Der Laden der unerfüllten Träume

Das ausgewaschene T-Shirt mit dem Aufdruck »Old Depot Grocery« saß ein wenig enger, als ihr lieb war, aber es passte noch. Ihr Blick wanderte nach unten zu den großen, eckigen Pflastern, die ihre Mutter auf ihre Knie geklebt hatte, um die Schnitte zu schützen, die Sarah erst registriert hatte, als ihre Mutter in der Nacht zuvor auf das getrocknete Blut gedeutet hatte.
Das Bild im Spiegel wirkte wie eine Zeitreise: ein Mädchen mit aufgeschlagenen Knien – wenn sie verdrängte, dass die Verletzungen an ihren Knien nicht von einem Sturz mit den Rollschuhen stammten.
Der köstliche Geruch von Mamas berühmten Waffeln mit Soße drang unter der Tür hindurch ins Zimmer. Sarah passte jetzt vielleicht noch in die Kleidung aus ihrer Schulzeit, aber wenn Mama anfinge, sie zu mästen, wäre das bald vorbei.
Sie ging barfuß über den abgetretenen beigen Teppich durch den Flur ins Badezimmer, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Als sie den Blick hob, um den Korb mit den Handtüchern zu suchen, die ihre Mutter im Regal neben dem Waschbecken aufbewahrte, entdeckte sie ein großes Tritonschneckengehäuse von ihrer Hochzeitsreise mit Aaron vor sechs Jahren. Ein Geschenk, das sie ihren Eltern geschickt hatten.
Sarah hielt sich die Muschel ans Ohr und lauschte, ob sie die Wellen rauschen hören konnte. Sie war damals Hand in Hand mit ihrem Mann am Strand spazieren gegangen und vor ihnen hatte sich ein Ozean an Möglichkeiten ausgebreitet. Sie legte die Muschel ins Regal zurück und nahm ein Handtuch.
Dann versuchte sie, mit dem weichen Frotteestoff diese Erinnerungen wegzuwischen. War es möglich, im Leben die Reset-Taste zu drücken und noch einmal von vorne anzufangen? So zu tun, als hätte es nie etwas anderes gegeben als diese ländliche Kleinstadt und den Traum eines kleinen Mädchens, für den Rest seines Lebens Kaufladen zu spielen?
Sarah folgte ihrer Nase und begab sich in die Küche. Ihre Mutter hatte eine Baumwollschürze um die Taille gebunden und stand vor dem Herd, wo sie luftige Waffeln auf einen Teller stapelte. Über Mamas Kopf zierte ihre Hühnersammlung die Küchenschränke, die in allen Formen und Größen aufgereiht waren, als marschierten sie in einer Parade durch die Küche. Sarah lächelte.
»Guten Morgen, Mama. Das Frühstück duftet verlockend. Aber du hättest dir nicht so viel Mühe zu machen brauchen.«
Ihre Mutter drehte sich um und musterte sie kurz von Kopf bis Fuß. Ihre Miene blieb unverändert. Undurchschaubar. »Es kommt nicht alle Tage vor, dass meine Tochter zu einem spontanen Besuch hereinschneit.«

Sarah stocherte am Rand ihrer Waffel herum und wappnete sich für die Frage, die unvermeidlich kommen musste.
Mama stellte die Tasse ab und tupfte sich mit einer Serviette das Kinn ab. »Wie lang hast du vor zu bleiben?«
Sie sagte diese Worte mit einem sanften Lächeln, obwohl sie eigentlich gar nicht wissen wollte, wie viele Tage Sarahs Besuch dauern würde. Sie wollte mit diesen Worten lediglich klarstellen, dass sich Sarah nicht auf Dauer hier verkriechen konnte.
»Wann kommt Papa zurück?«
Mama warf einen Blick auf den Wandkalender, als wüsste sie den Dienstplan ihres Mannes, der als Fernfahrer unterwegs war, nicht auswendig. »In einer Woche hat er frei. Dann ist er sieben Tage zu Hause.«
»Oh, gut. Ich freue mich auf die Zeit mit ihm.« Hoffentlich genügte das, um ihre Mutter davon abzuhalten, tiefer nachzubohren, wie Sarahs Pläne aussahen. Und vielleicht genügten zwei Wochen, um ihre Mutter an die Idee zu gewöhnen, aus dem Mutter-Tochter-Team, das den »Old-Depot«-Lebensmittelladen betrieb, der seit Jahrzehnten in Familienbesitz war, ein Mutter-Tochter-Enkelin-Trio zu machen.

Während ihrer Fahrt zum Laden sog Sarah die Kleinstadtatmosphäre in sich auf. Das Städtchen strahlte etwas Altmodisches aus, abgeschieden in einem unscheinbaren Winkel der Erde, abgeschirmt vor den Veränderungen der Zeit. Nachbarn, die auf der Veranda vor ihren Häusern saßen, hoben die Hände und winkten, als sie an ihnen vorbeifuhr. Andere bearbeiteten bereits fleißig ihre Blumenbeete. Sarah verlangsamte die Geschwindigkeit für einen Traktor, der von der Hauptstraße abbog. Einige Minuten später erreichte sie den alten Laden und konnte sich auf der fast leeren Fläche davor einen Parkplatz aussuchen. Sie ließ den vertrauten Anblick der Schaufensterfront mit den zwei Giebeln auf sich wirken. Zwischen den Giebeln verkündete ein rot gestrichenes Schild: OLD DEPOT GROCERY. Sarah atmete tief aus. Dieser Atemzug reinigte ihr Herz und ihre Seele.
Sie stieg aus dem Auto und trat vorsichtig über die Löwenzahnpflanzen, die in den Rissen auf dem Gehweg blühten. Löwenzahn war nicht so schön wie Rosen, aber viel widerstandsfähiger.
Die Ladentür flog schwungvoll auf und riss sie aus ihren Gedanken. Heraus stolperte ein gestresster Mann in Anzug mit einem sonderbar hüpfenden Gang. Ihm folgte ihre Großmutter Glory Ann, die finster dreinblickte und mit einem Besen nach dem Mann stach, der bereits in sein Auto geflüchtet war, in Sekundenschnelle den Motor angelassen hatte und eilig das Weite suchte.
Sarah verkniff sich nur mühsam ein Lachen, als sie sah, welche Angst ihre zierliche Großmutter dem kräftigen Mann, der aus ihrem Laden geflohen war, eingejagt hatte.
Oma drohte dem davonfahrenden Auto noch einmal mit dem Besen und rief: »Und lassen Sie sich ja nie wieder hier blicken, Sie … Sie Verbrecher! Die Old Depot Grocery stand nie zum Verkauf und daran wird sich auch nichts ändern!«

Juni 1965
Glory Ann schleppte sich die Treppe hinab, während das Morgenlicht, das durch die Fenster ins Treppenhaus fiel, sie in einen weichen, warmen Schein hüllte. Der perfekte Tag für die Junihochzeit, die nie stattfinden würde.
Ihre Mutter stand am Fuß der Treppe und massierte sich die Schläfe. »Schatz, bitte zieh dich um, wir wollen gleich fahren! Es ist ein wunderschöner Sommertag. Dieses schwarze Kleid raubt deinem Gesicht doch jede Farbe.«
Die Blässe kam wahrscheinlich eher daher, dass sie lange über der Porzellantoilette gehangen hatte. Aber für das Privileg, Jimmys Kind auszutragen, nahm Glory Ann gern jede Last auf sich.
»Ich bin in Trauer.« Wen interessierte es schon, dass niemand mehr Trauerkleidung trug? Das schwarze Kleid war ihre Art, aller Welt zu zeigen, wie viel er ihr bedeutet hatte.
Ihre Mutter seufzte schwer und ließ die Schultern hängen »Ich weiß, dass du dachtest, du würdest ihn lieben …«
Das war es! Das war der eigentliche Grund, warum Mutter nicht gefiel, dass Glory Ann seit einem Monat in diesem schwarzen Kleid durchs Haus schlich.
»Mutter.« Glory Ann hoffte, ihr Tonfall genügte als Warnung. Sie wollte dieses Gespräch nicht schon wieder führen – nach der Kernschmelze am Esstisch, als sie ihren Eltern endlich das Geheimnis gebeichtet hatte, das sie wochenlang für sich behalten hatte: Dass sie, die Pfarrerstochter, mit neunzehn schwanger war.
»Unehelich!« Mamas Reaktion würde sie für den Rest ihres Lebens nicht vergessen.
Sie schüttelte den Kopf. Die ersten Worte aus dem Mund ihres Vaters waren gewesen: »Was machen wir jetzt? Einen Toten kannst du nicht heiraten, Glory Ann.«
Während sie wie erstarrt auf der Treppe stehen blieb, tauchte ihr Vater neben Mutter auf. Er hatte die Zeitung in der Hand und seine Lesebrille über die Stirn hochgeschoben. Sein Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet und grau. Das schöne Morgenlicht konnte die Last, die ihren Vater niederdrückte, genauso wenig wegnehmen wie Glory Anns Trauer.
Ihre Mutter rieb über ihren schmalen Nasenrücken. »Jetzt geh und zieh dein schönes gelbes Kleid an. Das mit den aufgestickten weißen Blümchen. Bitte.«
Beide sahen so erschöpft aus, dass sie ihrer Bitte nachkam. Glory Ann fügte sich fast immer. Vor dem ovalen Spiegel in ihrem Zimmer zog sie das schwarze, schlicht geschnittene Kleid aus und betrachtete die cremefarbene Figur ihres Spiegelbilds. Ihre Hand legte sich auf die leichte Wölbung ihres Bauchs. Auf die Stelle, an der ein wenig von ihr und ein wenig von Jimmy heranwuchs. Ein Same der Liebe. Vielleicht hätte er nicht gesät werden dürfen, aber trotz der Schmach, die sie und ihre Familie ertragen müssten, konnte sie sich nicht überwinden, ihre Schwangerschaft zu bereuen.
Nachdem sie in das fröhliche Kleid geschlüpft war, wie ihre Mutter es verlangt hatte, zähmte sie ihre eigensinnigen schwarzen Locken und kniff sich in die Wangen, damit sie ein wenig Farbe bekamen. Dann steckte sie den Brief, den sie nie abgeschickt hatte, in ihre Tasche.
Wenn sie es gewagt hätte, ihn abzuschicken, und die Post ein Wunder vollbracht hätte, wäre der Brief bei Jimmy vielleicht noch rechtzeitig angekommen und er hätte vor seinem Tod erfahren, dass er Vater wurde. Vielleicht hätte diese Nachricht etwas geändert. Irgendwie.
Als sie zum Auto hinausging, stellte ihr Vater gerade einen kleinen Koffer in den Kofferraum. Anscheinend bringen wir den Leuten, die wir besuchen, etwas mit.
»Ich bin bereit.«
Als er ihre Stimme hörte, hob er den Kopf und blickte sie überrascht an. »Du siehst hübsch aus.«

Eine Stunde später fuhren sie in eine Kleinstadt namens Brighton, in der es nur eine einzige Ampel gab. Ihr Vater stellte das Auto vor einem Gebäude ab, das aussah, als wäre es früher einmal ein Bahnhof gewesen. Auf den Gleisen davor, die von Unkraut überwuchert waren, fuhren schon lange keine Züge mehr. Auf dem Schild über der Tür stand OLD DEPOT GROCERY.
Ihr Vater stellte den Motor ab und lehnte die Stirn ans Lenkrad.
»Papa?«
Er richtete sich wieder auf und schaute sie mit einem schmalen Lächeln an. »Bist du bereit?«
Wozu bereit? Sie hatte gedacht, sie würden Bekannte besuchen. Warum wollte er in einem kleinen Lebensmittelgeschäft einige Orte entfernt einkaufen gehen?
»Clarence Clearwater ist ein sehr netter Mann. Seine Eltern waren mit meiner Familie gut befreundet. Das hier ist sein Laden.«
»Okay ...« Sie legte den Kopf schief. Warum sollte sie sich für Clarence Clearwater und diesen Lebensmittelladen interessieren?
Vater zögerte und sein Mund bewegte sich, als wollte er mehr sagen. »Komm, wir gehen hinein und ich stelle dich ihm vor.«
Sobald sie den Laden betraten, steuerte ihr Vater auf einen Mann mit grüner Kaufmannsschürze zu. Er war wahrscheinlich zehn Jahre älter als sie. Er hatte schmale, gebeugte Schultern und eine krumme Nase, die aussah, als hätte er sie ein- oder zweimal gebrochen, ohne sie wieder begradigen zu lassen. Aber seine etwas zu eng zusammenstehenden, braunen Augen waren sanft und freundlich.
Ihr Vater nickte dem Mann zu und sie führten ein kurzes, geflüstertes Gespräch. »Komm zu mir, Glory Ann. Ich möchte dich gern vorstellen. Das ist Clarence Clearwater.«
Sie gab dem Mann die Hand. Der Fremde drückte sie sanft und schaute Glory Ann fragend an.
Dann nickte er entschieden und wandte sich ihrem Vater zu. »Sir, es ist mir eine Ehre, Ihre Tochter zu heiraten.«
Die Luft wurde plötzlich drückend heiß. Vor Glory Anns Augen verschwamm alles und der Raum schien zu schwanken. Starke Arme legten sich um sie und ihre Welt wurde genauso schwarz wie das Kleid, das sie an diesem Morgen angezogen hatte.

Licht drang wieder zu ihr durch. Glory Ann lag auf etwas Weichem, Modrigem. Die Luft war von tanzenden Staubkörnern und leisen Stimmen erfüllt. Sie setzte sich mühsam auf und stellte fest, dass sie auf einem schmuddeligen Sofa in einem vollgepferchten Büro lag, das von einer grünen Schreibtischlampe erhellt wurde.
Ihr Vater stand von einem Stuhl auf und ging neben ihr in die Hocke. »Schatz, geht es dir wieder gut?«
Er reichte ihr eine Tasse Wasser und sie trank einen Schluck, um das pelzige Gefühl aus ihrem Mund zu vertreiben. Ihr Kopf wurde langsam wieder klar und sie erinnerte sich an die Worte, die Clarence gesagt hatte, bevor sie in Ohnmacht gefallen war.
Sie schnappte nach Luft. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich werde … ich werde diesen Mann nicht heiraten. Das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Ihr beide heiratet, sobald ihr eine Heiratserlaubnis bekommt, und gründet eine Familie. Clarence hat sich bereit erklärt, das Kind als seines anzuerkennen. Dieses Kind wird geliebt und versorgt werden. Es wird Teil einer stabilen Familie sein. Wenn du es nicht für deine Mutter tun willst, dann denk an das Kind. Überlege, welchem Spießrutenlauf es ausgesetzt sein wird, wenn du Clarence nicht heiratest.« Er schaute sie mit großen Augen flehend an.
Ihre Hände zitterten und sie faltete sie verkrampft auf ihrem Schoß. »Kann ich in Ruhe darüber nachdenken? Clarence erst ein wenig kennenlernen?« Diese Worte schmeckten bitter auf ihrer Zunge.
Sein Blick richtete sich auf den Boden und er schüttelte den Kopf. »Dafür ist keine Zeit. Die Gerüchte werden auch so schon schlimm genug sein.«
Glory Anns Magen rumorte und das hatte nichts mit dem kleinen Leben zu tun, das in ihr heranwuchs. Kein Wunder, dass ihre Mutter heute Morgen nicht gewollt hatte, dass sie schwarz trug. Sie hatte dafür gesorgt, dass sich Glory Ann für ihre Hochzeit angekleidet hatte, auch wenn sie davon nichts geahnt hatte.
»Aber Mama ist nicht dabei.« Sie verabscheute den jammernden Tonfall ihrer Stimme, aber an ihrem Hochzeitstag sollte doch eigentlich ihre Mutter bei ihr sein!
»Sie … sie wollte dir zuliebe dabei sein. Aber sie konnte es nicht ertragen. Sie hat deine Aussteuertruhe für dich gepackt.«
Ihre Träume von einer romantischen Junihochzeit hatten an dem Tag, an dem sie von Jimmys Tod erfahren hatte, einen tödlichen Schlag erlitten. Es kam ihr vor, als würde Erde auf einen Sarg geworfen, dessen Insasse immer noch um Luft rang.
Drei Tage später wurde Glory Ann Hawthorne in dem düsteren, beengten Büro Mrs Clarence Clearwater, und das alles nur, um ein Geheimnis zu hüten, für das sie sich nicht schämte.