1. September 1922
Stella
Meine behandschuhte Rechte war in die Höhe gereckt, so als wollte ich mit den Fingern den Rand des Himmels berühren, aber eine falsche Bewegung würde mich zweihundertfünfzig Meter abwärts auf die Erde schleudern. Unten drängten sich Schaulustige auf einem großen Feld und reckten die Hälse, während sie in die Nachmittagssonne blinzelten. Nur, um die verrückte Frau zu sehen, die auf dem Flügel eines Doppeldeckers der Curtiss Aeroplane Company der Gefahr zuzwinkerte und mit dem Risiko flirtete.
Mit den Stiefeln fest auf der Tragfläche wiegte und beugte ich mich mit den Bewegungen des Flugzeugs und wurde eins mit der »Jenny«, wie die Curtiss JN-4 liebevoll genannt wurde.
Wir zogen mit einhundert Stundenkilometern über den Himmel – was schon auf dem Boden eine schwindelerregende Geschwindigkeit war und in dieser Höhe erst recht.
Stella! Du bist verrückt!, sah ich Tex in seinem sicheren offenen Cockpit sagen.
Auch wenn der schnurrbärtige Pilot vermutlich sauer war, weil ich aus meinem Sitz geklettert war, bevor wir den höchsten Punkt erreicht hatten, kannte er mich noch nicht lange genug, um eine solche Einschätzung vorzunehmen. Er kannte nicht einmal meinen wahren Namen.
Der schlaksige Mann hatte mich nach der Flugschau an diesem Morgen angesprochen und behauptet, der beste Pilot zu sein, der je an einem Steuerknüppel gesessen hat.
Er hatte gelogen.
Denn den besten Piloten hatte ich geheiratet. Und dann war ich Witwe geworden, noch bevor mein Hochzeitskleid seinen Glanz verloren hatte. Ich verschloss die Trauer in meinem Herzen und zwang mich zur Konzentration. Zum Glück schien Tex wirklich gut mit der Jenny umgehen zu können, sonst hätte ich mich nicht auf die Tragfläche gewagt. Oder vielleicht doch.
Wenn es Turbulenzen gab, musste ich mich nur hinknien und mich an der Strebe festhalten, die sich in Reichweite befand. Das Flugzeug stieg höher, fast vierhundertfünfzig Meter hoch.
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich zerrte meine Entschlossenheit aus den Tiefen meiner Seele und machte einen Schritt vorwärts. Dann noch einen. Ein Stoß erschütterte das Flugzeug. Ich widerstand dem Drang, mich vorzubeugen und anzuspannen. Stattdessen blieb ich ganz ruhig stehen und passte mich an den neuen Winkel an, als wäre der Flügel fest mit meinen Füßen verbunden. Gut, dass Tex die Lenkung nicht ruckartig betätigt hatte. Eine einzige panische Bewegung hätte mich aus dem Gleichgewicht bringen und in die schneidenden Blätter des Propellers schleudern können.
Ich tat die letzten beiden Schritte, sodass ich fast am äußeren Rand der Tragfläche stand, und ließ den Blick über die Menge unter mir schweifen.
Diese Leute hatten keine Ahnung, wen sie da anstarrten. Mein Stunt in der Luft war nicht meine einzige Show. Und auch nicht die gefährlichste. Diese Vorführung hatte eigentlich schon begonnen, als ich vor meinem alten Leben geflohen war. Ich hatte die zarte Persönlichkeit der goldblonden Geneva Ashcroft Hayes, des Lieblings der gehobenen Gesellschaft, abgelegt, um die schwarzgelockte Stella Starling zu werden – Stunt-Akrobatin der Himmel.
Ich sah zu Tex hinüber. Er gab mir ein Zeichen, ich solle die Reißleine ziehen, und zeigte dann auf mein leeres Cockpit. Was bedeutete, dass ich entweder den Fallschirm öffnen oder in meinen Sitz zurückklettern sollte. Als wären das meine einzigen beiden Optionen.
Stattdessen streckte ich die Arme aus und spreizte die Finger. Der Wind schlug mir entgegen wie ein heißer Atem. Ich schloss die Augen. Dunkel breitete sich aus, aber ich hatte keine Angst davor. Nicht mehr. Seit die Dunkelheit mir Warren aus den Armen gerissen hatte, kämpfte ich mit den Schatten. Und so nah an den Wolken hatte ich das Gefühl, ihn um mich zu spüren. Wenn ich doch nur höher greifen und den samtblauen Vorhang des Himmels zur Seite ziehen könnte, um das Gesicht meines Mannes zu sehen und sein neckendes Lächeln, wenn er mich Eva nannte. Den bernsteinfarbenen Schimmer in seinen dunklen Augen, wenn sie das Licht auf eine bestimmte Weise reflektierten.
Meine Schläfen pochten unter meinem Lederhelm.
Ein Gebet entfloh meinen Lippen.
Dann fiel ich rückwärts und überließ mich dem Himmel.
* * *
Ein Mann saß zusammengesunken an meiner Tür.
Ich erstarrte auf dem Treppenabsatz, der zu meinem Zimmer führte. In der Unterkunft gab es keine Kabel für elektrisches Licht, weder drinnen noch draußen. Der abnehmende Mond und die schwache Laterne in meiner Rechten waren meine einzigen Lichtquellen.
Der Mann rührte sich nicht, und seine verschränkten Arme lagen auf seinen angezogenen Knien. Er hatte einen Hut tief ins Gesicht gezogen, aber die Kopfbedeckung aus Stroh dämpfte nicht das raue Schnarchen, das seinen Lippen entstieg.
Ausgerechnet hier musste dieser Kerl einschlafen!
Ich rüttelte ihn wach.
»Hä? Was?« Der Schläfer fuhr hoch, sodass sein Hut zu Boden fiel.
Du liebe Güte … »Tex? Was machst du denn hier?« Angefangen bei den dunkelblonden Haaren über den rötlichen Schnurrbart bis hin zu den dürren Armen, die in großen fleischigen Händen endeten, schien er aus nicht zusammenpassenden Teilen zu bestehen, die zu einer schlaksigen Gestalt zusammengefügt waren.
Er wischte sich mit dem abgewetzten Saum seines Ärmels den Speichel vom Mund. »Ich habe auf dich gewartet. Muss eingeschlafen sein.« Er gähnte. »Wie spät ist es?«
Ich hielt einen sicheren Abstand zu ihm und umfasste meine Lampe fester. Nicht die beste Waffe, aber besser als nichts. Tex wirkte nicht wie der Typ Mann, der Frauen bedrängte. Aber andererseits kannte ich ihn noch nicht mal einen Tag lang. »Etwa zehn.«
»Und du bist jetzt erst gekommen? Was hast du gemacht?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« Auf keinen Fall würde ich Tex den wahren Grund für mein gar nicht so beiläufiges Interesse an dieser Stadt verraten. Oder den Grund, warum ich diesen Flecken auf der Landkarte für eine Flugshow ausgesucht hatte.
In einem Zigarettenetui versteckte Zettel hatten jede Station meiner Reise bestimmt. Das versilberte Behältnis würde einem Unbeteiligten nicht auffallen, aber in seinem Inneren befanden sich gekritzelte Geheimnisse eines Privatdetektivs. Dieser Detektiv war der beste Freund meines Mannes gewesen. Und er war wenige Wochen nach Warrens Tod verschwunden. Zufall? Ich glaubte nicht mehr an Zufälle. Und deshalb hatte ich das Zigarettenetui aus Brisbanes verlassener Wohnung mitgenommen.
Seine Notizen waren die einzigen Hinweise, die ich hatte. Aber wie den anderen Orten, die ich bei meiner Jagd nach der Wahrheit aufgesucht hatte, waren auch dieser Stadt keine Antworten zu entlocken – ebenso wenig wie der Klatschtante hier, Mrs Felicia Turnbell, Inhaberin des gut laufenden Gemischtwarenladens im Ort. Ich hatte mein letztes Geld für Schokolade und Limonade ausgegeben, war bis nach Ladenschluss geblieben und hatte Mrs Turnbell ermutigt, mir aktuelle Gerüchte zu verraten. Offenbar war die Stadtversammlung sich nicht einig darüber, ob hier im kommenden Jahr irgendeine Fabrik eröffnen sollte. Die Schullehrerin würde im nächsten Monat heiraten und der Vorstand hatte noch immer keinen Ersatz für den Herbst gefunden. Ach ja, und die alte Mutter des Arztes hatte die Angewohnheit, beim Kirchenbasar die Preisschilder auszutauschen.
Nichts, was mit dem Mord an meinem Mann zu tun hatte. Oder mit seinem verschwundenen Freund.
Ich war hundemüde. »Komm schon, Tex. Was machst du hier? Ich habe dir bereits eine ansehnliche Summe für deine Fliegerdienste gegeben.«
»Ich bin gekommen, um nachzusehen, ob es dir gut geht.«
Nach meinem Fallschirmsprung? »Ich bin einwandfrei gelandet.« Dreißig Meter im freien Fall, bevor ich die Reißleine gezogen hatte, waren nicht meine beste Idee gewesen. Nur, um Trauer und Schuldgefühle – meine treuen Begleiter, seit Warren umgekommen war – zum Schweigen zu bringen, und sei es auch nur für eine Sekunde. »Ich werde morgen Muskelkater haben, aber die Leute waren begeistert.«
»Das meinte ich nicht.« Er hob seinen Hut von dem staubigen Fußboden auf und klopfte ihn ab. »Du weißt doch, dass ich im Krieg gedient habe. Ich erkenne einen hoffnungslosen Blick, wenn ich ihn sehe, Stella.«
Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich gelogen hatte, was meine Identität betraf. Aber wenn dieser Mann wüsste, wer ich war – oder vielmehr, wer meine Familie war –, würde seine Sorge über meinen hoffnungslosen Blick sich in Sorge um seine leeren Taschen verwandeln.
Demjenigen, der mich sicher zum Anwesen der Ashcrofts zurückbrachte, winkte eine Belohnung von fünftausend Dollar. »Mir geht es gut. Ich bin nur müde. Und wenn du jetzt bitte zur Seite gehst –«
»Ich möchte für dich arbeiten.« Er drückte den Hut auf sein Herz und befingerte die Krempe. »Mit mir als deinem Piloten kannst du deine Show ausbauen. Das mit dem Rumlaufen auf den Tragflächen.« Etwas klang in seiner Stimme mit. Etwas, das in mir aufgeflackert war, als ich zum ersten Mal ein Flugzeug gesehen hatte – verzweifelte Sehnsucht. Dieses plötzliche Verlangen, ins Cockpit zu steigen und in die Himmel zu entfliehen.
Wie viel schwieriger musste es für langjährige Flieger sein, zu einem Dasein an Land verurteilt zu werden? Das Fliegen lag ihnen im Blut. Selbst mit beiden Beinen fest auf dem Erdboden war ihr Blick immer in den Himmel gerichtet. Heute hatte ich den Fehler gemacht, Tex mein Flugzeug fliegen zu lassen und ihm dadurch etwas Erleichterung zu verschaffen, aber nicht genug, um seine Sehnsucht zu stillen. Bei meinem Versuch, freundlich zu sein, war ich grausam gewesen. »Tut mir leid. Ich arbeite allein.«
»Warum? Ich kann helfen –«
»Ich habe morgen Mittag einen Termin und danach ziehe ich weiter.« Das war jedenfalls der Plan. Ich hatte keine Ahnung, mit wem Kent Brisbane sich verabredet hatte, bevor er verschwunden war. An seiner Stelle zu diesem Treffen zu gehen, konnte Antworten liefern … oder mich das Leben kosten.
Tex ließ die Schultern hängen. »Verstehe.«
»Allerdings … mehrere Familien haben mich gefragt, ob sie eine Runde mit der Jenny drehen können. Mein Termin ist zwei Ortschaften weiter, aber wenn du willst, kannst du die Leute rumfliegen. Nimm ihnen zwei Dollar pro Person ab und beschränke die Flüge auf eine Viertelstunde. Den Erlös kannst du behalten, nachdem ich die Treibstoffkosten abgezogen habe.«
Er hob ruckartig den Kopf. »Wirklich?«
»Aber du musst um drei Uhr fertig sein und das Flugzeug an den Zaunpfahl ketten. Ich muss los, sobald ich wieder da bin.«
»Danke, Stella.« Er drückte sich den Hut auf den Kopf.
Ich lächelte freundlich. »Und mach keine Dummheiten mit meinem Flugzeug.«
»Zum Beispiel Leute in niedriger Höhe mit dem Fallschirm von den Tragflächen springen lassen?«, erwiderte er grinsend.
»Jetzt verschwinde.« Ich stellte die Lampe ab, die während unserer Unterhaltung ausgegangen war, und holte den Zimmerschlüssel aus meiner Handtasche. »Du hast mich lange genug vom Schlafen abgehalten.«
»Natürlich, Ma’am.« Er salutierte und mit einem Mal war seine Miene wieder ernst. »Wenn du … äh … deine Meinung irgendwann änderst, hoffe ich, dass du an mich denkst als möglichen Partner.«
Ich nickte, presste aber die Lippen zusammen. Ich hatte nicht die Absicht, mich mit irgendjemandem zusammenzutun.
Tex sprang mit der Anmut von hundert Elefanten die Treppe hinunter, während ich meine Tür aufschloss. Im Zimmer roch es nach abgestandenem Zigarrenqualm und ungewaschenen Füßen. Eine Zeitung war unter meiner Tür hindurchgeschoben worden. Wahrscheinlich die Ausgabe von gestern aus einer anderen Stadt, denn in diesem Ort gab es keinen Zeitungsverlag.
Das Mondlicht schien zwischen den verschlissenen Gardinen hindurch und fuhr mit silbrigem Finger über die Titelseite, auf der ein vertrautes Gesicht zu sehen war. Meins. Seitdem ich untergetaucht war, hatte meine Familie in jeder Zeitung und Zeitschrift von Philadelphia bis Seattle mein Konterfei veröffentlicht. Das überraschte kaum, wenn man bedachte, dass meine Heirat mit Warren ein Dutzend der führenden Zeitungen des Landes unter den Einfluss meines Vaters gebracht hatte. Ich hatte Warrens Verlagsimperium geerbt, nachdem er für tot erklärt worden war. Und jetzt, wo ich spurlos verschwunden war, hatte sich bestimmt mein Vater an die Spitze des Unternehmens gedrängt.
Dieses Foto stammte aus der Zeit, in der ich als junge Frau in die Gesellschaft eingeführt worden war. Ich lächelte reizend und unschuldig in die Kamera, mein blondes Haar perfekt frisiert. Wie anders ich doch jetzt aussah! Niemand würde in Stella Starling noch Geneva Ashcroft Hayes erkennen. Aber trotzdem musste ich vorsichtig sein. Doch je unkonventioneller ich mich verhielt, desto weniger würde jemand mich mit der zurückhaltenden jungen Dame aus der gehobenen Gesellschaft in Verbindung bringen.
Ich hob die Zeitung auf, damit ich am nächsten Morgen nicht darüber stolpern würde.
Dann zündete ich die Lampe wieder an. Mein Blick wanderte zu der Schlagzeile. Ich erstarrte. Meine zitternden Finger krallten sich um das Papier, als ich die fett gedruckten Wörter erneut las und hoffte – nein, betete –, dass mein müdes Hirn mir einen Streich gespielt hatte. Doch weit gefehlt. Es stand dort schwarz auf weiß.
Vermisste Dame der feinen Gesellschaft gesteht Mord an Ehemann.