»Ich habe nur gefragt, was …«
»Warte bitte kurz, Schatz.« Gedämpfte Stimmen – eine davon war Stephen, die andere kannte ich nicht.
»Klar«, sagte ich zähneknirschend und fühlte mich abserviert wie einer seiner Prozessgegner vor Gericht.
Ich starrte durch die Windschutzscheibe meines Lexus. Erst vor kurzem hatte Stephen ihn mir geschenkt – in meinen Augen ein klarer Versuch, seine Schuldgefühle loszuwerden. Ich kroch im dichten Mittagsverkehr im Schritttempo weiter, während ich mich fragte, ob er immer noch im Hilton in Atlanta war.
»Okay, Schatz. Ich bin wieder da.«
Ich wartete auf mehr, aber offenbar erwartete Stephen von mir eine Antwort. Es kostete mich meine ganze Kraft, trotz des Schmerzes, der mir die Kehle zuschnürte, zu atmen.
»Claire, hör zu … es tut mir leid. Ich weiß, dass du darüber nicht glücklich bist.« Er sprach langsam, jedes Wort war gut überlegt. »Aber ich habe das Angebot der Kanzlei in Atlanta vor einer Stunde mündlich angenommen. Ich kann Partner werden. Unterschrieben ist noch nichts. Aber ist dir klar, was das für mich bedeutet? Für uns?«
Ich konnte mir den durchdringenden Blick seiner blaugrauen Augen, bei denen meine Knie immer noch weich wurden, gut vorstellen. Das fortgeschrittene Alter, in dem er jetzt war, stand ihm gut. Sein freundliches Wesen und sein trockener Humor erhöhten den Reiz zusätzlich. Es war nicht überraschend, dass ich nicht die einzige Frau war, die diese Eigenschaften attraktiv fand. Bei Weitem nicht. An die interessierten Blicke, die Stephen auf sich zog, hatte ich mich gewöhnt. Aber ich hatte ihm immer blind vertraut – bis er mir einen Grund gegeben hatte, das nicht mehr zu tun.
»Bist du noch dran, Claire?«
Ich blinzelte, um das Bild, das immer noch viel zu häufig in meinem Kopf auftauchte, zu verdrängen. »Ja, ja, ich bin da.« Und ich habe vor, auch hierzubleiben. »Stephen, bitte, bevor du etwas unterschreibst …«
»Hör zu, mein Taxi müsste jeden Moment kommen. Ich dürfte gegen sieben zu Hause sein. Dann sprechen wir darüber.« Er hielt kurz inne. »Okay, Schatz?«
»Ja, okay«, sagte ich schließlich, um das Gespräch zu beenden.
»Ich habe dich diese Woche vermisst, Claire. Ich wünschte, du hättest mitkommen können.«
Plötzlich wünschte ich mir das auch, weil ich dann seine Entscheidung vielleicht hätte verhindern können.
»Das ist ein riesiger Schritt für mich, Schatz. Für uns beide. Und ich finde, er kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Das glaube ich wirklich.«
»Aber warum Atlanta?«, fragte ich mit mehr Bitterkeit in der Stimme, als ich beabsichtigt hatte.
»Weil es weit weg ist von der Welt, in der wir jetzt leben«, antwortete er schließlich. »Ich brauche diesen Neuanfang. Den brauchen wir beide. Ein Umzug wird uns helfen, alles hinter uns zu lassen, was …«
Was er mir an Weihnachten endlich gestanden hatte. Alles überrollte mich erneut und verletzte mich wieder zutiefst. Was war eine Beinahe-Affäre überhaupt? Man war entweder treu oder man war es nicht. Seit wann wurde Treue auf einer Skala gemessen?
Und die Art, wie ich es herausgefunden hatte – durch eine Bekannte, die ich ewig nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte die beiden zusammen im Fitnessstudio gesehen. Wie oft hatte er mir erzählt, er wäre beim Sport. Die Abende, an denen er angeblich ein Geschäftsessen mit einem Mandanten seiner Kanzlei gehabt hatte. Die ganzen Lügen. Er hatte mir gestanden, dass sie sich körperlich nahegekommen seien, aber nie Sex gehabt hätten. Ich wollte ihm glauben. Aber war das auch eine Lüge?
»Claire, bist du noch dran?«
»Ja. Aber Stephen, diese Entscheidung hätten wir gemeinsam treffen müssen. Warum hast nicht vorher mit mir darüber gesprochen?«
Er atmete tief aus. »Das habe ich versucht, Claire. Aber du willst mir nie zuhören. Du hast klargestellt, dass du in Colorado bleiben willst. Wegen deiner Freunde, wegen deiner eigenen Karriere, wegen …«
Ich liebte meinen Mann immer noch. Aber gerade konnte ich ihn beim besten Willen nicht ausstehen. »Stephen, ich …«
»Mein Taxi ist da. Wir sehen uns bald. Ich liebe dich.«
Wieder schloss ich die Augen. »Ich liebe dich auch. Einen guten Flug.«
Ich fuhr auf einen freien Parkplatz und stellte den Motor ab. Heute hatte ich die safrangelbe Jacke angezogen, die mir Stephen gekauft hatte, weil ich wusste, dass er sich darüber freuen würde. Er fand, sie sei sexy. Aber jetzt konnte ich es nicht erwarten, mich umzuziehen, sobald ich nach Hause kam.
Atlanta, einige Wochen später
Mein Handy piepte: Ich weiß, dass du sauer bist. Du hast auch jedes Recht dazu. Aber wir MÜSSEN die Sache aus der Welt schaffen. Bitte ruf mich an!
Die Sache aus der Welt schaffen? Dachte er wirklich, es bestünde eine Chance, dass wir als Ehepaar zusammenblieben? War dieser Mann tatsächlich so eingebildet? Er rief wieder und wieder an, aber ich ignorierte seine Anrufe, ließ das Handy aber an, weil ich hoffte, meine Freundin würde sich melden. Als er es immer und immer wieder versuchte, packte mich schließlich die Wut und ich nahm seinen Anruf an. »Habe ich dir nicht klargemacht, dass ich nicht mit dir sprechen will? Hör auf, mich anzurufen!«
»Claire, gib mir doch nur …«
Ich legte auf, aber er rief sofort wieder an. »Hör zu, Stephen …«
»Ich bin auf dem Weg zu dir, damit wir …«
»Hör zu!«, wiederholte ich mit einer Härte in meiner Stimme, die ich kaum wiedererkannte. »Wenn du hier auftauchst oder mich noch einmal anrufst, zeige ich dich wegen Belästigung an und erwirke eine einstweilige Verfügung. Und ich werde dafür sorgen, dass alle in der Kanzlei – und auch unsere Tochter – erfahren, was du mir angetan hast. Hast du mich verstanden?«
Schweigen.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich habe dich verstanden. Aber du musst wissen, wie sehr ich dich immer noch liebe und …«
Zitternd legte ich auf. Ich ging ins Badezimmer und spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht, aber ich erkannte die Frau im Spiegel kaum wieder – rot unterlaufene, geschwollene Augen, völlig blasse Haut. Ich sah viel älter aus, als ich war. Ich hatte ihm erlaubt, mir das anzutun. Aber damit war jetzt Schluss. Ich beschloss, keine weitere Träne mehr wegen ihm zu vergießen. In Stephens Badezimmerschrank reihten sich sauber geordnete Fläschchen mit teuren Produkten, mit denen er sich pflegte, aneinander. Mit einer wütenden Handbewegung wischte ich alles krachend auf den Boden.
Auf dem Weg nach draußen packte ich unser Hochzeitsfoto, das auf der Kommode stand, und schleuderte es so heftig gegen die Wand, dass die Glasscherben in alle Richtungen flogen. Ich hob einen schweren Kristallpokal hoch, den Stephen für seine ehrenamtliche Tätigkeit in Denver vom Bürgermeister bekommen hatte, und warf ihn durchs Zimmer. Er knallte gegen die Wand, zerbrach aber nicht.
Der Stiel eines Vorschlaghammers ragte aus einer Werkzeugtasche, die die Handwerker für den nächsten Tag stehen gelassen hatten. Ich schlug kräftig zu und der Pokal explodierte in tausend Einzelteile. Ehe ich mich versah, zerschmetterte ich Bilder von vielen gemeinsamen Urlauben mit Stephen. Mir war, als stünde ich neben mir und schaute zu, wie ich das alles machte – bis ich ein Bild verfehlte und der Hammer in die Wand einschlug. Und plötzlich darin verschwand.
Aber das war doch eigentlich gar nicht möglich! Die Innenwände in diesem Haus waren doppelt gemauert. Das hatte der Architekt jedenfalls gesagt. Keuchend gelang es mir, den Vorschlaghammer wieder herauszuziehen, doch dabei lösten sich Rigipsstücke und Holzsplitter und in der Wand blieb eine tellergroße Öffnung zurück.
Ich leuchtete mit der Taschenlampe meines Smartphones hinein. Als ich einen Blick durch das Loch wagte, traute ich meinen Augen nicht.
Atlanta, März 1863
»Nein, Nettie. Du musst verschwinden. Sofort. Wenn Achan noch einmal zurückkommt und herausfindet, dass du mir hilfst, dann …«
»Er wird mir nichts tun, Ma’am. Schließlich hat er 350 Dollar für mich gezahlt, das sagt er mir jedes Mal, wenn er mich zum Schuppen bringt.«
Bei diesem Gedanken rebellierte mein Magen, aber ich wusste, was mein Mann nicht nur mir regelmäßig antat, sondern auch Nettie und wer weiß wie vielen anderen Frauen darüber hinaus. Ich hatte Gott angefleht, uns von der Hand Achans zu erlösen, bis mein Herz schmerzte und meine Hoffnung versiegte. Aber Gott schien diese Gebete nicht zu hören. Sein Schweigen betrübte mich mehr als eine unangenehme Antwort. Denn dann wüsste ich wenigstens, dass er mich immer noch hörte, dass er mich immer noch sah. Dass seine Hand auf dem Kind in mir lag. Falls das Baby überhaupt noch lebte, nachdem mein Mann seinem Zorn Luft gemacht hatte.
Nettie tauchte ein Tuch in die Waschschüssel und hielt es mir an die Unterlippe. »Er hat Sie schlimm zugerichtet, Missus. Ich schwöre, dieser Mann hat den Teufel persönlich in sich.«
In ihren Augen brannte ein Eifer, den ich gut kannte. Ich wünschte nur, ich hätte auch eine solche Stärke in mir. Meine Stärke war eher still. Hartnäckig, unnachgiebig, aber nicht so voller Energie. Kein Feuer, das lichterloh brannte.
Ein warmer Wind wehte den süßen Duft meiner geliebten Gardenien durchs Fenster ins Schlafzimmer und ich atmete die Erinnerung an Jonathan, meinen ersten Mann, tief ein. Ich sah einen Hüttensänger von der kräftigen Eiche wegfliegen, die wir in dem Jahr, in dem wir geheiratet hatten, gepflanzt hatten. Genauso wie die Gardenien. 1850 schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Ich war gerade erst sechzehn gewesen und hatte nicht begriffen, was für ein Geschenk mir Gott mit Jonathan Thursmann gemacht hatte.
Netties Blick wurde weicher. »Fühlen Sie, dass sich das Baby bewegt?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, meine Angst zu verbergen.
»Das bedeutet noch nichts. Lassen Sie ihm Zeit. Die Entscheidung liegt bei Gott. Nicht bei Achan Crowley.«
Ich nickte, obwohl mir der sorgenvolle Ton in ihrer mir so vertrauten Stimme nicht entging. Ich hatte keine Vorahnung wie früher, aber ich hatte ein unangenehmes Gefühl. Aber auch wenn das Kind in meinem Leib unter völlig lieblosen Umständen gezeugt worden war, wollte ich, dass diese kostbare Seele – ob Junge oder Mädchen, das spielte keine Rolle – wuchs und gedieh, auch wenn ich mir wünschte, es würde in einer freundlicheren, besseren Welt aufwachsen, und nicht in einer, die so dunkel und grausam war.
»Wenn die Freiheit nicht bald kommt, Missus, müssen wir etwas unternehmen.« Nettie beugte sich vor. »Wir haben elf ›Fahrkarten‹ für übernächste Nacht«, flüsterte sie und drückte meine Hand so fest, dass es fast wehtat. »Dieser ›Zug‹ wird wieder fahren und Sie gehören zu den Menschen, die das ermöglichen. Sie und Ihr verstorbener Mann.« Ihre Augen funkelten vor Überzeugung. »Er wird sich durch nichts aufhalten lassen, hören Sie? Das hat Master Thursmann Ihnen und mir vor Jahren gesagt, als er dort drüben an dieser Tür stand. An dem Tag, an dem Sie und er beschlossen, diese ganz besondere ›Station‹ zu bauen.«
Wie sehr sehnte ich mich nach meinem verstorbenen Mann, nach seiner Freundlichkeit und seinem unerschütterlichen Mut, obwohl er bereits vor fünf Jahren von mir gegangen war.
»Ich werde Sie jetzt untersuchen, Missus.« Nettie hob die Bettdecke hoch.
Ich errötete nicht einmal mehr. Nachdem sie mir geholfen hatte, fünf Kinder zu gebären – und zu beerdigen –, kannte sie meinen Körper besser als ich ihn selbst. Sie war diejenige gewesen, die mir gesagt hatte, dass ich nicht sterben würde, als mein Körper »aufgeblüht war«, wie sie es genannt hatte. Und am Abend, bevor ich meinen geliebten Jonathan geheiratet hatte, hatte sie mir erklärt, was sich zwischen einem Ehemann und seiner Frau abspielte. Sie hatte mir geholfen, mein erstes Kind zu beerdigen – und danach meine vier anderen Kinder. Sie hatte meine Welt zusammengehalten, als ich am liebsten alles losgelassen hätte, um meinen Kindern ins Grab zu folgen.
Sie deckte mich wieder zu. »Wenn Sie anfangen zu bluten, Ma’am, müssen Sie es mir sofort sagen.«
»Das werde ich.« In meinem Kopf verschwamm alles. »Ich komme schon klar. Geh und schau nach den anderen. Kümmere dich um die, die dich brauchen. Wenn Achan bis jetzt nicht zurück ist, kommt er erst morgen früh wieder.«
»So Gott will, kommt er nicht einmal dann«, sagte sie leise. Dann wurde ihre Stimme noch leiser und ich wusste, dass sie in dieser besonderen Sprache betete, die nur sie und Gott miteinander benutzten. Das war auch etwas, von dem ich keine Ahnung hatte.