1. Ferienüberraschung
„Hm, da hast du mir ja nicht zu viel versprochen!“, seufzte Emma glücklich und deutete auf den riesigen Erdbeerbecher, der vor ihr auf dem Tisch stand. „Der ist ja megalecker!“
„Sag ich doch“, bestätigte Nele, die mal wieder alle Augen in der Eisdiele auf sich zog mit ihrem extra- vaganten Outfit: grüne Gummistiefel und ein schrulliger Försterhut auf dem Kopf. Sie schob sich genüsslich eine Ladung Schokoeis in den Mund.
Emma konnte es noch gar nicht richtig glauben: Noch vor einem Jahr hätte sie sich niemals vorstellen können, dass sie es länger als einen halben Tag auf dem Land aushielt … Doch in diesem Jahr war eine Menge passiert.
Sie hatte zu ihrem Glück sofort am ersten Tag ihres Umzugs in das Nirgendwo Nele kennengelernt, die ihr gezeigt hatte, wie viel Spaß es machen kann, sich in der Natur herumzudrücken.
Wieder steckte Emma einen vollbeladenen Löffel Erdbeereis in ihren Mund und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, weil Nele, die sich scheinbar zu viel Eis in den Mund geschaufelt hatte, ihr Gesicht zu einer witzigen Grimasse verzog, sodass ihre Sommersprossen über ihr Gesicht tanzten.
„Kalt!“, keuchte sie und hielt sich ihre Hand vor den Mund.
Emma kicherte und schüttelte ihren Kopf. Der grüne Wichtel, der ihr gegenübersaß, war nur schwer als Mädchen zu erkennen. Die kurzen blonden Locken und das freche Gesicht erinnerten eher an einen Jungen.
„Gut, dass ich mit dir gewettet habe“, murmelte Nele, die sich vorsichtig wieder dem Schokoeisbecher näherte, der vor ihr stand. Die Wette! Emma musste schmunzeln und erinnerte sich an den Tag, an dem sie Nele versichert hatte, dass sie sich niemals in ihrem ganzen Leben auf so ein riesiges Ungeheuer set-zen würde, das sich „Pferd“ nannte. Schließlich hatte sie damals eine wahnsinnige Angst vor den Vierbeinern gehabt – und das mit einem Pferdehof in nächster Nachbarschaft!
Wie habe ich eigentlich meine panische Angst verloren? Emma stocherte mit dem Löffel in ihrem Eisbecher herum. Gott hat mir die Kraft dazu gegeben und Nele konnte einfach kein Nein akzeptieren, ging es ihr durch den Kopf. Und jetzt besaß sie sogar ein eigenes Pferd: Windhauch, den schönsten Fuchs, der auf der Erde herumlief.
Emma konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen und ihr Herz schlug plötzlich kräftiger in ihrer Brust. Ja, diese Wette hatte sie gerne verloren. Was würde ihr entgehen, wenn es Nele nicht geschafft hätte, sie davon zu überzeugen, was für wundervolle Tiere diese eleganten Vierbeiner waren?
Emma sah auf und erblickte – das enttäuschte Gesicht ihrer Freundin.
„Keine Ahnung warum, aber das Eis hat sich in Luft aufgelöst“, schnaufte Nele, nahm ihren Hut von den verschwitzen Locken und wedelte sich damit Luft in ihr Gesicht. „Irgendwie deprimierend.“
Emma schüttelte ungläubig den Kopf und schob den Rest ihres Erdbeerbechers über den Tisch vor ihre Freundin, die freudig ihre Augen aufriss.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagte sie und schob sich umgehend eine Ladung Eis in den Mund. „Ist schon gut für mich, dass ihr Stadtmädchen immer so auf eine gute Figur bedacht seid“, schob sie mit vollem Mund hinterher.
Emma stupste ihrer Freundin den Försterhut in die Stirn und musste lachen. So ein unverschämtes Landei, dachte sie kopfschüttelnd. Nachdem Nele beide Eisbecher geleert hatte und Emma beim Kellner bezahlt hatte, setzten sich die beiden Mädchen auf ihre Draht-esel und fuhren auf dem holprigen Fahrradweg am Fluss entlang Richtung Heimat. Vor ihnen lagen die weiten Wiesen des Gutes, auf denen einige Pferde standen. Das Gestüt lag ein wenig erhöht direkt vor ihnen. Emma freute sich darauf, später am Nachmittag noch mit Windhauch auszureiten.
„Wollen wir nachher zu unserem Lieblingsplatz im Wald?“, fragte Emma Nele, die sich gerade mal wieder mit ihrem Försterhut Luft zufächelte.
„Ja, gerne“, sagte Nele, „ich hab nur meiner Mutter versprochen, ihr gleich erst mal mit den Hühnern zu helfen. Flügel stutzen.“ Sie verdrehte genervt ihre Augen, widmete sich wieder ihrem Hut und wedelte ihn vor ihrem roten Gesicht hin und her. „Ich weiß gar nicht, wie du das ohne einen Hut aushältst. Du kannst dir ja gar keine Luft zufächern.“
„Na, ohne dieses warme Ding auf meinem Kopf schwitze ich erst gar nicht, Schlaumeier!“, sagte Emma und wurde dafür mit einem bösen Blick von Nele bestraft, die etwas von Vorteilen eines Hutes bei starker Sonneneinstrahlung in ihren nicht vorhandenen Bart nuschelte.
Als die beiden hinter dem Reitergut an der Schotterweggabelung ankamen, die in die eine Richtung zu Neles und in die andere Richtung zu Emmas Haus führte, winkten sie sich kurz zu und fuhren zu ihren jeweiligen Elternhäusern. Vor dem Haus von Emmas Eltern standen einige Autos. Emma lächelte stolz. Wer hätte gedacht, dass die Pension ihrer Mutter so gut laufen würde, dass alle Zimmer ständig belegt waren?
Sie stellte ihr Fahrrad unter den Carport und schlug im Vorbeigehen an das Metallschild, auf dem Belegt stand, dann rannte sie die Stufen hoch und drückte auf den Klingelknopf. Sofort hallte durch das Haus ein nerviges „Kuckuck“. Emma zog ihre Stirn in Falten. Dieser blöde Klingelton ging ihr schon auf die Nerven, seitdem sie hier wohnten.
Kurz darauf öffnete ihre Mutter die Tür und begrüßte Emma mit einer Umarmung. „Und? Wie war dein Ausflug in die Eisdiele?“, fragte sie und blickte Emma liebevoll an.
„Ich war froh, dass ich schon ein bisschen was von meinem Eis gegessen hatte, bevor sich meine hungrige Freundin daraufgestürzt hat.“ Emma legte ihre Stirn in Falten und trat ins Haus.
„Du armes Kind!“, lachte ihre Mutter und wuschelte ihr durch die Haare. „Wir haben noch genug von meinem selbstgebackenen Apfelkuchen da. Anscheinend waren alle noch so gesättigt von meinem Hasenbraten heute Mittag, dass kaum etwas vom Kuchen gegessen wurde.“
„Wen wundert es?“, gab Emma zurück. „So wie du hier alle mästest, müssen die Gäste nach ihrem Urlaub erst einmal eine Abmagerungskur machen.“ Sie bewunderte ihre Mutter, die mit völliger Hingabe ihre Gäste versorgte. Eigentlich ist es kein Wunder, dass die Pension so gut läuft.
Genüsslich schob sich Emma ein Stück von dem leckeren Apfelkuchen ihrer Mutter in den Mund und starrte auf den kleinen See, der sich hinter ihrem Haus befand. Tausende von Insekten schienen auf der glitzernden Wasseroberfläche zu tanzen.
„Was hast du dir für die Sommerferien vorgenommen?“, fragte ihre Mutter, die neben ihr auf der Bank saß und ihre Füße der Sonne entgegenstreckte.
Stimmt ja, es sind Ferien! Der erste Ferientag!, dachte Emma und hüpfte innerlich vor Freude. Sie wandte ihren Kopf in Richtung Sonne, schloss die Augen und antwortete ihrer Mutter: „Reiten, reiten, reiten und nochmals reiten.“
„Das hört sich ja sehr abwechslungsreich an.“ Ihre Mutter lachte und stupste Emma in die Seite, die hochschrak und dabei fast ihre Limonade verschüttet hätte.
„Lulu hat übrigens vor einer Stunde angerufen“, sagte Emmas Mutter und kratzte sich am Kopf, „sonst schreibt ihr euch doch nur Nachrichten, oder?“ Sie schaute ihre Tochter fragend an, die nachdenklich nickte.
Seit wann benutzte ihre Freundin Lulu das Festnetz? Das sah ihr gar nicht ähnlich, da sie alles völlig altertümlich fand, was nicht wie ein Smartphone oder ein Tablet aussah. Emma sprang auf und lief ins Haus.
Einige Minuten später trat sie wieder auf die Terrasse und rief: „Geheimnis gelüftet!“ Sie machte eine kleine Verbeugung und schwang elegant ihren Arm nach vorne, als zöge sie ein Kaninchen aus einem Zylinder. Damit hatte sie sofort die volle Aufmerksamkeit ihrer Mutter.
„Sie fragt, ob sie mich mal in den Ferien besuchen kann“, erklärte Emma.
„Oh, wie schön! Das hört sich doch richtig gut an“, freute sich ihre Mutter. „Vielleicht hat sie ja auch mal Lust, bei uns zu übernachten.“
„Naja, genau das ist ihre Frage“, meinte Emma und strich sich eine braune Haarsträhne aus ihrem schmalen, sonnengebräunten Gesicht.
„Das ist ja wunderbar! Dann habt ihr seit Langem mal wieder ein bisschen Zeit zusammen – ihr habt euch doch seit unserem Umzug im letzten Sommer nicht mehr gesehen. Wie lange kann sie denn bleiben?“, fragte ihre Mutter fröhlich.
„Sie fragt, ob sie in den letzten zwei Ferienwochen kommen kann“, bemerkte Emma und verzog ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen. Ihre Mutter keuchte erschrocken, da sie sich fast an ihrem heißen Kaffee verschluckt hätte. „Was? Zwei Wochen?“
Emma zog ihre Schultern nach oben und zog eine Grimasse wie ein abgerichtetes Erdmännchen.
„Puh – das ist länger, als ich vermutet hatte“, stöhnte ihre Mutter.
„Lulus Vater und ihre Mutter sind gemeinsam auf einer Geschäftsreise ihrer Firma und so droht Lulu ein zweiwöchiger Besuch bei ihrer altmodischen, überbesorgten Oma.“ Beim zweiten Teil des Satzes imitierte Emma Lulus Stimme perfekt. „Sie ist wirklich verzweifelt“, meinte sie dann. „Wie es sich angehört hat, bin ich so ziemlich ihre einzige Chance, der Oma zu entgehen. Alle anderen Freundinnen haben sie schon abgewimmelt. Wenn Lulu freiwillig für zwei Wochen hier zu uns in die Pampa möchte, muss ihre Lage ziemlich hoffnungslos aussehen.“
„Zwei Wochen“, seufzte Emmas Mutter und nahm noch einen großen Schluck aus ihrem Kaffeepott. „Na, meinetwegen! Wenn sie in deinem Zimmer schläft, soll es mir recht sein.“ Sie zog die Schultern hoch und hob ihre Hände, als würde sie sich ergeben.
„Danke, Mami!“, rief Emma begeistert und umarmte ihre Mutter, bevor sie wieder ins Haus rannte.