London 1939: Was Krieg ist, weiß Charles ganz genau. Das ist, wenn irgendwo weit weg Soldaten mit Gewehren und Kanonen aufeinander schießen. Sie schießen sich gegenseitig in Fetzen und anschließend flickt sie seine Mutter wieder zusammen. Deshalb muss sie auch im Krankenhaus wohnen.
Krieg bedeutet, dass alle ihre Fenster mit schwarzem Papier zukleben müssen, damit die Flugzeuge einen nicht sehen können. In der Schule hat Miss Wilson ihnen Bilder von diesen Flugzeugen gezeigt.
Charles sucht jeden Tag den Himmel ab, aber bisher ist noch kein Flugzeug hierhergekommen.
Krieg bedeutet, dass man immer seine Gasmaske in einem Beutel um den Hals mit sich herumtragen muss. Große Gasmasken für große Leute, kleine für Kinder, und Babys haben Gasmasken, mit denen sie aussehen wie Tiefseetaucher. Dann muss die Kinderfrau sie tragen, weil ihre Köpfe durch die Masken so groß werden, dass sie nicht mehr in den Kinderwagen passen.
Ansonsten geht das Leben seinen gewohnten Gang. Er geht in die Schule, nachmittags spielt er, sein Vater geht auf die Arbeit und Miss Davis hält das Haus in Ordnung.
Sonntags kommt seine Mutter in der Regel für einen Besuch vorbei. Miss Davis brät dann Fleisch mit Kartoffeln im Ofen, das nennt man einen Sunday roast. Miss Davis redet komisch und ist sehr streng, aber sie kann gut kochen. Montags kommt sie nie. Dann bringt sein Vater das Essen mit, so etwas wie fish n chips oder bangers n mash.
Die Freunde von Charles haben fast alle einen Vater, der Schießen lernt. Charles Vater sagt, dass er dableibt, wo er ist, schließlich muss er bei den Londoner Elektrizitätswerken dafür sorgen, dass der Strom fließt. Er ist froh, dass sein Vater nicht kämpfen gehen muss, sonst müsste er die ganze Zeit bei Miss Davis wohnen. Und das wäre mit Sicherheit kein Zuckerschlecken.
Nicht nur die Väter gehen weg, in der Schule sind eine ganze Menge Kinder ebenfalls verschwunden. Die sind natürlich nicht kämpfen gegangen, sie sind einfach weg. »Ich werde von jetzt an bei meiner Oma in Whitby wohnen«, verkündet Harry, der neben ihm die Schulbank drückt. »Weil die Krauts London bombardieren werden.«
Das ist erst recht keine gute Nachricht. »Werden die Deutschen London wirklich bombardieren?«, fragt Charles an diesem Abend seinen Vater.
Der bekommt das zunächst nicht mit, denn er sitzt gerade neben dem Radio und lauscht dem Sprecher aufmerksam. Als er noch kleiner war, hat Charles immer gedacht, dass dieser Mann mit der Kratzstimme dort wohnt, da in diesem Holzkasten, der vorn so gewölbt ist. Jetzt ist er schon groß und weiß, dass ein Radio genauso funktioniert wie ein Telefon und dass dieser Mann irgendwo weiter weg sitzt. Wenn sein Vater Radio hört, sieht er meistens ernst und besorgt aus. Charles versucht dann immer wieder einmal, ihn zum Lachen zu bringen, aber das gelingt ihm nie, sein Vater wird dann einfach nur böse. Dieses Mal hält Charles sich lieber mit seinen Albernheiten zurück, schließlich ist das keine Sache, über die man Witze machen sollte. »Werden die Deutschen
«
»Auf keinen Fall. Und jetzt sei still, ich will das hören.«
Das Radio sagt, dass die Deutschen ein Schiff torpediert haben, das auf dem Weg von Glasgow nach Kanada gewesen ist, und dass dabei hundertzwölf Menschen ums Leben gekommen sind. »Was heißt torpediert?«
»Mit einem Torpedo beschossen.«
»Oh. Und wo ist Glasgow?«
»In Schottland. Putz dir jetzt die Zähne, es ist schon spät.«
Immer wenn die großen Leute nicht wissen, was sie mit einem anfangen sollen, sagen sie einem, dass man sich die Zähne putzen soll.
An diesem Sonntag wacht Charles mit Bauchschmerzen auf. Ihm ist auch ein bisschen schlecht.
Heute hat er keine Lust auf den leckeren roast von Miss Davis. Wenn doch bloß kein Sonntag wäre! Wenn es doch nur ein gewöhnlicher Schultag wäre!
Aber das ist es nicht. Es ist Sonntag und bald kommt seine Mutter zu Besuch.
In einer Ecke des Zimmers steht sein Koffer. Den hat Miss Davis gestern schon gepackt, wobei sie die ganze Zeit geschimpft hat: »Bei denen muss aber auch alles schon Tage vorher fertig sein, bei diesen reichen Stinkern.«
Ihm wäre es am liebsten, wenn seine Mutter auf dem Weg hierher eine Autopanne hätte. Und wenn die Züge und Straßenbahnen auch kaputt wären, sodass sie nicht kommen könnte. Vielleicht sollte er seinem Vater sagen, dass er sich nicht so wohlfühlt, und in seinem Zimmer bleiben. Das ist nicht gelogen, er hat schließlich richtige Bauchschmerzen. Ein bisschen jedenfalls.
Dass er jetzt auch wegmuss, findet er eigentlich nicht so schlimm. Das kann sogar ganz schön werden. Sein Vater hat gesagt, dass er zu einer sehr netten Frau kommt, die in einem kleinen Dorf wohnt, wo die Flugzeuge nie hinkommen werden. Und die Deutschen ebenfalls nicht. In der Umgebung gibt es Bauernhöfe mit Schafen und Kühen. Außerdem ist es ja auch nicht für lange, denn dieser Krieg wird bald vorbei sein.
Das Problem ist, dass seine Mutter noch nicht weiß, dass er weggeht. Sie wird wütend werden und dann werden sie einen furchtbaren Streit haben. Seine Bauchschmerzen werden immer schlimmer.
Von London nach Eaglesham, 1940: Der Bahnsteig ist vollgestopft mit schiebenden und drängelnden Menschen. Gepäckträger marschieren mit einer Kofferfracht nach der anderen zwischen ihnen hindurch und währenddessen bilden sich Dampfwolken neben den Rädern des Zuges.
Charles umklammert fest die Hand seines Vaters. Wenn er ihn hier verliert, findet er ihn nie wieder. Er sieht genauso aus wie alle anderen Kinder auf dem Bahnsteig: kurze, graue Hose, weißes Hemd, Schlips, Strümpfe und schwarze Schuhe. Er trägt eine Mütze auf dem Kopf und über dem Arm hängt seine graue Jacke. Um seinen Hals baumelt die Gasmaske, an seiner Brust steckt ein Kärtchen mit seinem Namen und der Adresse, zu der er hinfährt. Genau wie ein Päckchen von der Post. Sein Vater trägt das braune Lederköfferchen. Auf dem Deckel ist ein großes Stück Papier befestigt mit seinem Namen darauf und der Adresse von Tante Grace.
Charles bebt innerlich vor Aufregung. Sein Vater hat ihm alles erklärt. Tante Grace ist eine liebe, alte Dame und sie findet es ganz wunderbar, dass er sie besuchen kommt. Er wird mit dem Zug dorthin fahren, eine lange Reise, bis ganz nach Schottland. Dort wird er in einem kleinen Bauerndörfchen wohnen, wo er bestimmt eine ganze Menge von dem tun kann, was Bauern so machen. Vielleicht sogar auf einem Pferd reiten, genau wie John Wayne.
Auf dem Bahnsteig steht eine Frau, die Charles nicht kennt. An ihrem Gesicht kann man erkennen, dass es sich um eine Lehrerin handeln muss. Sein Vater sagt seinen Namen und sie schaut auf ihre Liste. »Waggon 12, Abteil 4. Vier Wagen in diese Richtung. Der Nächste!«
Am Abteil angekommen, fällt Charles auf einmal etwas ein. Sein Herz setzt vor Schreck für einen Schlag aus. »Ich habe Mr Bär vergessen!«
»Tja, daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern«, entgegnet sein Vater, während er das Köfferchen im hohen Gepäcknetz verstaut.
»Aber Mr Bär muss doch auch mit! Ich kann doch nicht ohne
«
»Benimm dich, Charles. Das sähe doch auch komisch aus, so ein großer Junge wie du mit einem Bären in den Armen.«
Das Herz sinkt Charles in die Hose. Wenn sein Vater mit so einer Stimme spricht - kühl und entschlossen -, dann ist er unerbittlich. Er reckt die Schultern und beißt die Zähne zusammen.
Um sie herum nehmen die Menschen voneinander Abschied. Kinder weinen, manche Mütter ebenfalls, während sie ihren Töchtern einen Kuss geben.
»Iss immer schön dein Essen auf und vergiss nicht, dich ordentlich zu bedanken«, erteilt eine von ihnen die letzten Anweisungen. »Es ist ja nur für ein Weilchen. Ihr seid sicher bald wieder zu Hause.«
»Vergiss nicht, dir jeden Tag eine frische Unterhose anzuziehen«, befiehlt eine zweite. »Und ein frisches Unterhemd.«
Alle reden durcheinander. »Lies jeden Abend in deiner Bibel
«, »Wasch dir die Hände
«, »Gib in der Schule dein Bestes
«
Die Stimme seines Vaters übertönt das ganze Durcheinander. »Vergiss nicht, Tante Grace diesen Umschlag zu geben. Und benimm dich. Du führst dich auf, wie es sich gehört, verstanden?«
Charles nickt nur. Er traut seiner Stimme nicht so sehr. Wenn er jetzt versucht, etwas zu sagen, muss er ganz bestimmt weinen. Mr Bär
»Auf Wiedersehen, Charles.«
Sie geben einander die Hand und dann verlässt sein Vater das Abteil.
Der Zug schnauft und pufft, ein schriller Pfiff ertönt und anschließend setzt er sich in Bewegung. Charles schiebt seinen Kopf aus dem Fenster. Überall stehen Menschen mit Taschentüchern und winken. Der Zug wird immer schneller, der Abstand größer und größer. Die wehenden Taschentücher in der Ferne sehen aus wie weiße Tauben. Oder Schmetterlinge, die im Wind flattern.
Aber sein Vater steht nicht mehr da. Er ist schon weggegangen.
Endlich fährt der Zug in den Bahnhof von Glasgow ein.
»Beeilung, Beeilung!«, ruft die Lehrerin durch den Gang. »Nehmt euer Gepäck und stellt euch in den Gang. Sobald der Zug steht, steigt ihr einer nach dem anderen aus und stellt euch auf dem Bahnsteig in einer ordentlichen Reihe auf.«
Charles bereitet es etwas Mühe, mit seiner Tasche, seiner Jacke über dem Arm und seiner Gasmaske um den Hals das kleine Treppchen zum Bahnsteig hinunterzusteigen. Er hat keine Angst - er hat nie Angst; Angst ist etwas für Schisser - die Aufregung von heute Morgen ist allerdings verschwunden. Er ist sich unsicher. Der Bahnsteig steht voller fremder Leute. Wie sieht Tante Grace eigentlich aus? Und woher soll sie wissen, wie er aussieht?
Die Lehrerin mit der Liste in der Hand liest die Namen der Kinder einen nach dem anderen vor. Bei jedem Namen treten Erwachsene nach vorn, die das Gepäck des Kindes nehmen. Manche Kinder gehen mit Bekannten mit, die meisten Kinder werden jedoch bei fremden Leuten untergebracht, bis der Krieg vorbei ist. Nirgendwo in der Menge entdeckt Charles eine alte Dame, die Tante Grace sein könnte.
Endlich sind alle Kinder untergekommen, nur Charles und ein anderes Mädchen stehen noch da. Die Lehrerin schaut sich suchend nach den Erwachsenen um, die noch übrig sind. »Mrs McGregor? Ist Mrs McGregor auch hier?«
Niemand antwortet ihr.
In diesem Augenblick hört Charles, wie sich auf dem Zementboden hastige Schritte nähern. Alle schauen sich um.
»Ist das der Bahnsteig, auf dem die evakuierten Kinder angekommen sind?«, ruft eine Frauenstimme aus der Ferne.
»Ja«, ruft die Lehrerin zurück.
»Ich komme ein Kind abholen. Charles Smith. Ich bin spät dran, glaube ich. Sorry, sorry. Mrs McGregor hat vergessen, sich die Zeit aufzuschreiben. Erst als ich zur Sicherheit noch einmal in den Brief geschaut habe, habe ich gesehen, dass sie schon heute Nachmittag angekommen sind. Und Sie wissen ja, mit dem Benzin auf Bezugsschein
«
Erst jetzt kann Charles die Frau gut sehen. Sie ist groß und schlank und redet ohne Punkt und Komma, aber sie scheint nett zu sein.
»Ah, du bist also Charles? Och, mah goodness, ich verstehe nicht, wie Mrs McGregor ihre Einwilligung geben konnte, ein Kind ins Haus zu holen.« Sie wirft der Lehrerin einen Blick zu. »Sie ist alt, sehr alt, eigentlich braucht sie selbst Hilfe. Aber das scheint ein Verwandter zu sein. Wir werden sehen, was wir tun können, um zu helfen. Zum Glück stehen die Leute in Eaglesham immer füreinander ein. Komm jetzt«, fordert die geschwätzige Frau Charles auf und nimmt ihn an der Hand.
(...) »So, hier wohnt deine Tante. Und äh
Charles
Mrs McGregor ist schon alt. Du musst ihr bei allem ein bisschen helfen. Ich sehe ja, dass du schon ein großer Junge bist.«
Zum ersten Mal fühlt Charles sich ein klein wenig erleichtert. Nicht mehr so aufgeregt wie heute Morgen, allerdings auch ein ganzes Stück besser als im Zug. »Das mache ich. Ich werde ihr helfen.«
Die Frau, die ihn abgeholt hat, nimmt seinen Koffer aus dem Auto, klopft an die Eingangstür und schiebt sie auf. »Mrs McGregor! Hier ist Charles!«, ruft sie ins Haus hinein. »Ich muss gleich wieder weg! Mrs McGregor?«
Stille.
Sie stellt den Koffer von Charles auf den Boden und sagt: »Deine Tante ist sicher kurz hinten. Ich muss zu Hause sein, bevor es ganz dunkel ist. Auf Wiedersehen, Charles.«
Sie zieht die Tür hinter sich zu und lässt ihn allein mitten im Zimmer stehen.
Vorsichtig schaut er sich um. Das Zimmer ist ziemlich klein und dunkel, mit Wänden aus Backsteinen, einem hölzernen Fußboden und einer niedrigen Zimmerdecke. Es riecht ein bisschen muffig, nach feuchtem Laub, Essen und Rauch. Ihr Haus in London riecht nach Bohnerwachs.
Jetzt wird die Hintertür knarzend geöffnet und eine gebeugte, grauhaarige Frau humpelt ins Zimmer, auf einen Stock gestützt. Sie hat ein langes, schwarzes Kleid an und ihre Haare sind in einem Zopf um den Kopf gewickelt.
Charles hat keine Ahnung, was er jetzt machen soll. Sie ist wirklich alt.
Als sie aufschaut, sehen ihre blauen Augen ziemlich lebendig aus.
»Aha, Charles! Kom s hier, laddy.« Sie lehnt ihren Stock an die Wand und breitet die Arme aus.
Nun weiß Charles überhaupt nicht mehr, was er machen soll. Zum einen sieht Tante Grace auf einmal wie eine Fledermaus aus, mit ihrem langen, schwarzen Kleid und den weiten, schwarzen Ärmeln. Noch viel gewichtiger ist allerdings, dass ihn wirklich noch nie jemand so - mit weit geöffneten Armen - begrüßt hat.
»Willkommen in meinem Haus, Charles. Ye ur most welcome.«