Gerard Warner war eine Legende. Mit seinen Romanen begeisterte er ein Millionenpublikum. Doch für Michael war er viel mehr als das: Er war sein Großvater und sein großes Vorbild. Nicht nur als Autor, sondern auch als treusorgender Ehemann und liebevoller Familienvater. Als Michael nach Gerards Tod dessen Anwesen erbt, zieht er mit seiner frischgebackenen Ehefrau dorthin, um selbst seinen ersten Roman zu schreiben. Doch dann stolpert er zu seiner Überraschung über ein Manuskript, das sein Großvater nie veröffentlicht hat. Der fesselnde Spionagethriller über die Zeit des Zweiten Weltkriegs zieht ihn schnell in seinen Bann, doch irgendwie ist dieses Buch anders als alles, was sein Großvater zuvor geschrieben hat. Im Grunde genommen ist es eher eine Liebesgeschichte. Michael gräbt tiefer und stößt auf ein Geheimnis, das die Macht hat, nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft für immer zu verändern.
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Kapitel 1
Ich erinnere mich … eigentlich hätte ich traurig sein sollen.
Alle waren traurig. Es ist ja auch traurig, wenn eine Legende aus dem Leben scheidet. Unsere Familie war zur Testamentseröffnung nach Charleston gekommen.
Gerard Warners Romane hatten sich millionenfach verkauft und er hatte sogar den Pulitzerpreis verliehen bekommen. Mehrere seiner Bücher waren verfilmt worden. Ich hatte Interviews mit einigen der Schauspieler gelesen, die in diesen Filmen mitgewirkt hatten.
Man hätte den Eindruck gewinnen können, sie wären mit meinem Großvater befreundet gewesen.
Aber das entsprach nicht der Wahrheit.
Sie kannten ihn nicht. Keiner von ihnen kannte ihn. Er hätte nie zugelassen, dass sie ihn kennenlernten.
Für seine Fans war Gerard Warner zeitlebens eine rätselhafte, schwer fassbare Gestalt geblieben. Nicht einmal sein Foto durfte auf das Cover seiner Bücher. Sobald ein neuer Roman erschien, hagelte es Anfragen von Fernsehproduzenten und Talkshowmoderatoren – zum wiederholten Male. Jeder wollte als Erster ein Interview mit ihm machen. Aber er gestattete nur schriftliche Interviews. Fotos waren nicht erlaubt. Und Fragen zu seinem Privatleben beantwortete er grundsätzlich nicht.
Trotzdem wurden seine Bücher den Buchhändlern aus den Händen gerissen, so beliebt waren sie.
Ich nannte ihn Gramps.
„Du lächelst, Michael.“
Ich sah meine wunderschöne Frau an, die meine Hand hielt. Ihre blonden Haare glänzten in der Sonne wie Gold. „Ich kann nicht anders, Jenn. Ich liebe diesen Ort.“ Ein Spaziergang auf der Broad Street in Charleston im Oktober ist ein Erlebnis. Doch eigentlich ist es egal, auf welcher Straße in der Altstadt man unterwegs ist. Sie sind alle wunderschön. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich das Kopfsteinpflaster der Chalmers sehe, die Höfe in der Queens, die Eisentore und großartigen Treppenaufgänge in der Church Street oder die urigen Stadthäuser auf der Tradd Street.
Mich faszinieren auch die prächtigen Plantagen am Stadtrand, die den Bürgerkrieg überstanden haben. Mein Großvater hat mir all diese Orte gezeigt. Die sehenswerten Gärten und Teiche der Magnolia Plantage. Die atemberaubende Eichenallee, die zu Boone Hall führt. Die ausladenden grünen Rasenflächen und Gärten von Middleton Place, die sich bis zum Ufer des Ashley River erstrecken.
Charleston war die Lieblingsstadt meines Großvaters und während der letzten Jahrzehnte seines Lebens seine Heimatstadt. Einige seiner besten Werke waren hier entstanden. Für mich barg Charleston eine Fülle an Erinnerungen.
Erinnerungen an die Zeit mit ihm.
„Die anderen aus deiner Familie werden bestimmt nicht lächeln“, meinte Jenn. „Deine Schwester Marilyn schon gar nicht. Ach übrigens, als du vorhin unter der Dusche gestanden hast, hat sie angerufen. Ähm, sag mal, könntest du vielleicht ein bisschen langsamer gehen?“
„Entschuldige.“ Das passierte mir immer wieder. Wenn ich aufgeregt oder in Gedanken war, ging ich automatisch schneller. Jenn beschwerte sich dann und sagte, ich solle nicht vergessen, dass sie beinahe doppelt so viele Schritte machen müsse wie ich.
„Sie wollte keine Nachricht hinterlassen“, fuhr Jenn fort. „Aber sie wirkte irgendwie ziemlich angespannt. Glaubst du, das hängt mit der Testamentseröffnung zusammen?“
„Vielleicht, aber es geht ihr nicht um das Geld.“ Wir blieben an der Ecke Church und Broad Street stehen, um eine Kutsche passieren zu lassen, in der begeisterte Touristen saßen. Der Stadtführer bog in die Broad Street ein und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Gruppe auf den Turm von St. Michael, der vor ihnen lag. Ich blickte ebenfalls hoch. Es war wirklich ein wunderschönes Bauwerk. „Wie du weißt, hat mein Großvater vor seinem Tod mit jedem von uns persönlich gesprochen.“ Wir überquerten die Straße. „Er wollte nicht, dass wir uns in der Familie darüber streiten, wer was bekommt. Mein Vater und Tante Fran erben zusammen die Hälfte seines Vermögens. Die andere Hälfte wird zu gleichen Teilen unter uns vier Enkelkindern aufgeteilt.“
„Ja, ich weiß, das hast du mir erzählt. Aber worüber macht sie sich dann Gedanken?“
„Es geht um die Familiengeschichte. Irgendwie ist sie besessen davon.“
„Hast du mir nicht erzählt, sie hätte das aufgegeben?“, fragte Jenn.
„Nein, ich habe gesagt, sie sollte das aufgeben.“ Frustriert seufzte ich auf. „Sie verbringt lächerlich viel Zeit damit, irgendein Geheimnis enthüllen zu wollen, das mit meinem Großvater zu tun hat. Ich rede ihr seit Jahren gut zu, dass sie das Thema endlich ruhen lassen soll. Wann immer sie Gramps darauf angesprochen hat, wurde er nervös. Das war schon auffällig. Aber sie hat einfach keine Ruhe gegeben.“ Der Duft von frischem Knoblauchbrot stieg mir in die Nase, als wir an der offenen Tür eines italienischen Restaurants vorbeikamen. „Riechst du das? Nach der Testamentseröffnung könnten wir hier eine Kleinigkeit zu Mittag essen.“
„Das wäre toll. Aber wonach sucht Marilyn? Was ist das große Geheimnis?“
Jenn und ich waren erst seit einem Jahr verheiratet und wohnten in der Nähe von Orlando. Die Fahrt hierher dauerte sieben Stunden. Meinem Großvater war sie nur ein paarmal begegnet. „Sie denkt, er hätte etwas verheimlicht.“
„Was denn?“
„Keine Ahnung. Sie behauptet das.“
„Sicher, er hat die Öffentlichkeit gemieden“, meinte Jenn. „Aber das ist bei berühmten Persönlichkeiten doch nicht ungewöhnlich.“
„Marilyn ist davon überzeugt, dass es einen tieferen Grund dafür gibt.“
„Auf mich machte er einen sehr netten Eindruck“, sagte sie. „Er hatte so freundliche Augen.“
„Gramps war ein ungewöhnlicher Mann. Nicht nur wegen seiner Bücher, sondern es war auch einfach ein Erlebnis, in seiner Nähe zu sein, ganz gewöhnliche Dinge mit ihm zu tun. Und deswegen ärgere ich mich auch so über Marilyns Recherchen.“
„Wie kommt sie denn darauf, dass es ein Geheimnis gibt?“
„Sie will schon seit einer Weile einen Familienstammbaum erstellen, weil einige ihrer Freundinnen das gemacht haben. Sie haben nach alten Fotoalben und Briefen gesucht, im Internet recherchiert und sich einmal im Monat über die Ergebnisse ihrer Recherchen ausgetauscht. Alle anderen haben Unmengen an Material gefunden, aber unser Familienstammbaum scheint mit meinem Großvater zu Ende zu sein.“
„Tatsächlich?“
„Jetzt fang du nicht auch noch an.“
„Das tue ich nicht, aber du musst doch zugeben, dass das irgendwie seltsam ist.“
„Ach komm schon, Jenn.“
„Was denn? Ich will damit doch gar nichts andeuten. Aber es ist tatsächlich ungewöhnlich, dass euer Stammbaum nicht weiter zurückreicht. Die meisten Familien wissen etwas mehr über ihre Vorfahren.“
„Können wir das Thema fallen lassen?“ Mein Blick wanderte ziellos zur anderen Straßenseite.
„Du bist verärgert.“
„Das stimmt nicht.“ Aber es stimmte doch.
Unvermittelt blieb Jenn stehen und zerrte an meinem Ärmel. Sie zog mich ein paar Schritte zurück zu dem großen Schaufenster einer Gemäldegalerie.
„Oh Michael, sieh dir nur dieses Bild an!“
Wie gebannt standen wir vor dem Schaufenster. Das Bild faszinierte uns. Eine Sumpflandschaft bei Sonnenaufgang. Das Gemälde war so groß, dass es wunderbar über einen Kamin gepasst hätte. Palmwedel wiegten sich in einer sanften Brise. Eine große Eiche breitete ihre Äste über das Wasser. Im Vordergrund stand ein überlebensgroßer Blaureiher, der stolz den Kopf reckte und seinen stechenden und durchdringenden Blick über die Landschaft schweifen ließ. Das Gemälde war so bunt und detailgetreu – es hätte von Audubon stammen können. Blaureiher waren die Lieblingsvögel meiner Großmutter gewesen, das wusste ich noch. Ich schaute nach dem Preis. Achtzehnhundert Dollar.
„Vielleicht gibt es einen kleineren Druck davon“, seufzte Jenn, während sie mit ihren großen braunen Augen zu mir aufschaute. Sie wusste genau, dass ich diesem Blick nicht widerstehen konnte. „Was denkst du eigentlich, wie viel wir bekommen werden?“, fragte sie.
Ich hatte ihr bisher weder verraten, wie hoch das Vermögen meines Großvaters war, noch dass ich damit rechnete, dass sich unser Leben in ein oder zwei Stunden dramatisch verändern würde. „Wir werden sehen“, erwiderte ich vage und zog sie vom Schaufenster fort. „Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir auf dem Weg zurück zum Hotel vielleicht hier vorbeigehen werden.“
Während Jenn vor Freude leise aufquietschte und begeistert meine Hand drückte, setzten wir unseren Weg auf der Broad Street fort.
Zu diesem Zeitpunkt war ich mir bereits ziemlich sicher, dass mein Erbe mich in die Lage versetzen würde, meinen Job bei der Bank aufzugeben und der anderen Leidenschaft zu folgen, die ich außer meiner Liebe zu Charleston mit meinem Großvater teilte.
Ich wollte auch Schriftsteller werden.
Erst jetzt kommt mir der Gedanke, die Worte „genau wie er“ anzufügen, aber das wäre Unsinn. Ich war immer der Überzeugung gewesen, dass ich niemals so würde schreiben können wie er. Mein Geschreibsel würde garantiert weit hinter seinen Werken zurückbleiben. Es wären Kinderzeichnungen, die man an den Kühlschrank heftet, während er große Gemälde geschaffen hatte. Aber Gramps hatte mir diesbezüglich immer widersprochen und mein Selbstbewusstsein gestärkt. Einmal hatte er zu mir gesagt: „Du hast es im Blut, Junge. Das spüre ich. Das ist ein Talent, das Gott dir geschenkt hat. Darum lass dich nicht entmutigen, weil du so sein willst wie ich. Tu das, was du tun kannst. Suche die Straße, die du gehen willst, und dann sieh, wohin sie dich führt.“
Als wir die Meeting Street erreichten, blieben wir stehen. Ich drehte mich noch einmal um und genoss den Ausblick auf die gesamte Broad Street in Richtung Osten bis zur Alten Börse. „Sieh dir das nur an, Jenn. Ist dir klar, dass die Leute auch schon zur Zeit George Washingtons in diesen Geschäften eingekauft haben? Wa- shington höchstpersönlich war bei einem Ball in dem Gebäude dort drüben am Ende der Straße zu Gast.“ Ich drehte sie nach rechts und deutete auf die Kirche St. Michael. „Im Frühling des Jahres 1791 besuchte er einen Gottesdienst in dieser Kirche.“
„Das ist wirklich beeindruckend.“ Jenn drehte sich um und blickte in die andere Richtung. „Wie weit ist es denn noch bis zu dieser Kanzlei?“
„Noch zwei Straßenzüge. Die Anwälte haben ihre Büros in einem wunderschönen dreistöckigen Haus aus dem Jahre 1788.“
„Noch zwei Straßenzüge? Wir hätten mit dem Auto fahren sollen, Michael.“
„Aber Jenn, es ist doch so ein wunderschöner Tag.“
„Und ich trage Schuhe mit hohen Absätzen.“
Kapitel 2
„Mehr ist da nicht?“
Die Bemerkung meiner Schwester Marilyn stand in einem deutlichen Kontrast zu der fröhlichen, beinahe euphorischen Stimmung, die ansonsten im Raum herrschte. Alle erwachsenen Mitglieder unserer Großfamilie saßen in dem luxuriös ausgestatteten Konferenzzimmer der Kanzlei Bradley und Dunn. Vermutlich hatte ich Marilyns Bemerkung als Einziger mitbekommen, und das auch nur, weil ich befürchtet hatte, dass sie womöglich eine Szene machen würde. Außer Marilyn waren wir alle ziemlich aus dem Häuschen über die Höhe des Vermögens und die Großzügigkeit, mit der unser Großvater uns bedacht hatte.
Ich konnte es nicht fassen. Jeder von uns war auf einen Schlag zum Millionär geworden.
Mein Blick wanderte zu Jenn. Auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck, den ich noch nicht kannte. Fassungslosigkeit traf es nicht einmal annähernd.
Marilyn war offensichtlich verärgert, doch ich war zu Tränen gerührt. Nicht so sehr wegen des Geldes, sondern von der Großzügigkeit meines Großvaters und der Zuneigung und Fürsorge, die in den Worten, die Alfred Dunn, der Seniorpartner der Kanzlei, gerade verlesen hatte, zum Ausdruck kamen. Sie waren nicht in Juristendeutsch verfasst, sondern mein Großvater hatte diese Worte eigenhändig zu Papier gebracht. Beinahe hatte ich seine tiefe, sanfte Stimme gehört, als säße er in seinem Lieblingssessel und läse uns ein Kapitel aus seinem neusten Buch vor.
„Entschuldigen Sie, Mr Dunn“, fuhr Marilyn fort, „aber mein Großvater hat doch bestimmt noch mehr geschrieben.“
Ich sah mich im Raum um. Alle Anwesenden lehnten sich auf ihren burgunderfarbenen Lederstühlen zurück und versuchten zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Nur Marilyn beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Mahagonitisch.
„Wie bitte?“, fragte der ältere Dunn und wandte sich ihr zu. In einer so großen Kanzlei war die Tatsache, dass er das Testament persönlich verlas, ein weiterer Hinweis auf die unglaubliche Höhe des Erbes.
„Mein Großvater muss Ihnen noch etwas für uns anvertraut haben. Einen Brief oder ein Video. Das kann nicht alles sein.“
„Marilyn … bitte“, mahnte mein Vater.
„Entschuldige bitte, Dad. Aber Gramps hat es mir versprochen.“
„Was redest du da, Marilyn? Was hat er dir versprochen?“, meldete sich nun mein Cousin Vincent zu Wort.
Seufzend trank ich einen Schluck von dem Latte Macchiato, der uns angeboten worden war, als wir in der Kanzlei eintrafen.
„Nicht hier, Marilyn. Nicht jetzt“, sagte mein Vater.
„Wann denn dann, Dad? Wann, wenn nicht jetzt? Wann kommen wir noch einmal so zusammen? Zu Thanksgiving? Wäre das ein besserer Zeitpunkt?“
„Mrs Jensen“, ergriff Mr Dunn das Wort. So hieß Marilyn seit ihrer Hochzeit. „Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen. Ich habe das Testament persönlich mit Ihrem Großvater durchgesprochen. Dies ist genau das, was er zu sagen hatte, und genau so wollte er es haben. Außer dem Testament gibt es nichts mehr. Sind Sie nicht zufrieden mit dem Betrag, den er Ihnen hinterlassen hat? Ich hatte den Eindruck, dass er im Vorfeld mit jedem von Ihnen gesprochen hätte, um jegliche … Unannehmlichkeiten in diesem Augenblick zu vermeiden.“
„Nein, nein, es geht nicht um die Höhe des Erbes. Das ist mehr Geld, als ich mir je hätte vorstellen können.“
„Worum geht es denn dann?“, fragte Vincent, der seine Verärgerung kaum noch verbergen konnte. „Auf mich wirkst du nicht sonderlich dankbar.“
Damit sprach er das aus, was ihren Gesichtsausdrücken nach alle im Raum empfanden.
„Es geht um den Familienstammbaum“, sagte ich und trank einen weiteren Schluck von meinem Latte.
„Welchen Familienstammbaum?“ Offensichtlich hatte Vincent noch nichts von der Obsession meiner Schwester mitbekommen.
„Marilyn, könnten wir das Thema jetzt bitte ruhen lassen?“, fragte meine Mutter. „Wen interessiert das denn jetzt noch?“
„Mich, Mom. Mich interessiert das sehr. Gramps hat mir versprochen, nach seinem Tod alle Geheimnisse aufzuklären.“
„Geheimnisse“, wiederholte ich. „Das hat er bestimmt nicht so gesagt.“
„Ich weiß nicht mehr genau, welchen Ausdruck er verwendet hat“, räumte meine Schwester ein. „Aber genau das hat er gemeint. Beim Picknick am Labor Day sagte er, ich könne aufhören, ihm all diese Fragen zu stellen, weil alles, was ich wissen wolle, nach seinem Tod ans Licht kommen würde. Ich fragte: ‚Versprichst du es, Gramps?‘, und er nickte.“
„Vermutlich wollte er nur, dass du ihn in Ruhe lässt“, merkte ich an.
„Nein, bestimmt nicht. Das hätte Gramps nicht getan. Er hätte mir nie irgendetwas versprochen, nur damit ich den Mund halte.“
Sie hatte recht, das hätte er nicht getan.
Marilyn lehnte sich mit Tränen in den Augen zurück.
„Das hört sich ja fast so an, als hättest du auf Gramps’ Tod gewartet, nur damit du an irgendwelche Informationen kommst“, sagte Vincent.
„So ist es ganz und gar nicht“, widersprach sie.
„Für mich klingt das aber auch so“, gab ich meinem Cousin recht.
Marilyn legte die Hände an ihr Gesicht und massierte ihre Schläfen.
„Jetzt kommt schon, Leute“, sagte Tante Fran. „Ihr wisst, dass das nicht stimmt.“
„Nun gut“, erklärte der Rechtsanwalt mit fester Stimme, „das hört sich so an, als hätten Sie im Familienkreis einiges zu besprechen. Dazu haben Sie später noch Gelegenheit.“ Er drehte seinen Stuhl so, dass er uns alle anschauen konnte. „Vielleicht beim Abendessen. Ich habe ein Buffet zusammenstellen lassen, das der Caterer in Mr Warners Haus in der Legare Street liefern wird. Auf einen Punkt möchte ich gerne noch einmal etwas genauer eingehen: Wie ich bereits unmittelbar nach der Verlesung des Testaments bemerkte, sind Mr Warners Vermögenswerte mit dem heutigen Tag nicht abschließend verteilt, da seine Romane nach wie vor lieferbar sind und regelmäßig nachgedruckt werden. Selbstverständlich werden die Honorar- und Lizenzzahlungen an Sie weitergegeben. Sein Verleger hat uns mitgeteilt, dass wir nach seinem Tod mit einem gesteigerten Interesse an seinen Werken rechnen müssen. Das ist nicht ungewöhnlich nach dem Ableben eines Schriftstellers, der eine solche Popularität besaß wie Mr Warner. Vor seinem Tod hat unsere Kanzlei mit ihm eine angemessene Vereinbarung getroffen bezüglich der Weitergabe dieser künftigen Einnahmen. Sie werden an Sie weiterüberwiesen, sobald sie unseren Geschäftskonten gutgeschrieben werden. Es war Mr Warners Wunsch, diese Zahlungen von jetzt an gleichmäßig unter Ihnen aufzuteilen, selbstverständlich nach Abzug unserer Bearbeitungsgebühr.“
Noch mehr Geld. Es war einfach unglaublich. Jenn drückte meine Hand so fest, dass ich meine Finger nicht mehr spürte.
Bevor er sich von uns verabschiedete, bat uns der Anwalt, vor dem Verlassen der Kanzlei bei seiner Sekretärin vorbeizuschauen und ihr entweder unsere Bankverbindung mitzuteilen oder eine Adresse, an die sämtliche Schecks geschickt werden sollten.
Ich blickte mich im Raum um. Alle schenkten Mr Dunn ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Bis auf Marilyn. Sie starrte gedankenverloren einen künstlichen Ficus in der Ecke an.
Was war nur los mit ihr?
Dan Walsh
Dan Walsh ist Pastor und Mitglied der American Christian Fiction Writers-Organisation. Mit seiner Frau lebt der Vater zweier erwachsener Kinder in Daytona Beach/Florida.
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