Evie Blackwell ist jung, ehrgeizig – und Ermittlerin. Vom Gouverneur wird sie in eine neue Task Force berufen, die sich nur mit ungelösten Vermisstenfällen beschäftigt. Als »Probelauf« soll Evie zwei Fälle lösen, die seit Jahren wie ein düsterer Schatten über der Kleinstadt Carin in Illinois liegen: Die Familie eines Polizisten ist ebenso spurlos verschwunden wie ein kleines Mädchen.
Mit Hilfe des sympathischen Sheriffs Gabriel Thane und ihrer Freunde Ann und Paul Falcon gräbt Evie in der Vergangenheit. Wird sie die Wahrheit aufdecken oder reißt sie nur alte, mühsam verheilte Wunden wieder auf?
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1
Joshua Thane
„Na, was gefangen heute Morgen?“
Josh Thane drehte sich um, als eine Frau ihm diese fröhlichen Worte zurief, und richtete sich lächelnd auf. Dann beschloss er, die Angelausrüstung für später im Boot zurückzulassen. „Hallo, Ann. Schön, dich zu sehen.“ Er trat auf den Bootssteg, in der Hand seinen Eimer und einen Haken mit zwei Fischen. „Ich würde dich ja umarmen, aber du willst nicht wirklich so riechen wie ich.“
Ann Falcon lachte.
„Ich weiß deine Rücksicht zu schätzen.“
„Ist Paul auch hier?“, fragte er.
„Er steckt in Besprechungen fest, also bin ich allein unterwegs. Ich bin von Chicago rübergeflogen, um einer Beamtin von der Bundespolizei ein paar Akten zu bringen. Heute Nachmittag will ich sie mitnehmen auf einen Rundflug und ihr ein bisschen die Gegend zeigen. Morgen fliege ich wieder zurück, nachdem ich noch ein paar Freunde besucht habe.“
„Was sagst du dann zu einem späten Frühstück mit frischem Fisch? Ein heißer Grill, ein paar Zitronenscheiben und in einer halben Stunde hast du einen dampfenden Teller vor dir stehen.“
„Da sage ich nicht Nein.“
Zufrieden nickte Josh. „Du wirst von Jahr zu Jahr hübscher. Die Ehe bekommt dir offensichtlich, Ann.“
Ann lächelte. „Sie hat ihre Vorzüge. Das Leben war schon lange nicht mehr so entspannt. Wie ist es mit dir? Irgendwelche Neuigkeiten?“
„Niemand Bestimmtes, aber Will hat sich bis über beide Ohren verliebt, seit du das letzte Mal hier warst.“
„Das habe ich gehört. Karen Joy Lewis. Sie ist eine der Freundinnen, die ich nachher besuche.“
„Ach ja?“ Diese Bemerkung rückte das, was Josh über Karen dachte, in einen ganz neuen Zusammenhang. „Ich weiß, dass sie aus Chicago kommt. Wie groß ist wohl die Chance, dass sie zufällig nach Carin zieht, wenn ihr beide befreundet seid?“
„Na gut …“ Ann grinste ein wenig schuldbewusst. „Vielleicht habe ich erwähnt, dass ihr der Ort gefallen würde, wenn sie überlegt umzuziehen.“
Josh kannte Ann lange genug, um zu wissen, dass diese oberflächliche Antwort nur die Spitze des Eisberges war, aber er würde es seinem Bruder Will überlassen, die Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Die Verabredungen von Will und Karen waren im Laufe des vergangenen Jahres zu einer regelmäßigen Angelegenheit geworden mit ziemlich ernst zu nehmenden Absichten, jedenfalls vonseiten seines Bruders. Angesichts der Bemerkungen, die Ann gerade beiläufig fallen gelassen hatte, fragte sich Josh, ob Karen Lewis wohl ihr richtiger Name war.
Bevor sie ihren Job bei der Polizei an den Nagel gehängt hatte, war Ann überwiegend mit Mordfällen befasst gewesen, aber seither hatte sie ihre Nase in alle möglichen anderen Dinge gesteckt. Dass sie Pilotin war, führte dazu, dass Ann in zahllosen Situationen um Hilfe gebeten wurde, in der Menschen schnell aus der Schusslinie gebracht werden mussten … oder in die Schusslinie. Josh hatte gemeinsam mit Ann im Laufe der Jahre mehrere Suchaktionen durchgeführt, weil seine beiden Hunde zur Hundestaffel des Bundesstaates gehörten. Er konnte sich nichts Trostloseres vorstellen, als die Gegend nach Leichen abzusuchen, aber die Stunden, die er Seite an Seite mit Ann verbracht hatte, waren die Basis für eine gute Freundschaft geworden.
Ann sah zu, wie Josh zum Waschbecken ging und die zwei Barsche mit geübten Schnitten filetierte, um anschließend die Abfälle in das Abflussrohr zu werfen, das direkt in den See führte. Die Möwen würden die Gräten von allen Resten befreit haben, noch bevor die Mahlzeit auf dem Tisch war.
„Es sieht so einfach aus, wie du das machst.“
„Viel Übung.“ Josh spülte das Messer ab und verstaute es wieder in seiner Halterung. „Es ist einfacher, einen Fisch auszunehmen, als ein Reh zu zerlegen. Die Jagd überlasse ich anderen in der Familie.“
„Was gibt es Neues über die Tierwelt hier in der Gegend?“
Josh liebte diese Frage. Carin Lake und die ihn umgebenden Wälder waren groß genug, um viele verschiedene Tiere in diesem Teil von Illinois zu beherbergen. „Ab und zu höre ich einen Berglöwen, außerdem gibt es einen umherstreifenden Wolf – groß, tolles silbergraues Fell. Wir haben ein paar Füchse, jede Menge Wild, Truthähne, Kaninchen, alle möglichen Vogelarten. Die Habichte fühlen sich hier wohl und häufig kann man am Nordende des Sees mindestens vier Paare brütender Adler beobachten.“
Josh und Ann gingen über den Parkplatz zu dem Weg, der zu seinem Haus führte – ein Spaziergang von fünf Minuten.
„Wie ich sehe, hast du das Arbeitszimmer angebaut, von dem du gesprochen hast“, bemerkte Ann. Das mehrstöckige Gebäude fügte sich gut in die Landschaft ein und trug die Handschrift eines klugen Architekten, der die Natur verstand.
„Und ich habe außerdem vor, meine Drohung wahr zu machen und endlich das Buch zu schreiben, von dem ich immer rede – Bilder und Geschichten vom Carin Lake, erzählt vom hervorragendsten Angler der Region.“
Ann lachte nicht über seine beiläufige Bemerkung. Sie wandte sich halb um, um ihn anzusehen, dann nickte sie, offensichtlich zufrieden.
Joshua kannte diesen Blick. „Was?“
„Du wirst sesshaft.“
„Pass auf, was du sagst“, gab er zurück.
Sie lachte. „Ist doch so, Josh. Du als der Jüngste der Thane-Brüder rast nicht mehr ruhelos hin und her – du hast ein Geschäft, ein Boot, ein Haus und jetzt ein interessantes Projekt in Planung, für das du Zeit zum Nachdenken und Recherchieren brauchst.“
„Ann“, sagte er kopfschüttelnd, „so bin ich nicht. Gabriel kann sesshaft werden – er ist schließlich der Sheriff von Carin County –, weil er das Bedürfnis hat, hier auf Dauer der Fels in der Brandung zu sein. Und Will macht vielleicht etwas Ähnliches, jetzt, wo er wieder von seinem Auslandseinsatz zurück ist. Gib ihm etwas, was er betüddeln kann, dann ist alles gut. Wahrscheinlich hätte er gerne eine Handvoll Kinder, um deren aufgeschürfte Knie und Streitereien er sich kümmern und denen er beibringen kann, für die Tiere zu sorgen, die er heilt oder aufzieht. Ich bin der Typ mit dem Anglerladen, den Booten und fünfzig Kilometern See samt Zuflüssen – je mehr Zeit ich auf dem Wasser verbringe, desto besser gefällt mir mein Leben. Zu heiraten und eine Familie zu haben, kann ich mir unmöglich vorstellen.“
„Sagt ein Mann, der einfach noch nicht die richtige Frau gefunden hat.“
Josh lächelte, aber er widersprach nicht. Er hatte die richtige Frau nämlich durchaus schon gefunden. In seiner Jugend hatte Grace Arnett zu seinem großen Freundeskreis gehört, auch wenn sie sich meistens ruhig im Hintergrund gehalten hatte. Sie war weggezogen, als er vierzehn war. Ganz plötzlich war sie aus seinem Leben verschwunden. Aber diese erste Liebe war tief verwurzelt. Das hatten sogar seine Brüder gespürt, die ihn nicht wie sonst damit aufgezogen hatten. Seine Mutter war so klug gewesen, ihm genug Zeit zum Trauern zu geben, bevor sie ihn sanft ermuntert hatte, mit einem anderen Mädchen auszugehen. Sie hatte versucht, Joshua dazu zu bewegen, wieder am Leben teilzunehmen. Und er hatte nach vorne geblickt, obwohl er Grace nicht vergessen hatte. Ja, er hatte „die Richtige“ schon vor sehr langer Zeit gefunden.
Josh schloss seine Haustür auf und gab den Blick frei auf die Teile und Stücke seines Lebens – die Bücher, die Kameras, die Out- doorausrüstung, alles einigermaßen ordentlich im Haus verteilt. Obwohl er allein lebte, hielt er Ordnung. Dies war sein Zuhause und er wollte, dass er sich darin ebenso wohlfühlte wie Freunde und Verwandte, die zu Besuch kamen.
Ann setzte sich auf einen Barhocker in der Küche und sah zu, wie Josh ihre Mahlzeit vorbereitete, die draußen auf dem Grill landen würde. Er holte für sie beide ein kaltes Root Beer, ohne zu fragen, was Ann trinken wollte. Sie liebte diese regionale Spezialität, die zu den besseren Exporten von Carin County gehörte.
Als der Fisch draußen auf dem Grill brutzelte, holte Josh verschiedene frische Zutaten aus dem Kühlschrank, die ebenfalls gegrillt werden sollten, wählte ein scharfes Messer und fing an, das Gemüse zu zerkleinern.
„Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Josh.“
Er nickte, während er die Champignons in Scheiben schnitt. „Dachte ich mir schon.“
„Bin ich so leicht zu durchschauen?“ Ann zog eine Augenbraue hoch.
„Nur für alte Freunde. Du machst dir Sorgen.“ Er runzelte die Stirn. „Wenn dich jemand gut kennt, kann er das deinem Gesicht ablesen. Es geht nicht um Paul, sonst hättest du schon etwas gesagt. Karen ist es auch nicht, sonst hättest du nicht nur die Bemerkung über sie fallen lassen, sondern nachgehakt. Wahrscheinlich ist es auch nicht mein Bruder Gabriel – wenn es Probleme mit seinem Job gäbe, wärst du nicht hier. Dann würdest du mit dem Deputy Sheriff oder mit Will darüber sprechen, wie man Gabriel Rückendeckung geben kann, worum auch immer es geht.“ Josh hielt inne, legte den Kopf ein wenig schief und sah sie an. „Also … nach diesem Ausschlussprinzip kann ich nur sagen, dass dir irgendetwas Sorgen macht und du beschlossen hast, dass ich der Richtige bin, der vielleicht helfen kann, dein Problem zu lösen. Also spuck’s schon aus. Sehen wir, was ich tun kann.“
„Ich finde es wunderbar, dass du mich so gut kennst, Josh. Nur so am Rande.“
„Hast du schon mal zusammengerechnet, wie viele Stunden wir durch die Gegend gelaufen sind und über das Leben geredet haben, während die Hunde nach Gräbern gesucht haben? Das ist ungefähr so wie bei Will mit seinen Armeekumpels. Wenn man stundenlang Zeit zum Reden hat, lernt man den anderen wirklich gut kennen. Du und ich, wir haben das oberflächliche Geplauder schon vor Jahren hinter uns gelassen. Wenn du nicht zu alt für mich wärst“, fügte er grinsend hinzu, „würde ich glatt infrage stellen, dass Paul der richtige Mann für dich ist.“
Sie lachte. „Hey, sei vorsichtig, was du sagst! Ich bin nicht so alt, dass ich deine Mutter sein könnte.“
Josh grinste.
„Ich habe eine Freundin, die dich um einen Gefallen bitten wird. Wenn du es möglich machen kannst, würde ich dich bitten, Ja zu sagen. Doch ich sage dir schon vorher, dass diese Bitte viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen wird.“
Josh überlegte kurz und nickte dann. „Normalerweise bist du nicht so geheimnisvoll in deinen Andeutungen.“
„Sie ist eigentlich noch nicht bereit für das, wozu sie sich entschieden hat, und ich kann sie nicht überreden.“ Ann schüttelte den Kopf. „Ich bin ein bisschen frustriert und besorgt und ärgere mich über mich selbst. Damit hätte ich rechnen müssen. Wenn sie es sich anders überlegt – und ich hoffe immer noch, dass ich sie anderweitig überzeugen kann –, will ich nicht, dass du schon zu viele Details kennst. Erst mal möchte ich wissen, ob du überhaupt die Zeit hast. Ich werde jemand anderen finden, wenn du in Urlaub fährst oder mit deinem Buch anfängst oder …“
Josh hob die Hand, um sie zu unterbrechen, da er sich bereits entschieden hatte. „Wenn ich das tun kann, worum deine Freundin mich bittet, werde ich ihr helfen.“
„Das weiß ich zu schätzen, Josh, und zwar mehr, als du ahnst.“ Ann blickte weiterhin nachdenklich drein, während sie ihre Flasche zwischen den Handflächen hin und her drehte. Schließlich schaute sie auf. Josh hielt beim Schneiden der grünen Paprika inne und erwiderte ihren Blick. „Es ist jemand, den du kennst, Josh. Es geht um Grace Arnett.“
Er erstarrte. Tausend Fragen überschlugen sich in seinem Kopf. Doch am Ende fragte er nur: „Wie lange kennt ihr euch schon?“
„Ungefähr seit sie von hier weggezogen ist … vielleicht ein, zwei Jahre später. Sie wohnt schon mehr als zehn Jahre in Chicago.“
„Das hast du nie erwähnt.“
„Manchmal behalte ich ein Geheimnis für mich, vor allem, wenn ich darum gebeten werde.“
Anns ernster Gesichtsausdruck spiegelte seine Gefühle in diesem Moment wider. So klar hatte Josh diese Seite von Ann noch nie gesehen, obwohl er wusste, dass es sie gab – ihre Fähigkeit, die Tür geschlossen zu halten und über bestimmte Dinge nicht zu reden. Sie verriet die Geheimnisse anderer Menschen nicht, das wusste Josh. Wenn Ann jetzt meinte, Grace helfen zu müssen, dann war der Gefallen, um den Grace ihn irgendwann bitten würde, keine kleine Sache.
Er blickte auf das Schneidbrett und die Paprika hinunter, schaute wieder auf und nickte nachdenklich. „Ich werde das schaffen, Ann.“
Sie lächelte zaghaft. „Grace braucht jemanden, bei dem sie sich sicher fühlt, und du bist der erste Name auf meiner sehr kurzen Liste. Es wird helfen, dass ihr früher befreundet wart.“ Als draußen ein Habicht schrie, wandte sie einen Moment lang den Blick ab und sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Oder aber diese Annahme entpuppt sich vielleicht als meine bislang größte Fehleinschätzung. Sie erinnert sich an dich, Josh.“ Ann seufzte. „Ich habe Grace dir gegenüber nie erwähnt, weil sie mich gebeten hatte, es nicht zu tun, und zwar aus Gründen, die mir durchaus einleuchten. Wenn aus der Sache etwas wird, wirst du die Einzelheiten erfahren, und wenn du dann Fragen hast, wende dich an mich. Grace hat schon zu viele Sorgen und die Antworten werden schwierig sein.“
Josh war es nicht gewohnt, sich mit ernsthaften Schwierigkeiten auseinandersetzen zu müssen, doch das hier fühlte sich ganz so an. Ann war in die Rolle ihres früheren Jobs zurückgefallen – sie war Polizistin, die die Last ernsthafter Probleme schultern musste, und versuchte dabei gleichzeitig, ihn so gut wie möglich auf seine Aufgabe vorzubereiten. „Okay.“ Er würde damit klarkommen, beschloss er und wandte sich wieder dem Gemüse zu. „Wahrscheinlich wird sie in ein paar Tagen hier auftauchen. Ich melde mich, wenn sie es sich doch noch anders überlegt.“
„Wenn es so weit ist, können wir weiter über Grace reden.“ Josh schüttete das Gemüse in einen Grillkorb. „Glaub mir, Ann, Grace ist bei mir in Sicherheit. Ich kannte sie, lange bevor du sie kennengelernt hast, und sie bedeutet mir immer noch sehr viel.“ Josh nahm den Grillkorb und trat hinaus auf die Terrasse.
Ann folgte ihm mit ihren Getränken, Besteck und Servietten. „Sei einfach du selbst, Josh“, sagte sie, während sie draußen den Tisch deckte. „Das wird ihr guttun. Aber versuche bitte, alles langsam angehen zu lassen. Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du sie siehst.“ Sie schob zwei Stühle an den Tisch. „Für einen Vormittag habe ich dir genügend Überraschungen aufgetischt, würde ich sagen. Was hältst du davon, wenn wir essen und uns übers Wetter unterhalten?“
Er träufelte Olivenöl über das Gemüse, gab Parmesan darüber und breitete es in dem Korb aus, damit es braun und knusprig wurde. „Im Moment ist es schön, aber später wird es regnen“, bemerkte er mit einem Blick zum Horizont. „Bis jetzt war der November mild und das Laub lässt sich Zeit damit, von den Bäumen zu fallen. So viel zum Wetter.“ Er legte ein Stück Fisch auf Anns Teller und stellte ihn vor sie hin. „Wir essen in Etappen. Warum reden wir nicht über Paul und dich? Ist an den Gerüchten etwas dran, dass er auf dem Weg nach Washington, D. C., ist?“
„Ich habe auch so etwas läuten hören“, bestätigte sie lächelnd. „Paul ist gerne der Leiter des FBI-Büros in Chicago. Aber wenn er stellvertretender Direktor der ganzen Behörde werden will, hätte ich nichts gegen einen Umzug nach D. C. In ein paar Stunden kann ich nach Illinois fliegen, wenn ich Sehnsucht nach meinen Freunden habe, und meine Bücher kann ich überall schreiben. Aber im Moment ist noch nichts konkret.“ Sie zeigte mit der Gabel auf ihren Teller. „Toller Fisch übrigens. Genau richtig zubereitet.“ Dann nahm sie ihr Getränk. „Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Paul irgendwann von irgendwoher in D. C. ein Stellenangebot bekommt, das er nicht ablehnen kann – dass er einspringt, weil jemand wegen eines Skandals zurücktritt, so etwas in der Art. Also eher eine Notfallbeförderung über Nacht. Er hat die Führungsqualitäten, die Erfahrung an der Basis und ein Händchen für die politischen Probleme, die ein solcher Job mit sich bringen würde. Beim FBI ist er ein Schwergewicht, das sehe ich mit jedem Jahr deutlicher. Irgendwann wird er unweigerlich in D. C. enden, auf welcher Stelle auch immer, und das dürfte auch der Grund für die Gerüchte sein.“
„Hast du damit gerechnet, als du ihn geheiratet hast?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Er ist ein hervorragender Polizist. Dass ich aus meinem Polizei-Job ausgeschieden bin, hat unter anderem den Reiz, dass ich mich seinem Berufsleben anpassen kann. Wenn Paul irgendwann in Washington gebraucht wird, dann arrangiere ich mich damit. Es gibt überall Arbeit, die getan werden muss. Und ich arbeite immer als Ermittlerin, wenn mich eine Sache interessiert – entweder gemeinsam mit Paul in unserer Freizeit an ungeklärten Fällen oder als Aushilfe, wenn ich gefragt werde.“
Josh füllte das Gemüse in zwei Schüsseln und stellte je eine davon neben jeden Teller. „Du hast vorhin erwähnt, dass du Fallunterlagen für eine Beamtin hierherbringst?“
„Ja, ich helfe einem Freund.“ Ann spießte eine Champignonscheibe auf und knabberte vorsichtig daran, um sich nicht den Mund zu verbrennen. Dann nickte sie anerkennend. „Das ist gut.“ Sie spießte das nächste Stück Gemüse auf. „Der neu gewählte Gouverneur Bliss will, dass sich eine Task Force ungelöste Fälle vermisster Personen quer durch den Bundesstaat näher ansieht – was verständlich ist, wenn man die Geschichte seiner eigenen Schwester Shannon bedenkt. Shannon wurde im Alter von 16 Jahren entführt und jahrelang gefangen gehalten, bis ihr die Flucht gelang. Diese Task Force wird klein sein, vielleicht vier oder sechs Beamte, und sie soll ihre Arbeit auch erst nach der Amtseinführung von Gouverneur Bliss im Januar aufnehmen. Sharon Noble wird die Leitung übernehmen. Sie ist eine Kollegin vom Riverside Police Department, einem Vorort von Chicago. Sharon hat beschlossen, ein County nach dem anderen durchzugehen und zunächst die Fälle zu bearbeiten, die fünf bis fünfzehn Jahre zurückliegen. Carin County hat zwei davon: die vermisste sechsjährige Tochter der Daytons und die verschwundene Familie Florist. Du erinnerst dich bestimmt daran. Eine Beamtin der Polizei von Illinois ist auf dem Weg hierher, um sich die beiden Fälle anzusehen. Es soll eine Art Probelauf für die Arbeit der Task Force im nächsten Jahr sein. Ich habe ihr die Unterlagen mitgebracht, die das FBI über die Fälle hat.“
„Bist du mit dabei? Ich meine, nicht nur als Bote für die Unterlagen, sondern auch bei den Ermittlungen?“
Ann nickte. „Paul und ich werden beide mit den Fällen zu tun haben. Er liefert der Task Force die FBI-Ressourcen wie Datenrecherche, Laboranalysen und so weiter, wenn es nötig ist. Ich werde die Dinge mit ihm koordinieren. Ich finde die Sache mit der Task Force eine sehr spannende Idee und möchte mich gerne dabei einbringen. Außerdem habe ich gerade ein Buchprojekt abgeschlossen und noch kein neues angefangen.“
„Dad war bei beiden Fällen Sheriff und er hat oft davon gesprochen“, sagte Josh nachdenklich. „Ich habe viele Jahre mit diesen Fällen gelebt – das gilt auch für meine Brüder. Wenn es um Ermittlungsdetails geht und du Informationen oder Einschätzungen brauchst, komm zu uns.“
„Danke. Das ist eine große Hilfe. Die Beamtin heißt übrigens Evie Blackwell. Du wirst sie mögen. Evie und ich sind uns ziemlich ähnlich, nur dass sie ein sonnigeres Gemüt hat.“
Über diese Bemerkung musste Josh lachen.
„Sie kann gut Rätsel lösen“, fügte Ann hinzu.
Jetzt lächelte er. „Das kannst du auch.“
„Hoffen wir, dass das auch diesmal stimmt.“ Ann blickte über den See. „Und dass das Wetter mitspielt. Ich treffe mich um zwei Uhr mit Evie, um mit ihr einen Rundflug über das County zu machen. Wenn du heute Nachmittag ein tief und langsam fliegendes Flugzeug über dem See siehst, kannst du winken. Ich winke bestimmt zurück.“
„Ich werde nach euch Ausschau halten.“ Josh legte seine Gabel hin und berührte ihren Arm, während er mit der anderen Hand nach oben zeigte. „Da – ein Adler! Sein Partner müsste gleich auftauchen.“
„Wow!“, flüsterte Ann beeindruckt, während sie den kraftvollen und zugleich so anmutigen Aufstieg des Vogels beobachtete. Dann ließ sich der Adler wieder langsam hinabsinken, während sein Gefährte ihn umkreiste.
Josh freute sich über Anns Reaktion und genoss einmal mehr den wunderbaren Ausblick von der Terrasse, einem seiner Lieblingsplätze auf seinem Grundstück. Schweigend aßen sie zu Ende, während sie die beiden Adler beobachteten, die über dem See kreisten.
Schließlich schob Ann ihren Teller von sich. „Danke für das wundervolle Essen, Josh. Ich könnte stundenlang hier sitzen und die Aussicht genießen, auch wenn der See aus der Luft ebenso spektakulär aussehen wird. Tut mir leid, wenn der Flug die Adler stört.“
„Die bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Ich bin froh, dass du vorbeigekommen bist. Und ich weiß die Information über Grace sehr zu schätzen.“ Josh trug das Geschirr hinein und griff nach seinem Smartphone und dem Schlüssel. Dann begleitete er Ann den Weg hinunter zum Angelladen und zu ihrem Mietwagen.
„Sieht aus, als hättest du Stammkunden“, sagte sie mit einem Blick auf mehrere Fahrzeuge, die neben ihrem Mietwagen auf dem Parkplatz standen. „Läuft das Geschäft gut?“
„Ausgezeichnet. Zudem ist das hier das einzige Geschäft für Anglerbedarf in der Gegend und der Fischfang auf dem See ist so gut wie seit Jahren nicht mehr.“ Josh hielt ihr die Wagentür auf. „Fahr vorsichtig. Und flieg noch vorsichtiger.“
„Immer.“ Sie winkte ihm zum Abschied, bevor sie den Wagen vom Parkplatz lenkte. Josh schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und überlegte, ob er zurückgehen und das Boot ausladen oder sich zu seinen beiden Angestellten im Laden gesellen sollte. Doch schließlich wandte er sich um und ging zurück zu seinem Haus. Er wollte einfach nur dasitzen und nachdenken … sich erinnern.
Grace Arnett kommt zurück. Josh machte es sich mit einer kalten Limonade auf der Veranda vor seinem Haus bequem und beobachtete wieder die Adler. Mit keiner anderen Neuigkeit hätte Ann sein Leben noch mehr erschüttern können, als sie es soeben getan hatte. Josh verspürte eine Erleichterung, die an Glückseligkeit grenzte. Und zugleich schlugen alle seine Warnsysteme Alarm aufgrund dessen, was Ann solche Sorgen machte. Sie hatte in unzähligen Mordfällen ermittelt. Sie wurde nicht so schnell nervös; stattdessen analysierte sie, wo das Problem lag, und arbeitete an einer Lösung. Um was für einen Gefallen will Grace mich bitten? Zweifellos würde er so lange grübeln, bis sie auftauchte und es ihm sagte.
Eine Entscheidung traf er schon im Voraus: Worum es auch ging, er würde mit Bedacht reagieren – und er würde Ja sagen, wenn er ihr irgendwie helfen konnte. Man bekam schließlich nicht oft die Gelegenheit, die besten Tage seiner Jugend noch einmal zu durchleben. Grace Arnett. Josh lächelte kopfschüttelnd. Wahrscheinlich hatte er irgendwo noch immer ein paar Notizbücher aus seiner Schulzeit, in denen ihr Name unter seinem eigenen stand, eingerahmt von einem Herzchen. Wenn sie eine Nostalgiereise in die Vergangenheit unternehmen wollte, dann würde er sich gerne mit seinen eigenen Erinnerungen beteiligen. Er konnte sich an nichts Schöneres und Unschuldigeres erinnern als an diese seine erste Liebe zu Grace. Es war kein Zufall, dass seither keine junge Frau auch nur ansatzweise ein ähnliches Interesse bei ihm hatte wecken können.
Dee Henderson
Seit 1996 hat sich Dee Henderson mit nur zwei Romanserien in die Spitze der christlichen Schriftsteller in den USA geschrieben. Dem Erfolg entsprechend hat die Tochter eines Pfarrers ihren Beruf als Finanzbeamtin an den Nagel gehängt und lebt als Schriftstellerin bei Chicago.
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