Ithaca, New York, 1885:
Nora Shipley studiert Insektenkunde und setzt alles daran, die Fachzeitschrift ihres verstorbenen Vaters zu retten, die ihr Stiefvater langsam aber sicher in den Ruin treibt. Während er und ihre Mutter darauf hoffen, dass Nora schnell eine gute Partie machen wird, träumt sie selbst davon, ihr Studium fortzusetzen und berufstätig zu werden.
Doch dafür braucht sie unbedingt das bald zu vergebende Stipendium – das sie nur bekommt, wenn sie sich gegen ihren härtesten Konkurrenten durchsetzt: Owen Epps, dem immer alles in den Schoß zu fallen scheint und den sie unter keinen Umständen mögen will.
Da er an einer Schmetterlings-Expedition in Indien teilnimmt, um mit der Praxiserfahrung zu glänzen, reist auch Nora zu dem Forschungstrupp nach Kodaikanal. Sie ahnt nicht, welch tiefgreifende Entscheidungen dort auf sie warten ...
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Kapitel 1
In Nora Shipleys Ohren rauschte es, als wären tausend Bienen in ihrem Kopf gefangen. Sie drückte den Rücken an den Esszimmerstuhl und zwang sich, den krampfhaften Griff um die Mai-Ausgabe des Fachjournals für östliche Flora und Fauna zu lockern. Mit dem Daumen strich sie die Ecke der aufgeschlagenen Seite glatt.
Nora legte die Zeitschrift auf den Tisch und warf ihrem Stiefvater Lucius Ward einen Blick zu. Die Gesellschaft war der Meinung, dass das Haus, in dem Nora aufgewachsen war, ihm gehörte – aber das tat es eigentlich nicht. Ihr Vater, Alexander Shipley, hatte dieses Haus gekauft, als er die Dozentenstelle an der Cornell University bekommen hatte.
Es würde immer das Haus ihres Vaters bleiben und doch saß Lucius ihr auf Vaters Stuhl am Tisch gegenüber und aß in aller Seelenruhe sein Ei, ohne zu bemerken, dass sie den wütenden Schwarm hinter ihren zusammengepressten Lippen nur mit Mühe zurückhielt.
Lucius fuhr sich mit einer Serviette über den Mund. »Also, Nora, was hältst du von unserem jüngsten Druckwerk?«
Nora biss in ihren Toast, um nicht antworten zu müssen. Sie schlug die Zeitschrift an der anstößigsten Stelle auf, nämlich Seite 16. Die Anzeige, die in einer albern schnörkeligen Schrift gestaltet war, warb um Angebote von Menschen, die bereit waren, Geld dafür zu zahlen, dass ihre Artikel publiziert wurden. Nora kaute das Toaststück zu Brei und betrachtete dabei wortlos die Zerstörung des angesehenen naturkundlichen Periodikums ihres Vaters. Schließlich schluckte sie und blickte auf. »Hast du das Journal in einen Bezahlverlag verwandelt?«
Lucius’ Blick huschte zu Noras Mutter hinüber, die am anderen Ende des Tisches saß. Lydia Ward gab einen kleinen Laut von sich und widmete ihre Aufmerksamkeit ganz ihrer Teetasse.
Lucius legte seine Gabel ab und hustete. »Ich hatte keine andere Wahl. Es hat sich einfach nicht mehr rentiert.«
Nora zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Unter der Leitung meines Vaters lief es doch gut.«
Lucius’ Gesicht rötete sich. Nora konnte nicht deuten, ob aus Verlegenheit oder vor Wut – bei ihm hatten beide Emotionen die gleiche Wirkung.
»Du vergisst, dass ich sein Partner war. Wir haben das Fachjournal zusammen ins Leben gerufen.«
Dazu sagte Nora nichts. Stattdessen warf sie ihrer Mutter einen Blick zu, die ihrem Hausmädchen Alice ein Zeichen gab, ihr Tee nachzuschenken. Mutter trank immer Tee, wenn sie aufgebracht war.
Nora wandte sich wieder der Zeitschrift zu und blätterte darin, bis sie zu dem Artikel kam, über den sie so entrüstet war. Sie warf sie auf den Tisch, zeigte mit dem Finger auf die Überschrift des Beitrags und hob den Blick. »Wirst du von jetzt an so etwas veröffentlichen? Artikel von Amateuren, die vor Fehlern nur so strotzen?« Nora konnte ihre eigenen Worte kaum hören, so sehr wurden sie von dem wütenden Brummen der Bienen in ihrem Kopf übertönt. »Wie kannst du als Biologe bereit sein, solche unwissenschaftlichen Texte zu publizieren? Das ist Täuschung! Und außerdem macht es den herausragenden Ruf des Journals zunichte.«
Lucius seufzte und kratzte sich mit seinen dicken Fingern an der Wange. »Ich kann nicht noch mehr von meinem privaten Geld hineinstecken. Wenn es keinen Gewinn abwirft, wird es keinen Bestand haben. Und ich bin sicher, das willst du nicht. Keiner von uns will das.«
Nora griff nach der Serviette, die neben ihrem Teller lag, und drehte sie zwischen den Fingern. Sie schüttelte den Kopf. »Aber du wusstest doch, dass der Verfasser sich irrt! Warum hast du den Artikel nicht redigiert? Dies ist nicht mehr dieselbe wissenschaftliche Zeitschrift, die du zusammen mit meinem Vater geführt hast.«
Lucius hatte zwanzig Jahre lang an der Cornell University Biologie gelehrt, bis er im vergangenen Winter plötzlich entlassen worden war. Er war ein intelligenter Mann, der sich mit verschiedenen Facetten der Naturwissenschaft befasste – Entomologie, Botanik, Chemie –, und er kannte den Unterschied zwischen solider Forschung und eitlem Gehabe. Was würden ihre Abonnenten denken, wenn sie die Ausgabe dieses Monats lasen? Sie konnten diese Veröffentlichung unmöglich ernst nehmen.
Lucius zeigte auf das Journal neben ihrem Teller. »Diese Autoren sind sensibel. Wenn man sie korrigiert, ziehen sie ihren Beitrag und das Geld zurück.«
Nora sprang auf und jetzt ließen die Bienen sich nicht mehr aufhalten. »Du wirst Vaters Vermächtnis zum Gespött der Leute machen! Ich will keine Zeitschrift veröffentlichen, die gegen seine Absichten verstößt.«
Lucius rappelte sich ebenfalls von seinem Stuhl hoch und stützte sich mit den Fingerknöcheln auf der Tischplatte ab. Er beugte sich vor, sodass Nora die dunkelbraunen Flecken in seinen hellbraunen Augen sah. Obwohl er leise sprach, entging ihr nicht die Warnung in seiner Stimme: »Dann ist es ja gut, dass die Zeitschrift nicht dir gehört. Und deinem Vater gehört sie auch nicht mehr.«
Seine Worte schmerzten und Nora drückte die zerknüllte Serviette fest an ihren Bauch.
»Alice!«, rief Mutter mit zitternder Stimme. »Bitte hilf mir auf mein Zimmer. Ich glaube, ich bin müde.«
»Jetzt hast du deine Mutter aufgeregt.« Lucius legte eine fleischige Hand unter Lydias Arm. »Ich helfe dir, meine Liebe.«
Mutter stand auf und schwankte ein wenig.
Als Nora ihr weißes Gesicht und ihre bebenden Lippen sah, verflog ihre Wut. »Es tut mir leid, Mutter.«
Mutter lächelte ihr zaghaft zu, nahm den Arm, den Alice ihr hinhielt, und verließ den Raum mit lautlosen Schritten.
Lucius setzte sich wieder und nahm seine Gabel. »Es tut dir immer leid, Nora, aber du redest, ohne nachzudenken. Das ist nicht gänzlich deine Schuld. Dein Vater hat dir keinen Gefallen getan, als er dir dieses Erbe ohne Bedingungen vermacht hat. Eine junge Frau sollte besser heiraten, als einen Abschluss anzustreben, den sie niemals wird gebrauchen können.«
Nora hörte zu, wie Lucius vor sich hin plapperte. Sie hatte das alles schon zu oft gehört. Vor vier Jahren, nach der Heirat mit ihrer Mutter, hatte Lucius versucht, Nora davon zu überzeugen, dass es eine Verschwendung wäre, wenn sie einen akademischen Abschluss anstrebte. Es ärgerte ihn, dass Nora seinen Rat ignoriert und das Erbe ihres Vaters dafür verwendet hatte zu studieren. In zwei Wochen würde sie ihren Bachelor in Entomologie haben. Mit zielstrebigem Einsatz war es ihr gelungen, das Studium in drei Jahren zu absolvieren. Ihr Geld war fort, aber das, wofür sie es ausgegeben hatte, würde ihr in Form einer Ausbildung immer zur Verfügung stehen.
»Dein Vater hätte es besser wissen müssen, als dir diese Flausen in den Kopf zu setzen, dass du ...«
Nora blinzelte. »Mein Vater war ein rechtschaffener und kluger Mann.«
Lucius trank schlürfend aus seiner Tasse. Als er sie abstellte, schwappte der Tee über den Rand und breitete sich kreisförmig auf dem schneeweißen Tischtuch aus. »Ja. Und er war idealistisch. Zu idealistisch, wenn du mich fragst. Du musst heiraten, Nora. Als alte Jungfer zu enden, ist nun wirklich nicht gut, vor allem als Einzelkind. Deine Mutter wünscht sich Enkel.« Seine Stimme klang jetzt beinahe bittend, als er sich zu ihr herüberlehnte. »Ich kann dich mit meinem Freund bekannt machen. Mr Primrose ist erfolgreich und gebildet.«
Nora stöhnte. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich im Augenblick kein Interesse daran habe zu heiraten. Wenn du mich bitte entschuldigst, ich habe in einer Stunde ein Treffen mit Professor Comstock und muss mich noch vorbereiten.«
Sie rauschte aus dem Zimmer und ihr Rock raschelte um ihre Fußgelenke. Kein Wort würde sie sich mehr anhören! Lucius war unerträglich und sie war froh, dass es auf der Welt auch Männer wie ihren Vater und John Comstock gab. Männer, für die der Intellekt einer Frau dem eines Mannes ebenbürtig war. Männer, die glaubten, dass Gott Frauen nach seinem Ebenbild geschaffen hatte und nicht als schwachen Abglanz von Adam.
Nora stieg die Treppe zum Obergeschoss hinauf und warf einen Blick in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Durch den feinen gepunkteten Vorhang um das Himmelbett sah sie, dass ihre Mutter auf einem Berg Kissen ruhte, die Hand an ihrer Stirn.
»Geht es dir gut, Mutter?«
»Ja ja, Liebling. Ich werde mich nur ein bisschen ausruhen.« Ihre Worte waren nur ein Flüstern.
Nora warf ihrer Mutter einen Handkuss zu und ging den Flur hinunter zu ihrem eigenen Zimmer, wo sie Hut, Mantel und die Schachtel mit dem Exemplar aus der Familie der Scutelleridae nahm – im Volksmund als Schildwanze bekannt –, das sie gestern erhalten hatte. Das Tier sah wirklich wie ein kleiner Schild aus und war beinahe so hübsch wie die Zikaden-Brosche von Lalique, die ihr Vater ihr zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ihre Mutter würde beim Anblick dieses Insekts glatt in Ohnmacht fallen, aber Professor Comstock würde es sicher bewundern.
* * *
Kurz bevor Nora die Universitätsgebäude erreichte, begann es zu regnen – ein plötzlicher, heftiger Frühjahrsschauer, der ihre Haare in wenigen Augenblicken völlig durchnässte. Sie stöhnte auf und rannte den restlichen Weg, bis sie durch die Tür schlüpfen und im Flur Zuflucht suchen konnte.
Drinnen nahm sie den winzigen Hut ab, der sie vor dem Regen überhaupt nicht geschützt hatte, und strich die Locken glatt, die ihren Haarnadeln entwischt waren und jetzt vorwitzig von ihrem Kopf abstanden. Von all den lächerlichen Dingen, die Gott ihr hätte mitgeben können, war diese widerspenstige Mähne der Gipfel! Warum konnte sie nicht glänzende Wellen haben, die so fielen, wie sie sollten?
Aber es half nichts. Nun sah sie eben für den Rest des Tages wie ein Schaf aus.
Das entomologische Labor befand sich am Nordende des zweiten Stocks und Nora bemühte sich, so viele wilde Locken wie möglich wieder festzustecken, während sie die Treppe hinaufstieg. Doch kaum hatte sie das Labor betreten, vergaß sie die Verärgerung über ihre Haare und die unerfreuliche Szene an diesem Morgen, wie ein Schmetterling seine Puppenhülse abschüttelt. Nora brachte ihre Sorgen nie mit hierher. Der Raum mit seinen langen Holztischen, den Bücherregalen und Stapeln von Netzen schien ihr beinahe heilig und sie wollte seinen Frieden nicht stören. Hier war sie zu Hause. Noch mehr als in dem Haus, in dem sie schon ihr ganzes Leben lang wohnte. Das war ihr kein Zuhause mehr, seit ihre Mutter Lucius geheiratet hatte.
Professor Comstock saß auf der vorderen Kante seines Stuhls und spähte in das Okular eines Mikroskops aus Messing. Nora stellte ihre Schachtel auf den Tisch und nahm auf dem Hocker neben ihm Platz. Entweder hatte er sie nicht gehört oder er hatte beschlossen, sie nicht zu beachten, denn er betrachtete weiter seinen Objektträger, schnalzte dabei mit der Zunge und murmelte gelegentlich etwas.
»Professor«, sagte Nora.
Er hob einen Finger.
Nora grinste. Sie wusste gut, wie aufregend Entdeckungen waren. Als die Mikroskope in der Cornell University eingetroffen waren, hatte Nora Stunden damit zugebracht, die Welt zu studieren, die sie bislang nicht hatte sehen können. Sich davon loszureißen und wieder gewöhnlichen Dingen zu widmen, war immer schwierig.
Professor Comstock setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Schauen Sie mal und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Sie zog das Mikroskop näher und beugte sich darüber. Weil sie die leuchtenden Schuppen eines Schmetterlingsflügels oder die borstigen Haare eines Ameisenkiefers erwartet hatte, betrachtete sie verwundert die durchsichtigen Kreise, die an etwas hafteten, das aussah wie ein Schildpattkamm. »Pollen? Wieso interessieren Sie sich auf einmal für Botanik?«
»Nur insoweit, als es die Bienenzucht betrifft. Der Pollen bleibt an den Beinen einer Honigbiene hängen. Ist das nicht faszinierend? Im nächsten Jahr werde ich ein neues Seminar anbieten, und wenn Sie Ihren Master machen, nehmen Sie daran teil.«
»Ich habe bereits mein ganzes Erbe für den Bachelor aufgebraucht, aber Ihre Vorlesungen werde ich gerne weiterhin besuchen.« Nora fand, dass sie es sehr ruhig herausgebracht hatte, ganz ohne Zittern in der Stimme.
Der Professor tätschelte ihre Hand. »Vielleicht wird Lucius ja …« Er zog eine Grimasse.
Sie lachte freudlos. »Wir wissen beide, dass das unwahrscheinlich ist. Vor allem, nachdem Cornell ihn so unschön vor die Tür gesetzt hat.«
Er seufzte. »Das ist schon das zweite Mal, dass die Universität den Abbau einer Stelle durch eine Ankündigung in der Zeitung bekannt gegeben hat. Und dazu noch an Weihnachten! Völlig unprofessionell.« Dann klopfte er mit den Knöcheln auf die Tischplatte, als wollte er sich selbst aufwecken. »Dann zeigen Sie mal, was Sie heute mitgebracht haben.«
Nora schob ihm die Pappschachtel zu und beugte sich voller Vorfreude vor. Als ihr Vater gestorben war, hatte sie gedacht, sie könnte ihre Liebe zu Insekten mit niemandem mehr teilen und würde ihre Begeisterung unterdrücken müssen, wenn sie das Netz einer Kreuzspinne entdeckte oder ein Tausendfüßler auf ihre Hand krabbelte. Aber John Comstock und seine Frau Anna füllten diese Lücke. Sie hatten Nora aufwachsen sehen. Mit ihnen und ihrem Vater war sie oft durch die Schluchten gewandert, hatte ihre kleinen Hände in nasse Felsspalten geschoben und die Insekten herausgeholt, die sich dort versteckten. Das Paar hatte noch keine eigenen Kinder. Nora war nicht sicher, wie sie die letzten sechs Jahre ohne die beiden überstanden hätte.
Professor Comstock öffnete den Deckel und ein erfreutes Grinsen schob seinen Schnurrbart nach oben.
Sie reckte den Hals, um ebenfalls in die Schachtel zu blicken und noch einmal den Augenblick einzufangen, in dem sie das montierte Insekt zum ersten Mal gesehen hatte. »Und? Was sagen Sie dazu?«
Vorsichtig hob er das Insekt heraus und legte es auf den Tisch. »Er ist wunderschön. Woher haben Sie ihn?«
Nora zog ihren Hocker näher und starrte den Käfer an, der mit Messingnadeln auf der Unterlage befestigt war. Die Bezeichnung Schildwanze passte wirklich ausgesprochen gut. Das schillernd grün-rote Scutellum erinnerte an einen metallischen Schild und es schützte den Bauch und die Flügel des Insekts, sodass es aussah, als trüge es eine Rüstung – ein Miniatursoldat, der auf seinen Marschbefehl wartete.
»Eine alte Freundin meines Vaters, Mrs Martín, lebt mit ihrem Mann, einem spanischen Diplomaten, auf den Philippinen. Sie ist Hobbyentomologin und hat meinem Vater oft Insekten geschickt, aber nach seinem Tod hat sie natürlich damit aufgehört. Vor einigen Monaten habe ich ihr geschrieben und ihr erzählt, dass ich immer noch Interesse habe an allen Exemplaren, die sie für eine Bereicherung meiner Sammlung hält, und dies ist das erste, das ich von ihr erhalten habe. Ist es nicht umwerfend?«
Professor Comstock nickte. Er nahm den Käfer und betrachtete den Zwischenraum zwischen dem Tier und der Pappunterlage. Zufrieden legte er beides wieder ab. »Das ist in der Tat eine schöne Ergänzung für Ihre Sammlung. Ich wünschte, wir könnten unter die Flügel schauen …« Er sah sich um, als suche er nach einem Skalpell.
Nora malte sich aus, wie er sich über das kleine Wesen hermachte und Käferteile durch die Luft flogen, während er alles erforschte, was über das Innenleben ihres herrlichen kleinen Soldaten herauszufinden war. Schnell legte sie den Käfer wieder in die Schachtel.
Er hatte ihre Eile bemerkt und lächelte. »Ich verspreche, dass ich ihn ganz lasse.« Gedankenverloren betrachtete er den Käfer. »Wäre es nicht wundervoll, Insekten wie dieses vor Ort in Asien zu untersuchen?« Er wandte sich zu ihr um, eine Augenbraue fragend in die Höhe gezogen. »Ich habe eine wunderbare Neuigkeit, Nora! Ein britischer Kollege ist in Indien und sammelt Schmetterlinge für ein Buch, das vom Königshaus in Auftrag gegeben wurde. Er hatte viel Pech mit Krankheiten – seine Assistenten sterben wie die Fliegen.« Er lächelte ironisch. »Daher hat er mich gefragt, ob ich jemanden empfehlen kann, der ihm helfen könnte. Wie wäre es mit Ihnen?«
Ein kleines Lachen entwich ihrer Kehle, als Nora sich vorstellte, wie sie in Leinen gekleidet mit einem Netz durch den Dschungel schlich und goldene Schmetterlinge, so groß wie ihre Hand, einfing. Sie blinzelte den unrealistischen Traum fort. »Das kann ich unmöglich machen.« Sie war zufrieden damit, in Ithaca zu leben und zu studieren. Und das Journal vor Lucius’ schrecklicher Unternehmensführung zu retten. »Wissen Sie schon, dass Lucius jetzt bezahlte Beiträge in die Zeitschrift meines Vaters aufnimmt?«
Die Miene des Professors wurde nachdenklich. »Ich habe davon gehört. Es ist eine Schande. Es war eine so wundervolle Publikation!«
»Und jetzt werden die Druckzeilen an den Meistbietenden verkauft – an jeden, der auch nur einen Hauch von Wissen hat und gerne veröffentlichen will.« Nora konnte den Ekel nicht aus ihrer Stimme verbannen. Er tropfte von ihren Lippen wie Honig, dick und süß.
Professor Comstock tippte mit dem Finger an sein Kinn. »Vielleicht braucht Lucius nach seiner Entlassung einfach das Geld. Mit dieser Art Verlagspolitik kann man ein ordentliches Einkommen erzielen.«
Nora schüttelte den Kopf. »Das hat er gesagt, aber warum? Mutters Erbe wird noch jahrelang reichen.«
Er senkte den Kopf, doch Nora hatte die Bestürzung in seinen Augen gesehen.
»Was ist?«
»Ach, nichts. Nur Spekulationen und Gerüchte.« Er tätschelte ihre Hand. »Selbst wenn Lucius die Zeitschrift ruiniert, haben Sie andere Talente. Sie wären eine wunderbare Forscherin. Und Indien ruft. Stellen Sie sich nur vor, was für Insekten Sie dort sammeln könnten!«
»Wenn Lucius darauf besteht, dass ich diesen Mr Primrose kennenlerne, von dem er immer spricht, muss ich vielleicht nach Indien gehen, um ihm zu entkommen.« Nora drehte sich auf ihrem Hocker zum Tisch und stützte das Kinn in die Hände. »Nein, vor allem will ich das Journal vor dem Untergang bewahren. Es ist alles, was ich von Vater noch habe. Ich bin nicht bereit, es aufzugeben, und ich glaube, dass er stolz auf mich wäre, wenn es mir gelänge, es am Leben zu erhalten.«
»Er war schon stolz auf Sie, als Sie Ihr erstes Exemplar der Lampyridae fangen konnten und als Sie zum ersten Mal einen Coccinellid montiert haben. Sie haben seine Leidenschaft für die Natur und für Insekten geerbt und das fand er großartig.«
Nora wusste, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. Doch das Interesse eines Kindes an Glühwürmchen und Marienkäfern würde das Vermächtnis ihres Vaters wohl kaum retten. Seine Zeitschrift könnte noch jahrzehntelang existieren und die Menschen würden den Namen und die Arbeit ihres Vaters kennen. Selbst nach seinem Tod könnte er noch Anerkennung finden. Und sie würde alles tun, um das zu ermöglichen.
Ein leises Klopfen ertönte an der Tür und es folgte das Klackern von Absätzen auf dem Holzfußboden. Anna Comstock betrat den Raum mit energischen Schritten und heiterer Miene. Nora stand auf und lächelte ihre Mentorin an, froh darüber, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten zu können als ihr Gedankengewirr. »Anna! Ich dachte, ich würde dich erst bei unserem Treffen am Donnerstag sehen.«
Anna lächelte voller Wärme und leiser Freude. »Zum Glück weigerst du dich ja zuzugeben, dass du die Fähigkeiten deiner Lehrerin längst übertriffst, und willst immer noch Mal- und Zeichenstunden haben.«
Nora lachte. »Dazu wird es nie kommen. Aber zugeben würde ich es auch dann nicht.«
»Natürlich nicht. Nach meinem Holzstich-Unterricht will ich dir gern etwas Neues zeigen. Die Lehrerin muss immer nur einen Schritt weiter sein als die Schüler.« Anna wandte sich an ihren Mann. »Präsident White bittet dich, in sein Büro zu kommen.«
»Natürlich«, erwiderte er. »Nora, wenn Sie etwas Zeit haben, würden Sie bitte einige Apis mellifera für mich montieren? Sie sind bereits präpariert.« Er zeigte auf den langen Tisch in der Mitte des Raumes und Nora sah drei Tötungsgläser und in jedem davon eine flauschige gelb-schwarze Honigbiene.
Sie nickte, und als die beiden gegangen waren, schloss sie die Augen und atmete den modrigen Geruch von Büchern, Lösungsmitteln und Erinnerungen ein. Die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen, wärmten ihr Gesicht und einen Augenblick lang, hier an diesem Ort, den sie liebte, schienen die Dinge nicht so schrecklich wie noch an diesem Morgen.
Wenn sie doch nur den Rest ihres Lebens im Labor verbringen könnte!
Kimberly Duffy
Kimberly Duffy wuchs auf Long Island auf und lebt heute mit ihrer Familie in Ohio. Wenn sie nicht gerade ihre vier Kinder zu Hause unterrichtet, schreibt sie historische Romane, die ihre LeserInnen in andere Zeiten und über Meere entführen. Sie hat für einige Monate in Indien gelebt und war schon immer eine Weltentdeckerin.
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