Seitdem ihr Freund ihr das Herz gebrochen hat, ist Kate Walker davon überzeugt, dass es die große Liebe nicht gibt. Das hält sie allerdings nicht davon ab, weiterhin Drehbücher für romantische Komödien zu schreiben. Bis auch ihre letzte Projektidee abgelehnt wird. In ihrer Heimatstadt will sie sich darüber klarwerden, was sie künftig mit ihrem Leben anfangen soll.
Kate hat nicht damit gerechnet, in Maple Valley ausgerechnet auf Colton Greene zu treffen. Der frühere Footballstar versteckt sich in ihrer Heimatstadt, um dem Presserummel rund um sein Karriereende zu entkommen. Er steht vor ähnlichen Herausforderungen wie sie selbst. Doch wie um alles in der Welt stellt man in seinem Leben die Weichen auf Anfang? Als Colton Kate bittet, seine Biografie zu schreiben, überschlagen sich die Ereignisse ...
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Kapitel 1
Wie um alles in der Welt hatte sich Regen nur einen so romantischen Ruf erwerben können?
Kate Walker schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und verbarg ihr Gesicht fast vollständig dahinter, um dem eisigen Wind zu entgehen, der an diesem Nachmittag wehte. Die übliche schwüle Spätsommerwärme, die in Chicago im August normalerweise herrschte, war wie weggeblasen – im wahrsten Sinne des Wortes. Tiefe Wolken und ein grauer Schleier bildeten die perfekte Kulisse für die filmreife Umarmung, die sich vor ihr abspielte.
Der verwegene Held, der seine Angebetete mitten im Park festhielt, sie in einem weiten Bogen herumschwang, während sie unbekümmert lachte. Den Regen schienen beide nicht einmal zu bemerken. Und dann … der magischste Moment von allen.
Der Kuss.
Kate verschränkte die Arme.
„Ich weiß – sentimentaler Mist, stimmt’s?“
Sie wandte sich den geflüsterten Worten zu.
Ach ja, der Typ mit der Kapuzenjacke und der zerrissenen Jeans, der sie vor ein paar Minuten dabei erwischt hatte, wie sie am Filmset herumgeschlichen war. Er konnte nicht älter sein als zweiundzwanzig und trotzdem hatte er gewirkt, als wäre er schon seit Jahrzehnten in der Filmbranche unterwegs, während er sie zu dem Zelt geführt hatte, in der die flüsternde Produktionscrew für Ewige Liebe ihren Job machte.
„Bitte?“
Regen prasselte auf das Plastikdach über ihr und am Rande des Parks sauste eine Kamera auf einem Gestell entlang. Hinter dem Zelt trennte ein Seil die paar Dutzend Zuschauer ab, die, mit einem Namensschild versehen, einen Einblick hinter die Kulissen von
Kates neuestem Projekt erhaschen durften.
„Das ist doch immer das Gleiche mit diesen schnellen Filmproduktionen. Ich meine diejenigen, die zwischen das Vorabendprogramm und die Nachrichten gequetscht werden. Nichts von Bedeutung, aber es kann ein Karrierestart sein, was?“ Er warf ihr ein Lächeln zu, das davon ausging, dass sie ihm zustimmte. „Ich habe Freunde auf der Filmschule, die für einen Job als Regieassistent alles tun würden. Sogar vor Mord würden sie nicht zurückschrecken.“
Regieassistent. Und er hat keine Ahnung, mit wem er hier redet.
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen oder die Dinge einfach laufen lassen sollte, bis ihn jemand aufklärte, mit wem er es zu tun hatte.
Wahrscheinlich sollte sie dem Jungen keinen Vorwurf machen. Kate ließ sich an ihren Filmsets fast nie blicken – hatte normalerweise gar keinen Grund dafür. Jetzt war sie auch nur auf Bitten ihres Agenten hier. Marcus hatte heute Morgen angerufen und darum gebeten, ihn hier zu treffen, meinte, er hätte Neuigkeiten.
Ein interessantes Wort. Neuigkeiten. So viele Informationen, die sich dahinter verbergen konnten.
Wenn sie nur die warnende Stimme in ihrem Hinterkopf ignorieren könnte. Die ihr einflüstern wollte, dass es dieses Mal vielleicht, nur vielleicht, endlich positive Neuigkeiten waren. Aber es war besser, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen.
Immerhin hatte sie in den dreizehn Monaten, seit sie ihr Manuskript von Ewige Liebe verkauft hatte, einen Stapel an Absagen kassiert, der dem Sears Tower Konkurrenz gemacht hätte. Verflixt – dem Willis Tower. Sie sollte eigentlich wissen, wie er wirklich hieß, wenn man bedachte, dass sie halbtags dort arbeitete und Tickets verkaufte, um finanziell wenigstens halbwegs über die Runden zu kommen.
Wie hatte sich innerhalb so weniger Jahre so viel ändern können? Von Serienverträgen und ihrem ersten Buchvertrag direkt hierher in den Regen, wo sie dastand und gegen alle Wahrscheinlichkeiten darauf hoffte, dass Marcus endlich die Neuigkeiten hatte, die ihre Karriere retten würden. Vielleicht konnte sie dann endlich die Hypothek für das kleine Haus in der netten Nachbarschaft bezahlen, von dem sie einmal gedacht hatte, sie könnte es sich leisten.
„Schnitt!“, befahl die Stimme des Regisseurs.
Wo ist Marcus überhaupt?
Der Regieassistent stieß sie mit dem Ellbogen an. „Hey, ich glaube, ich habe dir noch gar nicht die Chance gegeben, dich vorzustellen. Du bist …“
„Kate Walker.“ Sie zog die Hand aus dem Mantel und streckte sie ihm entgegen. „Die Autorin dieses sentimentalen Mists.“
Sein Griff um ihre Hand erschlaffte. „Ich, ähm … ich …“
Die Lachsalve hinter ihnen – natürlich hatte Marcus sich genau diesen Augenblick ausgesucht, um endlich aufzutauchen – schnitt die gestammelte Antwort des Regieassistenten ab. Das und ein stechender Blick des Regisseurs, dem ihr Geplapper hier im Zelt gar nicht gefallen hatte. Sie verabschiedete sich schnell von dem Assistenten und ging in den Regen hinaus.
Sofort waren ihre Haare durchnässt, dann trat jemand in die Pfütze neben ihr und ein Berg erhob sich an ihrer Seite.
„Na, stiehlst du dich davon?“ Marcus’ scherzende Stimme wurde von dem Prasseln des Regens begleitet, der auf den Schirm fiel, den er nun über sie hielt.
„Ich kann nicht glauben, dass du gelacht hast.“
„Ach, komm schon. Das war doch lustig.“ Marcus ergriff ihren Ellbogen und brachte sie dazu, stehen zu bleiben. Mit seinem rötlichen Haar und den eigenwilligen Sommersprossen erinnerte er sie immer an ein erwachsen gewordenes Sams. Natürlich ohne die Schweinchennase. „Er ist ein besserwisserischer Anfänger. So sind sie doch alle, wenn sie vom College kommen.“
„Er ist eingebildet.“
„Natürlich ist er das.“ Übertriebenes Mitleid schwang in Marcus’ Stimme mit.
„Er weiß doch gar nicht, wovon er redet.“
„Natürlich nicht.“
Aber er hat recht.
Da waren sie wieder, die Zweifel, die an ihr nagten und die sie niemals ganz ausblenden konnte.
Du hast dir geschworen, etwas Bedeutendes zu schreiben. Aber jetzt stehst du hier, mit dreißig Jahren …
Marcus’ Regenschirm wurde vom Wind erfasst, der um die Ecke des nächstgelegenen Blockes pfiff. „Walker, du machst dir doch nicht wirklich Gedanken darüber, was der Kerl eben zu dir gesagt hat?“
Die Anweisungen, die der Regisseur den Akteuren entgegenbellte, retteten sie vor einer Antwort. „Fangt noch mal beim Kuss an.“
Sie wandte sich Marcus zu. „Du hast gesagt, du hättest Neuigkeiten?“
„Nicht hier draußen. Es regnet und ich kann dich einfach nicht ernst nehmen, wenn du diesen Mantel trägst.“
„Was stimmt denn damit nicht?“ Sie zupfte an dem Gürtel, während sie weitergingen. Vielleicht ein bisschen übertrieben im Spätsommer – selbst an einem kalten Tag –, doch sie nutzte jede Gelegenheit, um ihren Tweed-Trenchcoat mit den übergroßen Knöpfen und dem Hochstellkragen zu tragen. Er hatte Charakter.
„Der sieht aus wie aus einem Agentenfilm der Fünfziger. Ich habe das Gefühl, ich dürfte dich eigentlich nur schwarz-weiß sehen.“
„Das ermutigt mich nur noch mehr, mein Freund. Und ein paar Regentropfen haben noch nie jemandem geschadet.“
Vor allem nicht Liebenden, die sich ewige Liebe schworen. Nicht dass sie wirklich etwas darüber wüsste. Doch der attraktive Darsteller und seine Partnerin, die gerade ihren Kuss für die Kameras wiederholten …? Jedenfalls machte ihnen das Wetter nichts aus.
Dank des wasserfesten Make-ups und extrastarkem Haarspray.
Kate blieb abrupt stehen, konnte den Blick plötzlich nicht mehr von dem inszenierten Kuss im Park abwenden. Das wunderschöne Grün des Sommers im Mittleren Westen, das durch die stimmungsvollen Wolken noch perfekter schien, die Bäume, die den Park säumten – Zedern, Ahorn- und Walnussbäume, die sich dramatisch im Wind bewegten. Sie bemerkte kaum, dass Marcus in sie hineinlief. Spürte nicht, dass der Wind an ihren Haaren zerrte. Sie hörte nur das Flüstern einer entfernten Erinnerung.
„Es ist richtig, Kate. Spürst du es denn nicht? Komm nach Chicago.“
Ein verführerisches Lächeln. Ein langer Kuss. Eine naive Entscheidung.
Der Augenblick zerbrach, als sich die Schauspieler vor ihr trennten.
Ein gebrochenes Herz.
Sie blinzelte.
„Kate?“ Marcus stupste sie mit dem Ellbogen an, wobei Wassertropfen von seinem Regenschirm auf ihn niedergingen. „Alles in Ordnung?“
„Mir ist nur kalt.“ Sie schüttelte die letzten Fetzen der Erinnerung ab. „Es ist alles Gene Kellys Schuld.“
„Wessen Schuld?“
„Er hat diese Stepptanznummer in dem vorgetäuschten Regenguss gemacht. Und deshalb denkt jeder, dass es romantisch ist. Dank Singin’ in the Rain.“
„Dir ist kalt und du bist verrückt, Kate.“
Sie zuckte mit den Schultern. Wo er gerade von verrückt sprach … im sanften Licht und unter den wachsamen Augen des Regisseurs spielten die Schauspieler immer noch. Was keinen Sinn ergab. Laut ihres Drehbuches beendete der Kuss die Szene. Beendete den ganzen Film.
Sorgen machten sich in ihr breit, als der Ruf des Regisseurs noch einmal vom Zelt aus erklang. Die Schauspieler gingen auseinander, Assistenten kamen aus allen Richtungen angelaufen, boten Regenschirme und Getränke an, das Filmset summte vor Aktivität, die Kameramänner schützten ihr Equipment und jemand rief den Requisiteuren etwas zu.
„Lass uns reingehen.“ Marcus führte sie zu dem Haus schräg gegenüber des Parks. Von außen wirkte das zweistöckige Gebäude wie jedes andere Haus in dieser Stadt. Hellblaue Wände, weiße Fensterläden, die farblich zur Veranda passten.
Doch Kate hatte sich am Set umgesehen und wusste, dass das Innere des Hauses aus halb eingerichteten Zimmern, unfertigen Treppen und Fluren bestand, die nirgendwohin führten.
Alles nur Show.
Kate wurde unruhig, als sie die regennasse Veranda erklommen und in ihr wieder die Frage aufkam, die sie sich immer stellte, wenn sie einen Augenblick zum Nachdenken hatte. Hatte sie sich eine Karriere aufgebaut, die so falsch war wie dieses Set? Genau wie das schwache Fundament des Hauses, das aus Holz und Plastik bestand – nichts Dauerhaftes oder Konkretes. Hatte sie sich nur oberflächlichen Ideen hingegeben?
Romantik. Schwärmereien. Luftschlössern.
Sie wollte ja nicht zynisch wirken, aber …
Marcus stellte seinen Regenschirm auf der Veranda ab und Kate folgte ihm durch den Türrahmen in ein Wohnzimmer, das das Titelblatt eines Einrichtungskataloges hätte zieren können. Bunte Dekokissen auf einer beigen Couch. Gerahmte Fotos auf Beistelltischchen. Ein gewebter Teppich bis zu der Stelle des Raumes, wo die Dekoration endete und die Filmlichter begannen.
Marcus bedeutete ihr, sich zu setzen, dann pellte er sich aus seinem Regenmantel und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Diese Bewegung barg eine Erinnerung.
Sie schob die Kissen zur Seite und setzte sich auf die Couch. „Wie geht es Breydan?“ Mit dieser Frage hätte sie nicht so lange warten sollen.
Marcus seufzte leise und ließ sich in dem Schaukelstuhl ihr gegenüber nieder. „Ganz gut. Nächste Woche haben wir die letzte Runde Chemo. Wir beten dafür, dass die Sache damit ein für alle Mal erledigt ist.“
Der Gedanke an den kleinen Sohn von Marcus setzte alles andere wieder in Relation. Kate fuhr mit dem Finger über die Stickereien auf dem Kissen, das neben ihr lag. Die Sorgen wegen ihrer Karriere waren nichts im Vergleich zu dem Krebs, mit dem viele Menschen zu kämpfen hatten. Wie zum Beispiel Breydan. Oder Mum.
„Wobei mir wieder einfällt – du kommst am Donnerstag doch zum Abendessen? Breydan wollte, dass ich noch mal nachfrage.“
Kate nickte und Marcus lächelte und atmete dann tief ein. Als er die Luft wieder ausstieß, hatte er umgeschaltet. Kate erkannte es sofort – zusammengepresste Lippen, zögerliche Augen. Irgendwann in den letzten fünf Jahren war aus einer rein professionellen Zusammenarbeit Freundschaft geworden. Normalerweise schätzte sie das sehr.
Doch es brachte auch eine gewisse Verlegenheit mit sich, wenn es um Geschäftsentscheidungen ging. Vor allem …
Ihre Hoffnungen schwanden, bevor Marcus auch nur ein Wort sagte.
Vor allem, wenn es sich um schlechte Neuigkeiten handelte.
„Die Fernsehgesellschaft hat Nein gesagt. Wieder einmal.“ Sie nahm ihm die schwere Aufgabe ab.
Er nickte.
„Okay.“ Sie sagte es langsam, während die harte Wahrheit langsam in ihren Verstand tropfte.
„Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Du hast einen Emmy bekommen. Ich bin genauso schockiert wie du.“
Nur dass Kate nicht wirklich schockiert war. Es war nun schon vier, fast fünf Jahre her, seit sie ihre Auszeichnung erhalten hatte. Und ihre Drehbücher waren in letzter Zeit eher gezwungen und trocken. Uninspiriert. Weshalb die Szene, die sie gerade draußen beim Dreh beobachtet hatte, auch nicht ihrem eigentlichen Skript entsprach. Und dann all diese Absagen …
Die Warnzeichen waren schon lange da gewesen, hatten sich vor ihr versammelt und ein unüberhörbares misstönendes Konzert veranstaltet. Doch sie hatte Augen und Ohren verschlossen und sich abgewendet.
Marcus beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und runzelte mitfühlend die Stirn. „Ich weiß, dass das nicht die Neuigkeiten sind, auf die du gehofft hattest. Es war ein hartes Jahr.“
Sie stellte sich den kleinen Breydan vor. Wie er im Krankenhausbett lag. Blass und schmal, doch mit dem Herzen eines Löwen, das mit allen Enttäuschungen dieser Welt fertigzuwerden schien. Nein, sie würde sich nicht unterkriegen lassen. „Ist schon okay. Es geht mir gut.“
Und das würde vielleicht auch irgendwann wahr werden. Hatte sie sich nicht schon jahrelang immer wieder gesagt, dass es sich wunderbar anfühlen würde, eines Tages etwas Bedeutendes zu schreiben? Voller Tiefe. Stark und machtvoll.
Sie wollte spüren, dass ihre Worte Gewicht und Überzeugungskraft hatten.
Eine leise Hoffnung schlich sich in ihr Herz. Was, wenn das ihre Chance war? Was, wenn diese letzte Ablehnung der Schubs gewesen war, um endlich …
Tja, was eigentlich? Sie versuchte nun schon so lange, ihren verschwommenen Traum zu erhaschen, doch er schien nie wirklich in greifbare Nähe zu kommen. Weshalb sie wahrscheinlich immer noch haltlos umhertaumelte und Geschichten schrieb, die sich irgendwie falsch anfühlten. Weil sie keine Ahnung hatte, was als Nächstes kommen sollte. Was sollte eine Frau tun, wenn ihr Herz vertrocknet und jeder kreative Funke daraus verschwunden war?
Ich brauche eine offene Tür, Gott. Nur einen Schimmer Sonnenlicht, um daran erinnert zu werden, dass er einen Plan für sie hatte, auch wenn sie selbst noch auf der Suche war.
„Das ist nur ein kleiner Rückschlag, Kate. Du schreibst ein anderes Drehbuch und es wird einschlagen wie eine Bombe.“
„Aber wenn nicht ...“
Das Summen ihres Handys unterbrach sie. Es mochte zwar unhöflich sein, aber die Verlockung, dieser unangenehmen Unterhaltung zu entgehen, übermannte sie. Sie zog es aus ihrer Tasche und musterte das Display. New York?
Sie erhob sich und flüsterte Marcus eine schnelle Entschuldigung zu. „Hallo?“
„Hi, hier ist Frederick Langston. Spreche ich mit Katherine Walker?“
Frederick Langston. Ein Name, den sie so oft in der Handschrift ihrer Mutter gelesen hatte. Ein Name, den sie selbst erst vor wenigen Wochen geschrieben hatte.
Sehr geehrter Mr Langston, ich weiß, dass dieser Brief überraschend für Sie sein muss, und ich hoffe, dass Sie es nicht seltsam finden, wenn ich mich an Sie wende, aber …
„Ja, tun Sie.“
„Ich habe Ihren Brief erhalten, Ms Walker. Wir müssen reden.“
Erwartungsvolles Gemurmel erfüllte den Raum, in dem sich Reporter und Fotografen für die Pressekonferenz versammelt hatten, die Colton Greene niemals hätte anberaumen dürfen.
Eine dumme Entscheidung.
Und da saß er nun, seine ein Meter neunzig große Statur in Anzug und Hemd gequetscht und in einen Metallstuhl gefaltet, den Pressevertretern gegenüber, die ihn nach heute wahrscheinlich einfach vergessen würden. Sein Manager auf der einen, der Trainer auf der anderen Seite.
Ex-Trainer, um genau zu sein.
„Das ist doch kein Todesurteil, Greene.“
Falls sein Manager ihn mit dieser Aussage beruhigen wollte, war er nicht sehr überzeugend. Erbost drehte er sich zu ihm um. „Du hast gut reden. Ich habe gehört, dass Cauldfield für dieses Jahr auf die Spielerliste vorgerückt ist. Du vertrittst also schon einen anderen Stammspieler.“
Bisher war Colton Ian Mullers größter Klient gewesen. Zugegeben, Colton hatte den Großteil der acht Jahre seiner Profilaufbahn in der NFL auf der Bank gesessen, war von Team zu Team gewechselt, war sich vorgekommen, als spiele er eine endlose Reise nach Jerusalem. Doch dann endlich – endlich – hatte er vor drei Spielzeiten seinen Durchbruch gehabt. Wie durch ein Wunder hatte er sein Team in die dritte Runde der Playoffs geführt. Seit zehn Jahren war ein solcher Erfolg nicht mehr erreicht worden. Dann waren sie sogar Konferenzsieger geworden.
Was hätte er nicht darum gegeben, dass damals schon alles aufgehört hätte. Colton fingerte an seinem Kragen herum, während Ian sich erhob.
Okay. Legen wir los.
Oder auch nicht, denn anstatt hinter das Podium zu treten, blickte Ian auf Colton herunter. „Wir hatten diese Unterhaltung schon tausendmal. Es gibt vielversprechende Auftritte, deinen Buchvertrag. Nach dem Jahr, das hinter dir liegt, wirst du mit deiner Autobiografie auf den Bestsellerlisten landen.“
Ian legte seine Hand auf Coltons Schulter und beugte sich vor. „Du hast dein Leben schon einmal herumgerissen. Du kannst es wieder schaffen. Und genau deshalb sind wir heute hier. Du zeigst der Sportwelt – deiner Welt –, dass du zwar nicht mehr auf dem Feld stehst, dass du aber noch lange nicht aus dem Spiel bist.“
„Wie süß, Muller. Das solltest du auf ein Motivationsposter drucken lassen.“
Ian trat abrupt einen Schritt von ihm weg und setzte sein Kameralächeln auf, konnte aber dadurch den Ärger nur schwer überspielen. Und er hatte wahrscheinlich auch jedes Recht darauf, wütend zu sein. Colton schmollte schon seit Monaten. Vielleicht sollte er sich wirklich zusammenreißen, diese Pressekonferenz als Neustart sehen und nicht als das Ende seiner Träume.
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Wie einen Pass in eine dreifache Deckung zu werfen. Man vermutete, dass es funktionierte, aber sicher sein konnte man erst, wenn man es versucht hatte.
Denk nicht an Football. Denk an Lilah. Sein einziger Hoffnungsstrahl in diesem ganzen Schlamassel. Hatte sie nicht all die Monate gesagt, dass seine Karriere der Grund dafür war, dass ihre Beziehung nicht funktionierte? Nun, nach heute würde er keine Karriere mehr haben. Damit war aber der Weg frei für den Traum, den er sich gestern Nacht ausgemalt hatte. Als er wegen der Konferenz heute kein Auge zugetan hatte.
Er steckte die Hand in die Tasche und spürte die samtene Schmuckschatulle, die ihn nun schon seit acht Monaten von seinem Nachttisch aus verspottete. Das würde jetzt ein Ende haben. Er würde hier tun, was er tun musste, und heute Abend … Da würde er mit Lilah sprechen. Alles wiedergutmachen.
„Guten Tag, alle miteinander. Danke, dass Sie so zahlreich erschienen sind.“ Ian sprach in das Mikrofon, das vor dem Podium aufgebaut war. „Wir fassen uns kurz, damit Sie danach Ihre Fragen stellen können. Colton?“
Colton erhob sich, viel zu groß für das mickrige Podium, und als er seinen Platz hinter dem Mikrofon einnahm, erhellte ein Blitzlichtgewitter den Raum. Fast hätte er die Nerven verloren.
„Hallo. Ich denke, Sie alle wissen, warum wir heute hier sind. Ich wünschte, es wäre ein angenehmerer Grund.“ Er erhaschte einen Blick auf vertraute Gesichter im Publikum. Seine Augen blieben an dem Reporter der Sports World hängen, der die ganze letzte Saison überzeugt davon gewesen war, dass Colton die Tigers zum Super Bowl führen würde. „Ich habe Ihre Kolumne gelesen, in der Sie vorausgesagt haben, dass ich noch in dieser Saison wieder fit fürs Trainingslager sein würde, Crosby. Ich wünschte, das wäre der Fall gewesen.“
Crosby erwiderte sein Nicken mit einer Mischung aus Verständnis und Resignation.
„Aber die Wahrheit ist, dass ich nicht fit bin. Und leider werde ich es auch nicht mehr, wenn man den Aussagen meiner Ärzte, den Spezialisten für Schulter- und Knieoperationen, und den Patienten im St. Lukes Krankenhaus Glauben schenken darf, die mich während der Physiotherapie haben stöhnen hören. Nicht in dieser Saison und auch in keiner anderen.“
Und da war sie, die mitleidige Stille, auf die er gewartet hatte. Es dauerte nur fünf Sekunden, bis die ersten Kameras wieder anfingen zu klicken. Lange genug, dass sich seine Muskeln wieder verspannten. Ohnehin hatte er sie in den letzten Monaten schon viel zu sehr strapaziert. Er biss die Zähne zusammen. Bring es einfach zu Ende.
„Es war eine unglaubliche Reise für mich, eine, für die ich unendlich dankbar bin. Ich danke meinem Trainer Johnson, den Coaches Peterson und Dreck, meinen Mitspielern …“ Die Liste ging noch weiter, während er sich immer fester an das winzige Podium klammerte. Seine Knöchel wurden schon ganz weiß.
„Es war ein großes Privileg, für dieses Team und diese Stadt zu spielen. Und obwohl mein Weg viel früher endet, als ich gehofft hatte, nehme ich nur gute Erinnerungen mit in die Zukunft.“
Die Zukunft. Ian hatte darauf bestanden, dass er diese Worte besonders betonen sollte.
Stattdessen waren sie leise und kaum zu hören gewesen. Ian hätte ihm wahrscheinlich am liebsten in den Hintern getreten. Aber so war Colton eben. Konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Er war jemand, der seine Gefühle zeigte.
Und genau deshalb war er auch hier gelandet.
Weil er nicht so klug gewesen war, seine Emotionen am Spielfeld-
rand zu lassen und sich allein auf das Spiel zu konzentrieren.
„Man fragt sich, was Greene sich bei diesem Tackling gedacht hat.“
„Keine gute Idee von einem Quarterback, nach so einer Unterbrechung den Helden spielen zu wollen.“
„Er war schon immer sehr impulsiv. Damals auf der Universität in Iowa konnte er sich das noch erlauben. Aber heute? Purer Leichtsinn.“
Die Kommentare, die er damals von seinem Krankenhausbett aus im Fernsehen verfolgt hatte, klangen ihm immer noch im Ohr. Die Analysten hatten das Spiel auseinandergenommen, das sein letztes werden sollte.
Positive Erinnerungen? Sicher, irgendwo gab es die. Sie waren nur schwer greifbar unter den ganzen Selbstvorwürfen, die er sich machte, weil er selbst es gewesen war, der sich die Zukunft vermasselt hatte.
Er griff unter das Podium und seine Finger schlossen sich um eine Wasserflasche. Er hatte es fast geschafft. Er öffnete den Deckel.
„Also bin ich heute hier, um … um …“ Wasser zischte und tropfte auf das Tischchen. Sag es. „Schweren Herzens ziehe ich mich aus dem aktiven Football-Geschäft zurück.“ Während er noch das letzte Wort sagte, setzte er schon die Flasche an und trank in großen Schlucken, dankbar für die Ablenkung.
Und dann erhob sich Ian, nickte Johnson, dem Trainer, zu, der ans Podium trat und etwas über Coltons Leistungen für das Team sagte, wie sehr sie ihn vermissen würden und so weiter und so fort.
Und Colton saß wieder mit schmerzender Schulter und pochendem Knie in seinem Metallstuhl.
Dann kamen die Fragen.
Verlangten seine Verletzungen nach weiteren Operationen?
Wie lange wusste er schon, dass er seine Karriere beenden musste?
Hatte er noch die Hoffnung gehabt, dass er ein Comeback schaffen konnte?
Die Augen auf die Uhr über der Tür gerichtet, beantwortete er die Fragen. Ian hatte versprochen, dass es nicht länger als eine halbe Stunde dauern würde. Nur noch fünf Minuten. Immerhin hatte niemand die eine Frage gestellt ...
„Zu dem Spiel, in dem sie sich so schwer verletzt haben ...“
Der letzte Schluck aus der nun leeren Flasche. Jetzt hatte er nichts mehr, an das er sich klammern konnte, und musste in Richtung der Fragenden schauen. Blondes Haar, ein Pferdeschwanz, grauer Anzug. Er kannte sie nicht.
„Ich denke, dieses Thema wurde von Ihnen zur Genüge erörtert. Viele Male.“ Unsicheres Lachen erklang. „Hören Sie, es war eine schlechte Entscheidung von mir. Fallon hatte den Ball. Ich habe gesehen, wie er ihn das Feld runterbringt, und meine Instinkte haben eingesetzt. Ja, vielleicht hätte ich ihn laufen lassen sollen, aber das ist nun mal Football. Es geht darum, das andere Team nicht punkten zu lassen.“
Einige Reporter grinsten und zum ersten Mal seit diesem brutalen Spiel fühlte er sich fast … heldenhaft. Oder zumindest gerechtfertigt.
Doch das Gefühl erstarb sofort wieder, als er sich in das Spiel zurückversetzt fühlte. Er war derjenige gewesen, der den Fehlpass geworfen hatte. Es war seine Schuld, dass Fallon den Ball gehabt hatte. Und da war die Wut mit ihm durchgegangen. Er war dem Verteidiger nachgehetzt und schließlich unter einem Haufen Football-Spielern gelandet.
Übermütig, dumm und – gefährlich. Denn im nächsten Augenblick durchfuhr seine Schulter ein stechender Schmerz.
Die Reporterin hob eine Augenbraue. „Ja, also, Sie kennen wahrscheinlich die Schlagzeilen, dass Ihre Aktionen auf dem Spielfeld vermutlich mit den Turbulenzen in ihrem Privatleben zu tun haben.“
Das war mal eine interessante Wortwahl. Von welcher Zeitung kam diese Reporterin überhaupt? „Haben Sie eine Frage gestellt?“
Gelächter wurde laut, doch die Reporterin hielt seinem Blick stand. „Ich denke, wenn es eine gab, antworten Sie nicht.“
Die Herausforderung in ihrer Stimme war unverkennbar – genau wie der warnende Blick, den Ian ihm zuwarf. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen. Bleib beim Thema. Und was auch immer passiert, erwähne nicht …
„Ich denke, Sie spielen auf Lilah Moore an. Wir hatten einige Probleme vor dem Spiel.“ Oh Mann. Ian schoss Blitze in seine Richtung ab. Nach diesem Tag würde Colton sich wahrscheinlich einen neuen Manager suchen können.
Doch was hatte er schon zu verlieren? Lilah – früher Schauspielerin, heute politische Aktivistin – war aus seinem Leben verschwunden, hatte ihn verlassen, bevor er ihr an diesem Januartag einen Antrag hatte machen können. So schrecklich das auch war, er konnte ihr dafür keinen Vorwurf machen. Wenn es eine Chance gab, sie zurückzugewinnen, dann jetzt, wo seine Karriere vorbei war.
Und da kam ihm die Idee. Verrückt, impulsiv … die zerschlagenen Stücke seiner einstigen Hoffnung setzten sich wieder zu einem Ganzen zusammen.
Die Schachtel mit dem Ring in seiner Tasche fühlte sich plötzlich bedeutungsschwer an. Vielleicht gab es ja einen Grund dafür, warum er sie heute Morgen eingesteckt hatte. Eine Art göttliche Vorsehung. Obwohl er in letzter Zeit nicht mehr viel mit Gott gesprochen hatte, schließlich waren die Gebete für seine Heilung alle ungehört verklungen. Aber was, wenn Gott ihm in diesem Augenblick eine neue Tür öffnete?
Was, wenn er genau jetzt Lilahs Zuneigung zurückgewinnen könnte? Vor all den Kameras?
Wenn er nur die richtigen Worte finden würde.
„Also glauben Sie, dass Ihr Auftritt durch Ihre öffentliche Trennung …“
„Ich glaube, dass mein Auftritt durch meinen schlechten Pass verursacht wurde.“ Er vermied es, Ian anzusehen. Stattdessen blickte er der neugierigen Reporterin fest in die Augen, bei der er sich bedanken würde, wenn das hier alles gut ging. „Und was Lilah betrifft, sie ist eine … eine wunderbare Frau.“
Das war sie wirklich. Zusätzlich zu ihrem politischen Engagement leitete sie auch Coltons Stiftung – nicht, dass sie damit schon irgendetwas Nennenswertes erreicht hätten. Er hatte sie nur gegründet, weil das Athleten nun einmal taten. Doch wenn daraus etwas werden konnte, dann, weil Lilah sie leitete.
„Selbst nach all diesen Monaten …“ Liebe ich sie immer noch. Die Worte blieben ihm im Halse stecken und eine gewisse Unsicherheit ergriff ihn. Sag es, Colt.
Warum brachte er die Worte nicht heraus?
Und dann war wieder die Reporterin an der Reihe. „Nun, haben Sie seit ihrer Verlobung mit ihr gesprochen?“
Eine unheimliche Stille legte sich über den Raum.
„Die Verlobung mit Ray Bannem. Dem Wahlkampfleiter des Gouverneurs. Haben Sie mit ihr gesprochen, seit die Nachricht sich gestern Abend verbreitet hat?“
Eine Kamera blitzte.
„Habe … ich nicht.“
Lilah? Verlobt?
Mit jemand anderem?
War seine Welt nicht schon zerrüttet genug?
Gratulier ihr. Sag, dass du ihr alles Gute wünschst. Lächle. Lass sie nicht sehen, dass …
Doch er konnte nur noch der leeren Wasserflasche hinterherschauen, die ihm aus den Händen glitt. Das war alles, was er zustande brachte.
„Ich denke, wir sind hier fertig.“
Melissa Tagg
Melissa Tagg war früher Journalistin. Heute arbeitet sie für eine Non-Profit-Organisation, die sich für Obdachlose einsetzt, und lebt in Iowa. Ihre humorvollen Romane mit Happy-End-Garantie schreibt sie vor allem in den frühen Morgenstunden und spätabends.
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