Doch bevor ich die erste Frage über meine trockenen Lippen bringen konnte, stand Mrs Washington auf.
»Möchten Sie eine Tasse Tee? Tee hilft, die Nerven zu beruhigen.«
Meine steifen Schultern entspannten sich ein wenig. Also war nicht nur ich aufgeregt wegen des Interviews. »Das wäre nett, aber ich versichere Ihnen, dass es keinen Grund gibt, nervös zu sein.«
Sie schmunzelte. »Ich bin nicht nervös, Kind, aber Sie wirken völlig angespannt. Kommen Sie mit in die Küche und ich koche Ihnen eine gute Tasse Kamillentee.«
Ohne auf meine Antwort zu warten, verließ sie das Zimmer, während ich, beschämt, weil sie mich so leicht durchschaut hatte, sitzen blieb. Warum machte mich diese Situation so kribbelig? Bei meinen Interviews für den Banner war das nie so gewesen.
Ich legte meine Sachen auf den Boden und folgte Mrs Washington in die winzige Küche. Ein tiefes Porzellanspülbecken stand unter einem Fenster, das auf die Rückseite einer heruntergekommenen Mietskaserne hinauszeigte. Ein kleiner Kühlschrank nahm eine Ecke des Raumes ein, während ein noch kleinerer Tisch und zwei Stühle in der anderen Ecke standen. Am meisten überraschte mich der altmodische Holzofen, an dem Mrs Washington arbeitete. Unser Herd zu Hause wurde mit Gas betrieben. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass jemand noch mit Holz oder Kohle kochte. War das hier in Hells Half Acre üblich? Oder war nur Mrs Washington noch nicht in der heutigen Zeit angekommen?
Beim Anblick ihres alten Ofens drängte sich mir jedoch die Frage auf, auf welche anderen Dinge, die ich als selbstverständlich hinnahm, diese Frau vielleicht auch noch verzichten musste.
»Jael - sie kümmert sich um mich, wenn sie nicht gerade an der Universität studiert - mag Kamillentee, aber ich muss zugeben, dass ich eine Tasse starken Kaffee vorziehe.«
Während sie meinen Tee vorbereitete, fiel mir auf, dass eine ihrer Hände ziemlich entstellt war. Dort, wo Fingerknöchel sein sollten, hatte sie große Knoten und zwei ihrer Finger zeigten in die falsche Richtung. Das bremste sie jedoch keineswegs aus. Sie goss heißes Wasser aus einem Kessel, der auf der Herdplatte stand, in eine schlichte weiße Tasse mit einem Tee-Ei. Dann nahm sie eine hellblaue Untertasse aus dem offenen Regal, in dem sie kleine Stapel bunt zusammengewürfelter Teller stehen hatte, stellte die Tasse darauf und reichte sie mir. »Möchten Sie Zucker?«
Ich schüttelte den Kopf, da ich ihr nicht noch mehr Umstände machen wollte, besonders, als ich merkte, dass sie nicht mittrank. »Vielen Dank.«
Sie nickte und ging ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich wieder in ihren Sessel setzte. »Ich nehme an, Sie waren noch nie hier unten in den Acres.« In ihrem ruhigen Blick lag weder eine Anklage noch Neugier. Es war einfach eine Feststellung.
»Nein, Maam.« Ich setzte mich vorsichtig, um meinen Tee nicht zu verschütten. Im Moment hatte ich keine Möglichkeit, mein Notizbuch und meinen Bleistift aufzuheben, und hoffte, dass sie nicht sofort anfangen würde, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.
»Sie haben nicht viel verpasst. Ich wohne seit fast sechzig Jahren hier. In dieser Zeit habe ich alles Mögliche gesehen. Hier leben gute Leute, aber es gibt auch einige, die nur darauf aus sind, allen anderen das Leben schwer zu machen.«
Mir fiel auf, dass sie dieses Viertel nicht als Hells Half Acre bezeichnete, wie es in ganz Nashville genannt wurde. Wenn ich hier wohnen müsste, würde ich das wahrscheinlich auch nicht tun. Warum sollte jemand, der unter solchen Bedingungen leben musste, seine entmutigende Situation noch verschlimmern und seinen Wohnort nach der Hölle benennen?
»Ich will ehrlich sein, Miss Leland.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ich war ziemlich überrascht, als ich von der Regierung einen Brief bekam, in dem stand, dass man meine Geschichten aus der Zeit der Sklaverei hören will.«
Ich lächelte. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie bereit sind, über Ihr Leben zu sprechen.« Natürlich wusste ich nicht, wen ich mit wir genau meinte, aber als Angestellte einer Bundesbehörde musste ich den Eindruck vermitteln, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein. Das ganze Projekt war Präsident Roosevelts Idee, also war anzunehmen, dass sein Interesse an den Geschichten früherer Sklaven der Grund für meinen heutigen Besuch bei dieser Frau war.
»Ich habe meine Geschichte noch nie jemandem erzählt, seit die Freiheit gekommen ist. Es hat keinen Sinn, sich an diese Tage zu erinnern, finde ich.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
Ich verschluckte mich fast an meinem Tee. Wollte sie damit sagen, dass sie mir gar nichts erzählen wollte? Würde mein erstes Interview für das Federal Writers Project ein totaler Reinfall werden? Mr Carlson wäre davon nicht begeistert.
Mein Magen rebellierte, als mir bewusst wurde, dass ich vielleicht schon am Ende des Tages wieder ohne Arbeit dastehen würde. Ich stellte meine Teetasse auf den kleinen Tisch links neben meinem Stuhl, wobei ich sorgfältig darauf achtete, die darauf verteilten dekorativen Gegenstände und das gerahmte Bild eines jungen Mannes nicht zu berühren, während mein Verstand auf Hochtouren arbeitete. Mr Armistead hatte mich schon früh in meiner Laufbahn als Reporterin gelehrt, bei schwierigen Gesprächspartnern viel Überzeugungskraft einzusetzen. Ich hoffte, seine Methoden würden auch jetzt funktionieren.
»Mrs Washington, ich bin natürlich nicht qualifiziert, Ihnen zu raten, ob Sie meine Fragen beantworten wollen oder nicht, aber ich halte dieses Projekt für sehr wichtig.« Erst jetzt, wo ich das gesagt hatte, begriff ich, dass es der Wahrheit entsprach. Ich wollte die Geschichte dieser Frau wirklich hören. Ich wollte wissen, wie ihr Leben als Sklavin ausgesehen hatte. Mrs Frances Washington war gestern noch ein gesichtsloser Name für mich gewesen. Heute war sie eine ältere Frau, die in einem winzigen gelben Haus mit Blumen im Vorgarten in einem Stadtviertel wohnte, dessen Ruf genauso besudelt war wie die Rinnsteine seiner Straßen.
Lange Sekunden verstrichen, in denen nur das Ticken einer Uhr zu hören war und wir uns ansahen.
»Jael hat gesagt, dass ich mit Ihnen sprechen soll. Sie ist jung und weiß nicht viel über die Zeit der Sklaverei. Sie sagt, es wäre für Leute aus ihrer Generation gut, etwas über die Vergangenheit zu erfahren.«
Ich dankte Jael im Stillen und nahm mein Notizbuch.
»Aber ich habe ihr erklärt, dass man die Vergangenheit am besten vergessen sollte. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen und das, was passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern. Wozu diese ganzen bitteren Erinnerungen wieder hervorkramen?«
Meine Schultern sackten nach unten. »Sie wollen meine Fragen also nicht beantworten?«
Sie sah mich mit zu Schlitzen verengten Augen an. »Ich hatte es nicht vor, aber heute Morgen hat mir der Herr gesagt, dass ich erst heimgehen kann, wenn ich mit Ihnen gesprochen habe.«
Da war sie wieder, die gleiche sonderbare Aussage, mit der sie mich begrüßt hatte. Ich konnte nur annehmen, dass sie von Gott sprach, aber erwartete sie tatsächlich, ich würde glauben, Gott ließe sie erst sterben, wenn ich sie interviewt hatte? Erneut fragte ich mich, ob sie noch bei klarem Verstand war. Vielleicht sollte ich meine Notizbücher einpacken und gehen, solange ich auf jeden Fall noch ausreichend Zeit hatte, meinen nächsten Interviewpartner aufzusuchen. Wenigstens könnte ich Mr Carlson dann einen Teil von der mir zugeteilten Arbeit für diesen Tag vorlegen.
»Ich sage Ihnen das Gleiche, was ich ihm geantwortet habe«, sprach sie weiter, ohne etwas von meinem Gedankengang zu ahnen. »Ich erzähle Ihnen von der Zeit der Sklaverei, wenn Sie das hören wollen. Sie können mich alles fragen und ich versuche mich, so gut ich kann, zu erinnern. Es ist allerdings keine schöne Geschichte. Wenn ich Ihnen alles erzählt habe, bereuen Sie vielleicht, dass Sie gekommen sind.«