagssonne beleuchtet, die durch die vorderen Fenster schien.
Die Frau saß mit dem Rücken zu ihm auf dem Stuhl neben seinem Schreibtisch. »Danke, Hilfssheriff Gunderson. Stellen Sie das warme Wasser bitte auf den Schreibtisch.«
Dylan schloss leise die Tür hinter sich.
Die Frau trug einen eleganten Hut, der ihm den Blick auf ihr Gesicht versperrte. Aber er konnte sehen, dass sie ein maßgeschneidertes Kostüm trug, das genauso modisch war wie ihr Hut – dunkelgrün mit Samtbesatz. Elegant und vornehm. Zu elegant und vornehm für die Frauen, die er in Chicago gekannt hatte.
Er öffnete seine unbewusst zu Fäusten geballten Hände, um die Anspannung daraus zu vertreiben.
»Haben Sie den Sheriff schon gesehen?«, fragte sie, während sie sich über ein Bündel auf ihrem Schoß beugte.
»Ja, ich habe ihn schon das eine oder andere Mal gesehen.« Er konnte das Necken in seiner Stimme nicht verhindern.
Sie fuhr auf ihrem Stuhl zusammen, da sie offenbar mit Stu gerechnet hatte. Sie drehte den Kopf und zeigte ihm ihr schönes Gesicht mit einem rundlichen Kinn und weichen Wangen, einer hübschen Stupsnase und vollen Lippen. Ihre Augen waren besonders schön, ein leichtes Grün, das einen aufmerksamen, intelligenten Geist verriet. Sie waren groß, von dunklen Wimpern umrahmt, und schauten ihn überrascht an.
»Sie sind nicht Hilfssheriff Gunderson.«
Dylan setzte sein charmantestes Lächeln auf. »Gott sei Dank nicht.«
Statt ihn ebenfalls anzulächeln, wie er gehofft hatte, musterte sie ihn von seinem verstaubten Hut bis hinab zu seinen abgestoßenen Stiefelspitzen mit einem kritischen Blick. »Dylan McQuaid?«
Ihr Tonfall veränderte sich und klang wie der eines Richters, der gleich sein Urteil verkünden würde. Etwas verriet ihm, dass die Sache schlimmer werden würde, als er gedacht hatte. Er hatte den plötzlichen Drang zu leugnen, dass er Dylan McQuaid war, die Tür aufzureißen und eilig das Weite zu suchen.
Aber das war etwas, das der alte Dylan getan hätte, nicht der anständige Mann Gottes, der er immer mehr sein wollte. »Ja. Dylan McQuaid. Zu Ihren Diensten.«
Sie stand auf und bewegte etwas in ihren Armen. Als sie sich umdrehte, erkannte er, dass dieses Etwas ein Baby war. Sie legte sanft eine Decke um das Kind und blickte es so zärtlich an, wie es nur eine Mutter konnte.
Als sie fertig war, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Sie schaute ihn fast verächtlich an und hob das Kinn, dass sie so majestätisch wie eine Königin aussah – auch wenn er natürlich noch nie eine Königin gesehen hatte. Sie hielt den Säugling so, dass er ihn sehen konnte. »Mr McQuaid, ich möchte Ihnen Ihren Sohn vorstellen.«