London, 1813: Die Wirren der Französischen Revolution haben die junge Céline nach England ins Exil getrieben. Nach einer kurzen, unglücklichen Ehe bleiben ihr eine Menge Geld – und äußerst wertvolle Kontakte zur High Society. Doch wem gilt ihre wahre Loyalität? Den Franzosen oder den Briten?
Das herauszufinden, ist die Aufgabe von Rees Phillips. Als Butler wird er in den Haushalt der jungen Witwe eingeschleust. Doch bald schon stellt er fest, dass die Dinge wesentlich komplizierter sind als erwartet. Und das liegt nicht zuletzt an den Gefühlen, die Céline in ihm wachruft ...
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1. Kapitel
London, April 1813
Noch nie hatte Rees so viele Kostbarkeiten auf einmal gesehen. Perlenschnüre, goldene Ketten, mit Edelsteinen besetzte Tiaras und Armreifen jeglicher Art lagen auf ihren Satinstoffen.
Die Schmuckschatulle der Countess of Wexham enthielt genügend Juwelen, um halb London ernähren zu können.
Aber ihn interessierte nicht, welche Preise der Schmuck auf dem Markt erzielen würde. Er suchte etwas anderes. Etwas viel Wertvolleres – und Belastenderes –, wenn es überhaupt zu finden war.
Informationen.
Rees warf einen schnellen Blick über die Schulter – schon den ganzen Abend lang bildete er sich ein, Schritte hinter sich zu hören –, bevor er jedes Schmuckstück hochhob, um sich zu vergewissern, dass darunter nichts verborgen war. Dann legte er die Stücke sorgfältig wieder in die Schatulle und bemühte sich dabei, alles so zurückzulassen, wie er es vorgefunden hatte. Ihm war bewusst, wie die Sekunden verstrichen, aber noch immer war er nicht sicher, wonach er suchte. Er wusste nur, dass er es erkennen würde, wenn er es sah.
Er ließ den Deckel leise zuklappen und verschloss die Schatulle wieder. Als Nächstes öffnete Rees mit seinem Dietrich die schmale Schublade im unteren Teil des Kastens und zog sie heraus. Reihenweise Ohrringe und Ringe, besetzt mit Amethysten, Topasen, Rubinen und Smaragden, funkelten ihn im Licht seiner Kerze an.
Wieder ging er jeden Gegenstand durch und suchte in dem Satin darunter. Nichts Ungewöhnliches … für eine Dame aus der modischen Welt der Londoner Gesellschaft.
Rees schob die Schublade wieder zu und verschloss sie, während er tief durchatmete. Dann warf er einen Blick auf die Messinguhr neben der Schmuckschatulle. Zehn kostbare Minuten waren verstrichen, seit er das Ankleidezimmer der Countess betreten hatte. Davor hatte er bereits ihr Schlafzimmer durchsucht und nichts gefunden. Seiner Einschätzung nach hatte er noch mindestens eine Stunde Zeit, bevor sie oder ihre Zofe an diesem Abend zurückkam.
Nachdenklich betrachtete er das Möbelstück, auf dem die Schmuckschatulle stand – eine Mahagonikommode mit geschwungener Front und Schubladen, deren Messinggriffe die Form von Löwenköpfen hatten. Rees zwang sich, mit der unangenehmen Aufgabe weiterzumachen, in anderer Leute Privatangelegenheiten zu schnüffeln, und zog an den obersten beiden Griffen, um die erste Schublade zu öffnen. Stapelweise zu ordentlichen Quadraten gefaltete Taschentücher lagen darin, aus den verschiedensten Stoffen und in Nuancen von Schneeweiß bis Cremeweiß; von spitzenumrandetem feinstem Leinen bis zu schwerer Baumwolle mit einem Monogramm in der Ecke, so schlicht wie das Taschentuch eines Mannes.
Das passte nicht recht zu der Besitzerin, einer Dame von äußerster Weiblichkeit.
Rees sah jeden Stapel durch und tastete sie nach irgendwelchen Gegenständen ab, irgendetwas Verdächtigem – sei es ein gefalteter Zettel, eine Papierrolle, etwas Zylindrisches, in das man ein Dokument schieben könnte.
Der Duft von Mahagoni und Lavendel stieg ihm in die Nase. Seine Finger befühlten einige kleine Beutel mit Satinbändern. Auch diese untersuchte er einen nach dem anderen, ertastete mit den Fingerspitzen aber nur die kleinen Lavendelkügelchen.
Danach fuhr er über den Schubladenboden, der mit Papier ausgeschlagen war, fühlte in jeder Ecke und schob eine Hand sogar unter das Papier, während er mit der anderen die Taschentücher festhielt.
Dasselbe tat Rees in allen vier Ecken der Lade, links, vorne, hinten und rechts. Schließlich warf er noch einen prüfenden Blick hinein, um sich zu vergewissern, dass alles an seinem Platz war, bevor er die Schublade vorsichtig zurückschob.
Wo würde er etwas verstecken, wenn er eine Dame wäre? Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er sich in dem anmutigen Ankleidezimmer um und betrachtete die Einrichtung – zwei große Kleiderschränke an einer Wand, die Schubladenkommode, vor der er stand, ein Frisiertisch mit Spiegel und zwei bequeme Sessel rechts und links davon, ein weicher Teppich in Rosa- und Grüntönen, der einen Großteil des Bodens bedeckte. Ein schwacher Parfümduft hing in der Luft, nichts Schweres, sondern ein ganz leichter Hauch, der ihn an ein Dorf in Sussex im Hochsommer erinnerte, wenn die Hecken von Rosenblüten übersät waren, die ihren Duft entfalteten, wenn man sie berührte.
Er wandte sich wieder der Kommode zu. Ihm blieb nichts anderes übrig, als systematisch alle Schubladen und jeden Gegenstand darin durchzusehen, so wie er es im Schlafzimmer gemacht hatte.
Diesen Aspekt seiner Arbeit hasste er – in den privaten Dingen einer Dame herumzuspionieren. Da zog er eine blutige Schlacht auf hoher See mit gekreuzten Schwertern an Deck einer Fregatte vor.
Die tickende Uhr erinnerte Rees wieder daran, dass er sich besser an die Arbeit machen sollte, damit er nicht entlarvt wurde, bevor seine erste Arbeitswoche vorüber war.
Also stählte er sich für die Aufgabe und zog die nächste Lade heraus. Zum Glück war alles in dem eleganten Stadthaus der Lady Wexham neu und gut gepflegt. Er brauchte keine klebrigen Schubkästen oder knarrenden Scharniere zu fürchten. Aus ihrem Dossier wusste er, dass die Countess erst vor drei Jahren hierhergezogen war, nachdem ihr Mann gestorben war.
Verwirrt und etwas verlegen betrachtete er den Inhalt der Schublade. Seidene und leinene Unterwäsche.
Gegen seinen Willen tauchte die Dame, der diese Dinge gehörten, vor seinem geistigen Auge auf.
Eine schöne Frau mit dunklen Haaren und strahlenden Augen, eleganter und vornehmer als jede andere Frau, die Rees kannte. Und, bis auf Weiteres, seine Arbeitgeberin.
Und höchstwahrscheinlich eine Spionin gegen Großbritannien.
Seine Aufgabe war es, das herauszufinden.
Rees starrte auf die spitzenbesetzten Hemdchen und Seidenstrümpfe, während er die Hände zu Fäusten ballte.
Doch dann zwang er sich weiterzumachen. Er wusste, dass jede Minute kostbar war. Er musste seine Suche beenden, so zuwider sie ihm auch war, und das Zimmer verlassen, bevor jemand ihn zufällig sah.
Rees konzentrierte sich auf seine Aufgabe und tauchte die Hände in die Schublade, um jeden Gegenstand zu untersuchen, so wie er es bei der vorigen Lade getan hatte. Wieder tastete er den Boden nach etwas ab, das unter dem Papier versteckt sein könnte.
Als er die Schublade zur Hälfte durchsucht hatte und bei einem Stapel Korsettstangen und Schnürmieder angekommen war, hörte er, wie die Tür im Nebenzimmer sich mit einem Klicken öffnete.
Er erstarrte, denn diesmal trog sein Gehör ihn nicht. Valentine, die Zofe der Countess, konnte es nicht sein. Er hatte gehört, wie sie dem Koch erzählt hatte, sie wolle ausgehen. Was Lady Wexham betraf, so kehrte sie nie vor Mitternacht zurück, und es war noch keine zehn Uhr.
Aber das leise Geräusch, das die Schritte von eleganten Damenschuhen auf dem Fußboden verursachte, war untrüglich. Rees löschte seine Kerze, während sein Blick durch das Ankleidezimmer huschte und er sich einprägte, wo die Möbel standen, bevor der Raum ins Dunkel getaucht wurde.
Seine einzige Hoffnung war einer der Kleiderschränke. Mit wenigen langen Schritten durchquerte er das Zimmer bis zu dem zweiten Schrank, der von der Tür zum Schlafzimmer am weitesten entfernt war. Es schien ihm am wenigsten wahrscheinlich, dass jemand die Tür zu diesem Schrank öffnen würde, wenn er das Ankleidezimmer betrat. Er öffnete eine der Türen und war erneut dankbar für die gut geölten Scharniere. Eine Sekunde später war auch die zweite Schranktür auf. Ress tastete nach dem unteren Fach. Es war breit und tief und mindestens sechzig Zentimeter hoch. Er schob die Kleidung darin zur Seite und kroch hinein, auch wenn er mit seiner Körperlänge von einem Meter achtzig Mühe hatte, sich in das Fach zu zwängen.
Er hörte weitere Bewegungen im Nebenzimmer, zog die Kerze näher zu sich und unterdrückte einen Schmerzensschrei, als heißes Wachs sich über seine Hand ergoss. Schnell legte er einige der Kleidungsstücke über sich und zog die beiden Türflügel von innen zu. Würde die Person nebenan den Geruch von heißem Wachs bemerken, den die gerade erst gelöschte Kerze ausströmte?
Von seiner Position aus schaffte es Rees nicht, die Türen ganz zu schließen. Er konnte die zweite Tür nur mit den Fingerspitzen erreichen und betete inständig, dass niemand hereinkam und bemerkte, dass eine Schranktür ein wenig offen stand.
Seine Wirbelsäule war gegen die Rückwand des Schranks gepresst, die Knie hatte er fast bis zur Brust angezogen, während seine Schuhspitzen ein Ende des Schranks berührten und sein Scheitel die andere. Er schloss die Augen und lauschte angestrengt, während er hoffte, dass er nicht entdeckt wurde.
Wer um alles in der Welt war in das Schlafzimmer der Coun-tess gekommen? Sie selbst konnte es nicht sein. Und was ihre Zofe betraf, so hatte er sie selbst das Haus verlassen sehen, sobald ihre Herrin in ihrer Kutsche weggefahren war. Valentine war Französin und verachtete die anderen Dienstboten, abgesehen von dem französischen Koch. Die britischen Angestellten behandelte sie, als wäre es unter ihrer Würde, sich mit ihnen abzugeben.
Lange hörte Rees in seinem engen Versteck nichts. Der Schweiß stand ihm inzwischen auf der Stirn und im Nacken. Der Duft von Walnüssen mischte sich mit dem Geruch nach Rosen und Stärke, das von dem Kleidungsstück ausging, mit dem er sich bedeckt hatte. Er lockerte seine Finger ein wenig, die die Kerze fest umklammert hielten, und rieb den Saum des Gewandes zwischen Daumen und Zeigefinger, um sich von seiner unbequemen Haltung abzulenken. Seide.
In der knappen Woche, die er jetzt im Haushalt der Lady Wexham angestellt war, hatte er sie in einem Dutzend verschiedener Garderoben gesehen, da sie sich mindestens drei Mal am Tag umzog. Morgenkleider, Reitkleidung, Besuchskleider, Ballroben. Rees dachte an seine jüngere Schwester Megan, die immer hübsch aussah, aber nicht einmal den Bruchteil der Kleidermenge besaß, die seine Arbeitgeberin ihr Eigen nannte. Megan trug einfache Baumwollkleider, aus Modezeitschriften abgezeichnet und selbst genäht. Aber seine Schwester lebte auf dem Lande und konnte nie die gesellschaftliche Position einer Lady Wexham anstreben.
Trotz seiner Versuche, sich abzulenken, wurden die Minuten in dem beengten Raum lang. Schweißtropfen begannen Rees über die Schläfe und ins Auge zu rinnen. Er wagte nicht, sie fortzuwischen. Die Luft wurde stickig und er fragte sich unwillkürlich, ob ein Mensch in einem Kleiderschrank ersticken konnte.
Er stellte sich die Schlagzeile vor: „Butler im Kleiderschrank zwischen den Unterröcken seiner Herrin tot aufgefunden“.
Sei nicht so ein Angsthase. Es ist auch nicht schlimmer, als im Bauch eines Schiffes zu schlafen. Das hast du jahrelang überlebt. Natürlich war er mehr als zehn Jahre jünger gewesen und ein paar Pfund leichter, als er in der Marine Seiner Majestät gedient hatte.
Vielleicht war ein anderes Dienstmädchen gekommen, um das Bett aufzuschlagen, und ging in wenigen Minuten wieder.
Doch als Rees hörte, wie die Tür zum Ankleidezimmer aufging, erstarrte sein Körper erneut, jeder Nerv alarmiert. Einigen Schritten folgte Stille. Der Eindringling musste den Teppich betreten haben. Eindringling?, sagte Rees sich. Er war der Eindringling.
Ein leises Summen drang durch den Türspalt herein.
Dieses Summen kannte er. Er hatte es schon gehört. Auf der anderen Seite der Kleiderschranktür stand Lady Wexham, nur wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der er wie ein Würstchen im Schlafrock eingerollt lag.
Was machte sie nur um diese Zeit zu Hause? Vielleicht hatte sie etwas vergessen und war zurückgekommen, um es zu holen?
Doch das ergab keinen Sinn. Valentine sorgte schließlich dafür, dass ihre Herrin alles hatte, was sie brauchte, wenn sie das Haus verließ.
Oder konnte es sein, dass sie aus einem Grund zurückgekehrt war, der nichts mit ihrem offiziellen Leben zu tun hatte … sondern mit etwas, was sie heimlich tun musste?
Sein Herz fing an zu hämmern, während seine Nervosität bei dem Gedanken stieg, dass er an diesem Abend vielleicht etwas Greifbares über Lady Wexhams Loyalität herausfinden würde. Wenn er beweisen konnte, dass sie eine französische Spionin war, hätte er diesen unbequemen Auftrag hinter sich.
Rees stellte sich den triumphierenden Gesichtsausdruck seines Vorgesetzten vor, doch dann wurde ihm bewusst, dass er für seine Entdeckung kaum belohnt werden würde. Seine Aufregung wich sogleich einer Abscheu angesichts der Tiefen, zu denen seine Arbeit ihn zwang.
Er musste im Haushalt einer Countess einen Dienstboten spielen, nur damit sein Vorgesetzter im Außenministerium, der junge Alistair Oglethorpe, vor dem Außenminister mit seinen Ergebnissen angeben konnte.
„Hm!“
Rees’ Gedanken kehrten in die Realität zurück. Angestrengt versuchte er, mehr zu hören. Lady Wexham klang verärgert.
Während er wünschte, er könnte durch den Türspalt spähen, blieb er stockstill liegen und bewegte nicht einmal die Augenlider.
„Zut!“
Was tat sie da?
Wieder Schritte; dann Stille.
War sie gegangen? Rees wartete. Noch immer wagte er nicht, sich zu rühren. Sein Hals schmerzte schon von der unbequemen Haltung und seine Füße waren von der mangelnden Durchblutung eingeschlafen, deshalb musste er sie trotz aller Gefahren ein wenig bewegen.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, die aber wahrscheinlich nur einige Minuten gedauert hatte, näherten sich zwei weibliche Stimmen dem Kleiderschrank.
„Es tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett holen muss, aber ich komme allein mit dem Korsett einfach nicht zurecht.“
„Natürlich nicht, Mylady, bei all der Spitze auf dem Rücken.“
Es war eins der jungen Dienstmädchen in Begleitung der Coun-tess. Er kam immer noch mit den Namen durcheinander. War es Virginia oder Sally?
„Ich schnüre es gleich für Sie auf.“
„Valentine ist nicht hier und ich wollte niemand anderen wecken.“
„Das macht gar nichts, Mylady. Ich bin nur schlafen gegangen, weil ich Sie nicht zurückerwartet habe. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so früh wiederkommen, wäre ich aufgeblieben.“
„Das solltest du aber nicht. Schließlich konntest du nicht wissen, dass ich das Gedränge bei der Prinzessin Esterhazy nicht ertragen würde.“ Lady Wexhams Tonfall klang leicht belustigt.
Einige Sekunden später sprach das Mädchen wieder. „So, das hätten wir, Mylady.“
„Danke.“ Die Countess atmete hörbar auf.
„Brauchen Sie sonst noch etwas, Ma’am?“
„Ich mache dir nur ungern Mühe, aber vielleicht einen Tee? Ich habe leichte Kopfschmerzen. Das liegt gewiss an diesem schrecklichen Nebel. Deshalb bin ich auch so früh nach Hause gekommen.“
„Es tut mir leid, dass es Ihnen nicht gut geht. Sie sehen auch ein bisschen blass aus. Ich bringe Ihnen sofort einen Tee.“
Die Stimme des Dienstmädchens kam aus unterschiedlichen Entfernungen, als würde es herumlaufen. Wahrscheinlich räumte es Dinge fort. Solange es nicht beschloss, die Garderobe seiner Herrin in den Schrank zu hängen …
„Ich glaube, ein Kräutertee wäre jetzt gut. Vielleicht Kamille?“
„Natürlich, Mylady. So, in Ihrem Nachthemd werden Sie sich bestimmt viel wohler fühlen.“
„Oh ja, sehr viel wohler. Danke, Virginia. Du bist ein Schatz.“
Also war es Virginia, die ihrer Herrin geholfen hatte.
„Ich hole Ihnen Ihr Tuch.“
„Das ist nicht nötig. Ich werde gleich schlafen gehen, sobald ich mir das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt habe.“
„Wenn ich wiederkomme, bürste ich Ihnen die Haare, Mylady.“
„Danke, aber das schaffe ich heute alleine.“
„Also gut, ich bin gleich wieder da.“
Rees wartete, während er voller Anspannung befürchtete, dass die Schranktür ihm jeden Augenblick aus den Fingern gerissen werden würde. Aber er hörte nur Wasser, das aus einem Krug gegossen wurde, und dann ein Plätschern.
Wieder wartete er einige Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, bis er die Stimme des Mädchens erneut hörte. „Ich habe einen Becher an Ihr Bett gestellt.“ Seine Stimme entfernte sich. „Kommen Sie, ich flechte Ihnen die Haare.“
Lady Wexham gähnte und sagte: „Ach nein, heute nicht.“
„Aber Mylady, das dauert doch nur einen Augenblick.“
„Schon gut, ich werde das Haar nur heute offen lassen.“
„Wenn Sie sicher sind, Mylady …“ Das Mädchen klang skeptisch.
Rees stellte sich Lady Wexhams braune Locken vor, die sie für gewöhnlich um den Kopf gewunden oder geflochten trug, während ein paar kürzere Strähnen um das Gesicht fielen, wie es derzeit Mode war. Wie lang waren ihre Haare wohl? Bis zur Taille reichten sie vermutlich mindestens, überlegte er. Er verdrängte diesen unziemlichen Gedanken gleich wieder.
„Ich bin sicher, Virginia.“ Lady Wexhams Stimme klang bestimmt. „Ich werde den Tee trinken, den du mir freundlicherweise zu dieser nachtschlafenden Zeit noch aufgebrüht hast.“
„Also gut, Mylady.“
Plötzlich hörte Rees Virginias Stimme genau vor der Schranktür. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie noch irgendetwas brauchen.“
„Ach, lass nur. Valentine kann die Sachen morgen früh forträumen.“
„Ich hänge nur das Kleid auf, Mylady.“
Rees’ Herz hämmerte so laut in seiner Brust, dass die Schranktüren vibrieren mussten. Würde sie bemerken, dass das Türschloss nicht eingeschnappt war?
„Leg es einfach über den Stuhl. Valentine bekommt einen Anfall, wenn meine Kleider nicht genau nach ihrer Vorstellung aufgehängt werden. Und jetzt geh schlafen. Die Nacht ist kurz genug.“
„Gut, Mylady. Dann gute Nacht, wenn Sie sicher sind, dass Sie sonst nichts brauchen.“
„Heute Abend nicht mehr. Danke.“
Die Stimmen verklangen, als Lady Wexham und Virginia sich aus dem Raum entfernten.
Rees zählte in Gedanken eine ganze Minute, bevor er seinem Körper gestattete, sich ein wenig zu entspannen.
Nun musste er nur noch einen Weg hinaus finden. Die einzige Tür, durch die er entkommen konnte, war die zu Lady Wexhams Schlafzimmer. Wie lange würde es dauern, bis sie ihren Tee getrunken hatte und eingeschlafen war?
Er musste sich also auf eine lange Wartezeit einstellen, denn er konnte nicht wagen, sich durch ihr Zimmer zu schleichen, bevor sie tief und fest schlief.
Während er betete, dass Kamillentee eine einschläfernde Wirkung haben möge, bewegte Rees seine verkrampften Füße und ließ die Schranktür los, die er immer noch krampfhaft umklammert hielt. Um das Gefühl in den Fingern zurückzuerlangen, bewegte er sie vorsichtig.
Wie lange er schon in dem Schrank lag, wusste er nicht. Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn er fuhr plötzlich aus einem Traum hoch. Als er sich zu erinnern versuchte, fiel ihm wieder ein, was er geträumt hatte. Er hatte in einem Sarg gelegen, alles um ihn herum vollkommen schwarz.
Rees blinzelte. Ihm wurde bewusst, dass er, genau wie in dem Traum, nicht das Geringste sehen konnte. Dann erinnerte er sich daran, wo er war und warum.
Er lauschte angestrengt. Als er nichts hörte, stieß er eine der beiden Schranktüren ein wenig auf. Dunkelheit und Stille herrschten auch jenseits der Tür, also riskierte er, sie weiter zu öffnen.
Als er kein Licht aus dem Nebenzimmer dringen sah, wagte er, die andere Tür ebenfalls aufzuschieben und die Beine aus dem Kleiderschrank zu strecken. Sofort fingen seine Füße an zu kribbeln.
Er musste einen Moment warten, bis dieses Gefühl nachließ. Dann stellte er die Kerze auf den Boden und schälte auch den Rest seines Körpers aus dem engen Schrankfach.
Mit gespitzten Ohren hielt er inne. Noch immer nichts. Lady Wexham musste eingeschlafen sein.
Eine Weile blieb er, auf allen vieren am Boden kauernd, und drehte den Kopf, um den steifen Hals und die verspannten Schultern ein wenig zu lockern. Dann versuchte er, den Inhalt des Schrankfachs wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, in dem er mehrere Stunden gelegen hatte. Was würde Valentine denken, wenn sie die zerknitterte Kleidung sah? Würde sie ihre Herrin danach fragen? Er versuchte, im Dunkeln die Kleidungsstücke zu falten und aufei- nanderzulegen.
Dann stand er auf, nahm die Kerze mit ihrem Halter und schob beides in seine Tasche. Wieder hielt er inne, um zu lauschen, dann schloss er vorsichtig die Schranktüren und drehte leise den Schlüssel im Schloss.
Da sich seine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Umrisse der geöffneten Tür zum Schlafzimmer erkennen. Er streckte die Hände aus und tastete sich mit zögernden Schritten vorwärts. Auf dem Teppich machten seine Füße kein Geräusch. Als er den Dielenboden erreichte, ging er noch langsamer und vorsichtiger.
Schließlich war er im Nebenzimmer. Jetzt hörte er das gleichmäßige Geräusch von Atemzügen. Die Vorhänge um das breite Himmelbett waren zugezogen, sodass die Schlafende nicht zu sehen war.
Rees spürte wieder einen Teppich unter seinen Füßen und ging schneller, bis er wieder auf Holz trat, kurz vor der Tür zum Flur. Zwei Schritte später knarrte es laut unter seiner Schuhsohle. Das Geräusch hallte in der stillen Nacht wider. Er hielt den Atem an und bewegte nicht einen Muskel.
Lady Wexham rührte sich nicht.
Rees verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und hob den Fuß – Ferse, Fußballen, Zehen – langsam von dem knarrenden Boden, während er mit einem erneuten Geräusch rechnete.
„Sie verwechseln mich, Sir.“
Rees erstarrte. Schließlich wagte er es, sich ein wenig zur Seite zu drehen, um zu dem dunklen Bett hinüberzusehen.
Lady Wexham murmelte etwas auf Französisch. Erleichtert erkannte er, dass sie im Schlaf redete. Ihre Bettlaken raschelten, als sie sich umdrehte und leise seufzte.
Rees wartete und zählte die Sekunden, bis er sie wieder ganz im Tiefschlaf wähnte.
Ohne weiteres Knarren erreichte er die Tür, wo er vorsichtig die Hand um den Messingknauf legte. Er drehte den Knauf ein wenig und stellte fest, dass er sich leicht bewegen ließ. Daraufhin drehte er weiter und stieß die Tür einen Spaltbreit auf. Eine Sekunde später war sie so weit geöffnet, dass er sich hindurchzwängen konnte.
Er trat auf den Gang. Das schwache Licht einer Straßenlaterne vor dem Haus schien durch das Fenster am Ende des Flures herein. Er schloss die Tür hinter sich und achtete sorgfältig darauf, dass der Knauf sich wieder in der ursprünglichen Position befand. Nur ein ganz leises „Klick“ und die Tür war geschlossen.
Erleichtert lehnte er sich einen Moment lang an die Wand im Flur und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, aber noch wagte er nicht, ein Taschentuch herauszuziehen. Das konnte warten, bis er wieder in seinem Zimmer im Untergeschoss war.
Die Nacht hatte sich als ergebnislos erwiesen. Er hatte die Räume von Lady Wexham nicht zu Ende durchsuchen können – und wer wusste, wann er wieder die Gelegenheit dazu bekam? Valentine bewachte die Zimmer ihrer Herrin wie eine Gefängniswärterin. Dass an diesem Abend beide ausgegangen waren, war äußerst ungewöhnlich. Und wenn Lady Wexham irgendetwas zu verbergen hatte, dann doch bestimmt irgendwo in ihren Privaträumen, überlegte Rees.
Wie hätte er erklären sollen, dass er inmitten von Lady Wexhams Kleidern kauerte, wenn das Mädchen vorhin den Schrank geöffnet hätte? Bei dem Gedanken brach ihm erneut der Schweiß aus.
Er musste vorsichtiger sein. Schließlich konnte er es nicht riskieren, dass jemand aus dem Haushalt ihn verdächtigte, schon gar nicht seine Herrin selbst. Alles hing davon ab, dass sie in ihm nichts als einen Butler sah.
Ruth Axtell
Ruth Axtell wusste schon als Kind, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und wohnte zeitweise in Paris, Miami, den Niederlanden und auf den Kanarischen Inseln. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern in Maine.
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