Washington 1897: Anna O'Brien ist Bibliothekarin in der berühmten Library of Congress und führt ein eher vorhersehbares Leben. Doch dann stolpert sie über eine Karte, die auf Fehler in einem alten Bericht hinweist. Vor Jahren soll ein Schiff angeblich während eines Wirbelsturms gesunken sein, doch das neue Material stellt das eindeutig in Frage. Anna beantragt die Korrektur des Berichts – und plötzlich werden ihr an allen Ecken und Enden Steine in den Weg gelegt. Sogar mit Entlassung droht man ihr.
In ihrer Verzweiflung wendet Anna sich an den Kongressabgeordneten Luke Callahan und bittet ihn um Hilfe. Denn sie kann den alten Fall nicht einfach ruhen lassen: Ihr Vater kam bei diesem Schiffsunglück ums Leben. Doch ist die Wahrheit es wert, alle ihre Träume für die Zukunft aufs Spiel zu setzen ... und die von Luke gleich mit?
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Kapitel 1
Washington, D.C.
Oktober 1897
„Hört endlich auf, euch schmutzige Bilder anzusehen. Schließlich sind wir hier in einer Bibliothek!“ Anna hätte nie gedacht, dass sie diesen Satz jemals würde sagen müssen, noch dazu mit ernster Miene. Aber die Jungen waren kurz davor, in der Library of Congress Hausverbot zu bekommen, es sei denn, sie ging dazwischen.
„Aber das sind doch medizinische Abbildungen“, gab Jack Wilkerson vom Lesetisch zurück. „Wir bilden uns nur weiter, Miss O’Brien.“
Gab es etwas Frustrierenderes als fünfzehnjährige Lausbuben? Die Regierung beschäftigte Hunderte von Waisenkindern als Dienstboten im Kapitol, wo sie Besorgungen erledigten und den Kongressabgeordneten zu Diensten waren, ansonsten aber leider kaum beaufsichtigt wurden. Eine Gruppe von ihnen war in der Bibliothek zu einer regelrechten Plage geworden und nun hatte Anna sie dabei erwischt, wie sie Anatomiebücher nach Abbildungen von nackten Körpern durchforsteten.
Anna spürte das instinktive Verlangen, diese elternlosen Kinder zu beschützen.
Sie war schließlich selbst Waise und eine Bibliothek war ein wunderbarer Zufluchtsort vor der grausamen Welt. Anna versammelte die Jungen um den einzigen Arbeitstisch im Kartenraum, der mit Atlanten, Kartenständern und Globen gefüllt war.
„Ihr habt euch angehört wie ein Rudel lachender Hyänen“, schimpfte sie. „Seid froh, dass ich euch Sack und Asche erspare. Eine Entschuldigung beim Bibliotheksdirektor wird genügen.“
„Wofür sind denn Sack und Asche?“, wollte Jack wissen.
„Das ist eine Metapher. Erwachsene Menschen benutzen Metaphern, wenn sie Rabauken wie euch nicht den Hintern versohlen dürfen.“
Einige der Jungen feixten. „Sie sind witzig, Miss O’Brien.“
„Und trotzdem meine ich es ernst.“ Anna hoffte, dass sie nicht zu belehrend klang, aber schließlich war die Arbeit hier in der Library of Congress ihr größtes Glück. Auch nach sechs Jahren blieb sie noch manchmal zwischen den Regalen stehen und staunte über die unermesslichen Büchertürme, die links und rechts von ihr aufragten. Für Anna hatte dieser Ort etwas Magisches und Überwältigendes. Die Bücher beeindruckten und inspirierten sie. Sie enthielten das Wissen ganzer Zeitalter, einige hatten sogar die Reiche überlebt, in denen sie geschrieben worden waren. Die Bücher zu pflegen und anderen dabei zu helfen, die Geheimnisse in ihnen zu entschlüsseln, das war Annas Berufung.
Sie würde die gute alte Bibliothek vermissen. Nächsten Monat stand der Umzug in das große neue Gebäude an. Seit 1810 befand sich die Library of Congress im Kapitol und sollte einst einhunderttausend Büchern Platz bieten. Mittlerweile war der Bestand auf fast eine Million Exemplare angewachsen und der Platz reichte hinten und vorne nicht mehr.
„In der neuen Bibliothek werden noch viel schärfere Regeln gelten“, warnte Anna die Jungen. „Die Lampenhalter sind vergoldet. Die Fußböden sind mit Mosaiken und Edelmetallen ausgelegt. In den Fluren Fangen zu spielen oder die Geländer hinunterzurutschen ist dort verboten. Das ist euch hoffentlich klar?“
Jack grinste und gab einem alten Globus einen mächtigen Schubs. Der antike Erdball quietschte und eierte. Anna sprang herbei, um das gefährliche Kreiseln zu stoppen.
„Jack, was ist nur in dich gefahren?“
Eigentlich sollte sie es aufgeben und dem Jungen endgültig Hausverbot erteilen. Seine Krawatte hing schief, er war am Morgen mit schlammigen Schuhen in die Bibliothek gekommen und sein Grinsen zeigte keine Spur von Reue. Aber diese schiefe Krawatte ... sie ließ Anna nicht kalt. Wie man einen Krawattenknoten band, das gehörte zu der Sorte von Dingen, die ihm ein Vater beigebracht hätte.
Anna seufzte. „Steh auf. Ich werde dir jetzt zeigen, wie man einen ordentlichen Windsor-Knoten macht.“
Sie löste ihren eigenen Binder und zog ihn glatt, um die Prozedur zu demonstrieren. Anna versuchte, mit ihrer gestärkten weißen Bluse und dem dunklen Rock genauso akkurat auszusehen wie all die Männer, die im Kapitol arbeiteten.
Jack tat, als wäre es ihm egal, aber trotzdem verfolgte er jede ihrer Bewegungen genau. Die anderen Jungen reckten die Hälse. Gut möglich, dass das heute ihre wichtigste Lektion war.
Als ein Mann in Marineuniform eintrat, ertönte eine Glocke über der Tür. Seine stocksteife Haltung und autoritäre Ausstrahlung ließen den Kartenraum kleiner und gleichzeitig voller erscheinen.
„Miss Anna O’Brien?“, fragte der Offizier.
Annas Herzschlag beschleunigte sich. Sie ließ ihren halb geknoteten Binder los. Das konnte nur eins bedeuten. „Ja, Sir?“
Der Offizier reichte ihr einen Umschlag. Das Siegel aus Wachs gehörte der Navy.
„Sie werden unten im Raum für Marineangelegenheiten erwartet. Jetzt sofort.“ Er nickte kurz und verließ den Raum wieder. Anna und die Jungs blieben erstaunt und sprachlos zurück.
„So eine Uniform will ich auch“, sagte einer schließlich.
„Habt ihr seine Schuhe gesehen? Die haben geglänzt wie ein Spiegel!“
Die Jungen schwatzten wild durcheinander und Anna kämpfte mit ihren Gefühlen. Das hatte garantiert mit der Nachricht zu tun, die sie vergangene Woche an die Navy geschickt hatte. Es gab keinen anderen Grund, warum sie sonst auf sie aufmerksam geworden sein sollten.
„Was steht denn drin?“, fragte Jack.
Anna brach das Siegel und überflog die Zeilen. Sie musste lächeln. Genau, wie sie vermutet hatte.
„Ich habe in einem alten Bericht einen Fehler gefunden“, sagte sie leise. „Und weil ich dachte, dass die Navy das interessiert, habe ich das gemeldet.“
Es war aufregend, dass man dort ihre Botschaft ernst nahm, denn einen Fehler in den historischen Aufzeichnungen zu ignorieren, war für jemanden wie Anna undenkbar. Seit ihrem ersten Tag in der Bibliothek fühlte sie sich als Teil einer Jahrhunderte zurückreichenden Kette von Bibliothekaren, Archivaren und Historikern, die sich alle derselben Aufgabe verschrieben hatten: der Sammlung und Bewahrung des Wissens der gesamten Welt. Gab es ein nobleres Unterfangen in der Geschichte der Menschheit? Zukünftige Generationen verließen sich auf die Sorgfalt von Bibliothekaren. Sie sah es als ihre Aufgabe an, für Genauigkeit in den Aufzeichnungen zu sorgen. Als sie den Fehler in dem alten Bericht entdeckt hatte, wusste sie sofort, dass er so nicht stehen bleiben durfte.
„Was für ein Fehler denn?“, wollte einer der Jungen wissen.
„Ein großer“, erwiderte Anna, beließ es aber dabei. Das war zu persönlich, um es vor einer Gruppe ungestümer Knaben auszubreiten. Anna hätte eine einfache Dankeskarte bevorzugt. Mit fremden Menschen in Kontakt zu treten, war jedes Mal eine Tortur für sie.
„Ich weiß noch nicht einmal, wo der Raum für Marineangelegenheiten ist“, gab sie offen zu, während sie ihren Binder richtete.
„Aber ich!“, rief Jack und sprang auf.
Anna wagte sich nur selten aus dem in die Jahre gekommenen Kartenraum. Abgenutzte Bücher, Karten und Atlanten bildeten eine Art sicheren Kokon um sie. Unten, im Haupttrakt des Kapitols, war alles anders: Die Pracht aus Marmor und Vergoldungen gab einem das Gefühl, ein Königshaus sei zu Gast, was wohl daran lag, dass tatsächlich Königshäuser hier ein- und ausgingen, zusammen mit Senatoren, Diplomaten, Premierministern und Präsidenten. Klein gewachsene Bibliothekarinnen passten dort unten nicht ins Bild, aber angesichts der förmlichen Vorladung blieb ihr nichts anderes übrig.
Sie knotete ihren Binder und wünschte sich insgeheim, sich am Morgen noch mehr Mühe mit ihrem Äußeren gegeben zu haben. Obwohl das auch nicht viel geändert hätte. Alle ihre Kleidungsstücke waren schlicht und einfach gehalten, weil sie es nicht leiden konnte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jeden Morgen drehte sie ihre langen braunen Haare zu einem akkuraten Haarknoten ein und steckte sie mit einer schlichten Onyxklemme fest, dem einzigen Schmuck, den sie besaß.
Sie sah Jack an und wünschte, sie hätte nur ein Zehntel seines Muts. „Dann los“, sagte sie.
Anna brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass die Navy ihr keineswegs für die Entdeckung eines Fehlers in einem fünfzehn Jahre alten Bericht danken wollte.
Vielmehr wollten sie ihren Kopf auf einem Silbertablett.
„Dass Sie überhaupt die Frechheit besitzen“, donnerte Lieutenant Gerald Rowland hinter seinem Mahagonischreibtisch. Der Mann mit dem Stiernacken hatte Anna bereits beim Eintreten angebrüllt.
Anna musste auf dem Teppich vor seinem Schreibtisch stehen und fühlte sich angesichts des wütenden Offiziers wie ein kleiner Spatz vor einem brüllenden Löwen. Sie räusperte sich und versuchte, etwas zu ihrer Verteidigung vorzubringen.
„Wenn sechsundfünfzig Männer mitten auf See verschwinden, sollte eine vollständige und gründliche Untersuchung des Falls erfolgen“, sagte sie leise.
„Was glauben Sie, haben wir vor fünfzehn Jahren gemacht?“ Lieutenant Rowland schlug so fest mit der Faust auf den Tisch, dass die Stifte und das Tintenfässchen hüpften. „Die USS Culpeper sank während eines der letzten Wirbelstürme in jenem Jahr und alle Mann waren verloren. Fall abgeschlossen.“
Anna wusste sehr gut, was der Culpeper zugestoßen war. Schließlich war ihr Vater einer der Männer, die mitsamt dem Schiff verschwunden waren.
„Aber genau das ist ja das Problem“, sagte sie und versuchte, sich von seinem finsteren Blick nicht einschüchtern zu lassen. „Das Schiff kann nicht dort gesunken sein, wo es laut Bericht gewesen sein soll. Ich möchte darum bitten, dass der Fall neu aufgerollt wird und die Fehler berichtigt werden.“
„Kopien des Berichts wurden an alle Familien der Opfer verschickt und sie hatten eine dreimonatige Frist, um der Navy ihre Fragen zu stellen. Die ist längst verstrichen.“
„Ich war damals nicht in der Lage, Fragen zu stellen. Ich war gerade mal zwölf Jahre alt, als das Schiff verschwand.“
„Als das Schiff sank“, wurde sie von Lieutenant Rowland berichtigt, „bekamen die Familien den gesetzlichen Matrosensold plus sechs Monate Gehaltsfortzahlung. Wenn Sie den Fall neu aufrollen wollen, um irgendwelche Ansprüche geltend zu machen, vergessen Sie’s.“
Anna reckte ihr Kinn ein Stück nach vorn. „Wie Sie sehen, stehe ich in Lohn und Brot und benötige keine Waisenrente. Ich möchte einfach nur wissen, was meinem Vater zugestoßen ist und dass die Navy den Bericht korrigiert.“
„Und Sie halten sich also für schlau genug, um die ganze Expertenkommission infrage zu stellen? Was macht eine Bibliothekarin überhaupt für Karten? Karten nach dem Alphabet sortieren?“
„Unter anderem.“
Anna kannte die nautischen Eigenheiten jeder Bucht, jedes Meeresarms und jedes Hafens an der Ostküste sowie die Tiefe und Befahrbarkeit jedes Hafens von Maine bis zu den Florida Keys. Sie konnte Längen- und Breitengrade im Schlaf berechnen. Schließlich war sie die Tochter eines Kartografen und das Arbeiten mit Karten lag ihr im Blut.
Vergangene Woche war Anna eine neue Karte des Wetterdienstes in die Hände gefallen, die den Kurs vergangener Wirbelstürme verfolgte. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Sturm, der zum Untergang der Culpeper geführt hatte, und da hatte sie bemerkt, dass der Bericht der Navy nicht dazu passte.
„Soll ich Ihnen verraten, was das Problem war? An Bord der Culpeper waren Wissenschaftler und Bücherwürmer anstelle von richtigen Seeleuten“, sagte Lieutenant Rowland. „Sie hätte den Sturm überstanden, wenn nicht so viele nutzlose Büchernarren im Weg herumgestanden hätten.“
Annas Vater war einer dieser Wissenschaftler in der Navy gewesen, der viele Jahre seines Lebens der Kartografierung des Ozeanbodens gewidmet hatte. Mithilfe von speziellen Schleppnetzen und Thermometern hatte er die Gerätschaften herabgelassen, die Wassertiefe gemessen und Sediment vom Ozeanboden heraufgeholt. Es hatte immer Spannungen zwischen Soldaten wie Lieutenant Rowland und Wissenschaftsoffizieren wie ihrem Vater gegeben, aber die Navy schuldete es den Männern der Culpeper, dass der Bericht über ihren Tod korrekt war.
Lieutenant Rowland war noch nicht fertig. „Diese Wissenschaftler haben das Leben anständiger Matrosen aufs Spiel gesetzt, nur um mitten auf dem Ozean mit ihren Teströhrchen herumspielen zu können. Der Fall wird nicht neu aufgerollt und Sie hören endlich auf, die Navy mit irgendwelchen aufgewärmten Geschichten zu belästigen! Diese Angelegenheit ist beendet. Haben Sie mich verstanden?“
„Ich habe Sie verstanden, Sir.“
Der Lieutenant beugte sich vor. „Was ist mit Ihrer Stimme los? Sie reden, als hätten Sie einen Klumpen Baumwolle verschluckt. Sprechen Sie gefälligst lauter!“
Anna erstarrte. Seit ihrer Kindheit war sie wegen ihrer Stimme gehänselt worden, aber zumindest konnte sie mittlerweile sprechen. Als Kind waren ihre Stimmbänder so schwer beschädigt worden, dass sie vollständig stumm gewesen war. Mit vierzehn war es dank einer Operation besser geworden, aber ihre Stimme klang nach wie vor leise und kehlig und hatte sie zur Zielscheibe für Schulhofhänseleien gemacht.
Sie räusperte sich und versuchte, etwas lauter zu sprechen. „Ich habe gehört, was Sie gesagt haben, Sir, aber ich möchte trotzdem beantragen, den Fall neu aufzurollen.“
Lieutenant Rowlands Blick wurde eisig. „Frauen“, sagte er verächtlich. „Es war ein Fehler der Regierung, Frauen im Kapitol überhaupt einzustellen. Sie sind neugierig, lästig und wissen nicht, wie man Befehle ausführt. Wie ich gehört habe, sind die Bibliothekarinnen in der Library of Congress nur auf Probe angestellt. Wann wird das eigentlich geprüft?“
Annas Knie wurden weich und sie war drauf und dran, sich am Schreibtisch festzuhalten. Er hatte recht. Die Bibliothek hatte vor fast einem Jahrzehnt Frauen auf Probe eingestellt, aber dieser Status war nie offiziell außer Kraft gesetzt worden.
„Ich höre?“, bellte Lieutenant Rowland. „Wann wird die Festanstellung von Frauen auf den Prüfstand gestellt? Wenn Sie sich nämlich weiterhin einmischen, dann werde ich höchstpersönlich bei dieser Anhörung anwesend sein.“
„Bitte nicht!“, rief Anna. Jetzt war ihre Stimme laut genug. Acht der vierzig Bibliothekare in der Library of Congress waren Frauen und ihre Arbeitsplätze waren allesamt in Gefahr, wenn sie diesen Mann nicht beruhigen konnte. „Es ist keine Anhörung angesetzt“, fuhr sie fort. „Unsere Anstellung scheint ohne offizielle Bestätigung in eine Festanstellung übergegangen zu sein.“
„Ach ja? Dann sollten Sie lieber keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem Sie Ihre Nase in militärische Angelegenheiten stecken, die Sie einen feuchten Kehricht angehen. Ist das klar?“
Entsetzlich klar. Nicht nur Annas Arbeitsplatz stand auf dem Spiel, sondern auch das Auskommen aller acht Frauen, die in der Library of Congress angestellt waren.
„Ja, Sir“, sagte sie leise.
Mit schweren Gliedern schlich sie die Treppe wieder nach oben. Sie hatte sich im Lauf der Jahre an die Anstellung als Frau gewöhnt, weil der Bibliotheksdirektor die Frauen mit demselben Respekt behandelte wie die Männer. Mr Spofford war wie ein Großvater für sie, aber er hatte die Probezeit nie offiziell in eine Festanstellung umgewandelt. Seine ganze Arbeitskraft war in das Feilschen und Schachern um Gelder, die Planung und den Bau der neuen Bibliothek geflossen, die gegenüber vom Kapitol errichtet werden sollte. Das Ganze hatte Jahrzehnte gedauert, aber jetzt war das palastartige Gebäude fast fertig. Nächsten Monat blühte ihnen die Herkulesaufgabe, mit dem gesamten Bestand in das neue Haus umzuziehen.
Als Anna den Kartenraum betrat, waren die Dienstboten längst verschwunden. Zu ihrer Überraschung stand Ainsworth Spofford am einzigen Arbeitstisch. Sein hagerer, vom Alter gebeugter Körper ließ ihn älter aussehen als seine dreiundsiebzig Jahre.
„Da sind Sie ja“, sagte Mr Spofford und sah erleichtert aus. „Ich bin zu einer Sitzung mit den Ingenieuren wegen des Neubaus gerufen worden. Deswegen müssen Sie für mich an der Sitzung des Fischereiausschusses teilnehmen.“
Anna zuckte zusammen. Mr Spofford fiel es leicht, bei Kongressanhörungen Auskünfte zu erteilen, aber für Anna war das jedes Mal eine Tortur.
Der Bibliotheksdirektor bemerkte ihre Unsicherheit. „Das wird eine ganz leichte Sitzung“, versicherte er ihr. „Der Fischereiausschuss ist eine erbärmlich kleine Gruppe. Niemand geht zu solchen Anhörungen, keine Angst. Halten Sie sich einfach bereit, falls jemand eine unserer Karten braucht.“
Mr Spofford legte ihr einen Stapel Atlanten und Karten auf die ausgestreckten Arme. Es war unwahrscheinlich, dass man ihr das Wort erteilen würde, aber allein schon die Bibliothek zu verlassen, verursachte ihr Bauchschmerzen. Und Kongressabgeordnete konnten so kompliziert sein. Sie hoffte, mit den Vertäfelungen verschmelzen zu können und vollends unsichtbar zu werden.
Mit ihrem Rock und den sperrigen Atlanten und Kartenröhren im Arm war es nicht einfach, die Treppen hinabzusteigen, aber die Fahrstühle waren den Kongressabgeordneten vorbehalten. Für eine Nation, die sich auf die Grundfesten der Demokratie gründete, war die Hierarchie im Kapitol erstaunlich. Die Kongressabgeordneten spazierten wie Prinzen durch die vergoldeten Flure, während Angestellte wie Anna hinter ihnen hertrippelten und mit Karten und allem anderen beladen waren, was diese brauchten. Anna erreichte den ersten Stock und lief durch schier unendliche Marmorflure, bis sie den richtigen Saal gefunden hatte.
Mr Spofford hatte falsch gelegen. Der Sitzungssaal war völlig überlaufen. Rings um die Eingangstür und bis weit in den Flur hinein drängten sich Zuschauer und warteten darauf, hineinzukommen. Anna zwängte sich durch die Menge und lief zur hintersten Stuhlreihe an der Wand, die für Angestellte reserviert war. Sie ergatterte den letzten freien Platz. Wie in allen Sitzungsräumen war die Gewölbedecke aufwendig bemalt und mit einem handgeschnitzten Fries versehen. Ein langer Tisch stand in der Mitte und war bereits von Kongressabgeordneten aus verschiedensten Staaten belegt.
„Was ist denn hier los?“, fragte Anna den Bediensteten neben sich im Flüsterton.
„Das ist Luke Callahans erste Sitzung, seit er degradiert wurde und nun zum Fischereiausschuss gehört“, bekam sie zur Antwort. „Alle wollen sehen, ob er tatsächlich kommt und sich der Demütigung fügt.“
Das erklärte alles. Anna hatte von der Sache mit Callahan gehört. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Vergangene Woche war der Streit im Plenarsaal bis in die oberste Etage des Kapitols zu hören gewesen. Luke Callahan war einer der charismatischsten Männer im Kongress, aber dem Sprecher des Repräsentantenhauses war er ein Dorn im Auge. Die Feindseligkeit zwischen den beiden Männern war übergekocht, und wie man hinter vorgehaltener Hand munkelte, hatte Mr Callahan versucht, Mr Jones einen Fausthieb zu verpassen, und war nur vom Sergeant at Arms aufgehalten worden. Der Sprecher hatte daraufhin genug von Mr Callahans Wutausbrüchen gehabt und ihn aus dem angesehenen Haushaltsausschuss der Vereinigten Staaten geworfen und ihn degradiert, indem er ihn in den Fischereiausschuss gesteckt hatte.
Anna freute sich insgeheim über Luke Callahans Versetzung, weil er ein ausgesprochener Gegner der Library of Congress war. Jedem, der gegen Bibliotheken stimmte, misstraute sie. Sie ließ den Blick über die hölzernen Namensschilder auf dem Tisch in der Mitte schweifen, bis sie das von Mr Callahan entdeckte.
Sein Stuhl war noch leer. Würde er auftauchen? Den Gerüchten zufolge würde er wegen seiner aufbrausenden Art die Demütigung nicht auf sich sitzen lassen. Persönlich hatte sie den Erzfeind der Bibliothek noch nicht gesehen, aber sie stellte ihn sich als schwerfälligen alten Mann vor, der nicht über die geringste Leidenschaft oder intellektuelle Neugier verfügte. Was für ein Barbar musste man sein, um sich gegen Bibliotheken einzusetzen?
Anna rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her, als ihr bewusst wurde, dass sie die einzige Frau im Raum war. Das störte sie immer wieder. Alles, was die Aufmerksamkeit auf sie ziehen konnte, wollte sie vermeiden, aber heute gab es kein Entkommen.
„Platz da! Platz da!“, rief ein Junge und übertönte mit seiner jugendlichen Stimme den Lärm. Die Menge teilte sich. Ein Dienstbote drängelte sich durch die Tür und stampfte mit einem Amtsstab auf den Boden. „Platz da für den ehrenwerten Kongressabgeordneten aus Maine!“
Hinter dem Jungen trugen zwei Dienstboten eine Ledermappe und einen Aktenordner. Und hinter ihnen ...
Hilfe.
Mr Callahan war gar kein schwerfälliger alter Mann. Der junge Abgeordnete betrat den Sitzungssaal mit dem Selbstbewusstsein eines geborenen Anführers. Sein kastanienbraunes Haar schimmerte golden. Seine blauen Augen funkelten und er hatte den sonnengebräunten Teint eines Mannes, der die Natur liebte. Was Anna jedoch am meisten gefangen nahm, war sein Lächeln. Es war ungezwungen und mühelos, siegessicher und selbstbewusst. Seine weißen Zähne strahlten.
„Da sieh mal einer an, wer sich unters gemeine Volk mischt“, stichelte ein Abgeordneter am Tisch.
„Das gemeine Volk? Im Gegenteil.“ Mr Callahan ließ seine Zähne blitzen und breitete die Arme aus. „Es ist mir eine Ehre, mich für die weltberühmten Fischgründe und Austernbänke dieser Nation einzusetzen. Eine ganz besondere Ehre!“
Seine gute Stimmung wurde von grollendem Gelächter und Fußstampfen erwidert. Mr Callahan lief um den Tisch, klopfte den Männern auf den Rücken und flachste mit beneidenswerter Leichtigkeit herum. Er schien vor Energie nur so zu strotzen. Nach den Abgeordneten ging er zu den Sitzbänken der Journalisten, schüttelte ihnen die Hände und begrüßte die Zeitungsreporter. Amethystbesetzte Manschettenknöpfe blitzten auf, als er sich ausstreckte, um auch in der zweiten Reihe jeden Journalisten per Handschlag zu begrüßen.
Die Manschettenknöpfe verrieten ihn. Anna riss erschrocken die Augen auf. Sie hatte diesen Mann schon oft gesehen, aber nur, wenn sie von der dritten Etage in den Lesesaal der Library of Congress hinabgeblickt hatte. Er war ein regelmäßiger Besucher und saß immer am selben Ort an einem Tisch am Fenster und las während der Mittagspause. Von der Balustrade aus hatte Anna ihn immer nur von oben gesehen, aber er trug stets dieselben Manschettenknöpfe, die beim Umblättern in der Sonne glitzerten. Erst jetzt begriff Anna, wen sie da immer gesehen hatte.
Und das war der Mann, der sich gegen jeden Gesetzentwurf stemmte, der die Library of Congress betraf? Dessen massive Hetzreden gegen das neue Gebäude einem die Schuhe auszogen? Welche Ironie, dass der stärkste Gegner der Bibliothek zugleich einer ihrer treuesten Nutzer war.
Obwohl sie es nicht wollte, schmolz ihre Abneigung gegen ihn ein wenig dahin, auch wenn Luke Callahan genau den Personentyp verkörperte, dem sie stets aus dem Weg ging. Ein Mann mit derart blendender Selbstsicherheit und Beliebtheit wusste ganz bestimmt nicht, wie es war, gehänselt zu werden oder Außenseiter zu sein. Er musste sicher nie darum bangen, ganz normal zur Schule gehen zu können. Und er hatte sich als Kind bestimmt nie die Frage gestellt, ob heute der Tag war, an dem lauter boshafte Klassenkameraden sich um einen scharten, um herauszufinden, wie sich ein heulendes stummes Mädchen anhörte.
Die Sitzung begann und Anna verdrängte die Erinnerung. Ausschusssitzungen waren meist todlangweilig und auch jetzt zogen die Stunden träge dahin, während ein Abgeordneter aus New York versuchte, die schwächelnde Austernindustrie seines Staates zu retten. „Wir weigern uns, Steuern für Austernbänke zu entrichten, die von den Abwässern aus Schmelzhütten in New Jersey in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Abwässer vergiften die Bänke und zerstören die Uferlandschaft.“
„Unmöglich. Diese Schmelzhütten können gar nicht die Gewässer von New York verpesten“, erwiderte ein anderer Abgeordneter. „Die Strömung fließt ganz woanders lang.“
Mr Callahan hob einen Arm und schnipste. „Das werden wir gleich haben. Eine Karte, bitte.“
Das war ihr Stichwort. Anna durchsuchte nervös die Kartenröhren neben sich nach der Karte, auf der die Meeresströmungen verzeichnet waren.
„Karte!“, verlangte Mr Callahan gereizt. Ihre Blicke trafen sich. Unglaublicherweise sah er sie unentwegt an und schnipste weiter. Schnips, schnips, schnips. Erwartete er tatsächlich, dass sie aufsprang wie ein Hund, dem man „Bei Fuß!“ zugerufen hatte?
Offensichtlich ja. Die meisten Abgeordneten waren es gewohnt, dass die Leute vor ihnen einen Kratzfuß machten. Anna biss die Zähne zusammen und ging nach vorn. Sie legte die Karte vor Mr Callahan auf den Tisch und kam ihm dabei so nahe, dass sie sein nach Pinienholz duftendes Rasierwasser wahrnahm. Bevor sie wieder ging, raunte sie ihm ins Ohr: „Schnipsen funktioniert noch besser, wenn man eine Krone trägt und mit dem Zepter zeigen kann, wohin die Untertanen eilen sollen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück und hielt den ganzen Weg über die Luft an. Hatte sie tatsächlich gerade einen Kongressabgeordneten gemaßregelt? Sie nahm still Platz und riskierte einen Blick zu Mr Callahan.
Er starrte sie verdutzt an, als wäre gerade seine Weltordnung durcheinandergeraten. Eine kleine Maus hatte es gewagt, dem gewaltigen Löwen in die Schnauze zu zwicken. Anna versuchte nicht zu grinsen, aber beim Versuch, es zu unterdrücken, verzog sie ihren Mund.
Das Erstaunen in Mr Callahans Gesicht wich allmählich einem Lächeln, das die Knie jedes Mädchens hätte weich werden lassen. Mr Callahan nickte ihr leicht zu und in seinen Augen spiegelte sich neuer Respekt.
Zu ihrem Entsetzen stand er kurz darauf auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm, an dem der Manschettenknopf aufblitzte, auf sie. „Mein Dank geht an die wissenschaftliche Hilfskraft dieses Ausschusses, Miss ...“
Der Satz blieb unvollendet und löste einen Adrenalinschub in Anna aus. Lieber wollte sie öffentlich gesteinigt werden, als vor fremden Leuten reden zu müssen. Aber er wartete und alle Abgeordneten und alle Reporter im Raum sahen sie an. Stühle knarrten, Männer reckten die Hälse und alle Augen waren auf sie gerichtet. Am liebsten wäre Anna im Erdboden versunken.
„Anna O’Brien“, murmelte sie. Die Worte reichten kaum, um ihre belegte Stimme zu lösen.
„Wie war das bitte?“, fragte Mr Callahan.
Anna räusperte sich und versuchte es erneut. Aber auch jetzt klang es nur wie das Krächzen einer Kröte.
Der Bedienstete neben ihr ersparte ihr weiteres Elend. „Miss Anna O’Brien, von der Library of Congress“, sagte er mit klarer und lauter Stimme.
„Miss O’Brien“, säuselte Mr Callahan sanft. „Ich möchte mich für mein scharfes und unverzeihliches Benehmen entschuldigen. Die ungehobelten Wilden aus dem Norden müssen noch viel von der vornehmen Lady aus Washington lernen. Sie sind der Inbegriff von Anmut und Liebreiz angesichts meines flegelhaften Betragens. Ihr Verstand und Ihre Kompetenz sind ein heller Lichtstrahl im dunkelsten aller Nachmittage. Miss O’Brien, der amerikanische Kongress neigt in Dankbarkeit das Haupt vor Ihnen.“
Gemurmel und etwas Fußstampfen quittierten seine Aussage, aber dann widmeten sich die Abgeordneten wieder ihrer Arbeit.
Alle, außer Mr Callahan, der sie immer noch mit diesem neugierigen Funkeln in den Augen beobachtete. Anna wandte gekränkt den Blick ab. Ihr wurde heiß. Auf diese Art von Aufmerksamkeit konnte sie liebend gern verzichten.
Die Sitzung zog sich noch Stunden hin, und obwohl sie es nicht wollte, wanderte ihre Aufmerksamkeit immer wieder zu dem Abgeordneten aus Maine. Er beteiligte sich rege an der Sitzung, wandte sich aber alle paar Minuten ab und lächelte ihr zu. Sein Lächeln war stets flüchtig, aber jedes Mal lief ihr ein kleiner Schauer über den Rücken. Hatte er ihr gerade zugezwinkert?
Kein Zweifel!
Anna sah weg und schäumte innerlich. Frauen, die Kongressabgeordneten schöne Augen machten, konnten deswegen sehr schnell ihre Anstellung verlieren. Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihr ein arroganter Parlamentarier, den sie nicht einmal kannte, in der Öffentlichkeit zuzwinkerte. Zuzwinkerte! So fingen Gerüchte doch erst an!
Kaum verkündete der Sitzungshammer das Ende der Versammlung, war sie auch schon aus dem Saal geflüchtet.
Elizabeth Camden
Elizabeth Camden studierte Geschichte und Bibliothekswissenschaft. Heute ist sie als Professorin für Bibliothekswesen tätig. Ihre Romane schreibt sie in ihrer freien Zeit. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Florida.
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.