Aber auch wir selbst können nur unser Bestes geben, wenn wir zu uns selbst stehen und zugleich unsere Schwächen kennen.
Das erklärt die Beliebtheit von Typologien, die unsere Menschenkenntnis schulen. Wie mit allem kann man auch mit Typenlehren auf kluge oder weniger kluge Weise umgehen. Wer sie unklug nutzt, steckt Menschen in Schubladen. Er überschätzt sich und ordnet andere falsch ein. Er drängt anderen Einschätzungen auf, um die diese gar nicht gebeten haben. Und selbst wenn er richtig liegt, tut der unkluge Menschenkenner so, als ob andere auf ihren Typ festgelegt und in jeder Situation von ihren charakterlichen Neigungen bestimmt wären. Dadurch machen sie aus einzigartigen Persönlichkeiten, die wir alle sind, ein trauriges, reduziertes Zerrbild. Wer könnte nicht verstehen, wenn Betroffene dann nicht nur den unklugen Menschenkenner, sondern auch seine Typologie ablehnen?
Deshalb sollten wir von Anfang an klug mit dem Wissen umgehen, das uns eine Charakterkunde schenkt. Wir bleiben zurückhaltend und bescheiden. Wir behalten neben dem Typ, der eine Persönlichkeit in ihren Wahrnehmungen, Gefühlen und Entscheidungen bestimmen mag, immer auch ihre Einzigartigkeit im Blick. Wir rechnen in jedem Moment damit, dass ein Mensch frei ist und auch gegen seine charakterliche Prägung handeln kann.
Dass es überhaupt Typologien gibt, liegt an einer überlebenswichtigen Eigenschaft unseres Gehirns. Es macht nichts mehr und kann nichts besser, als komplexe Muster zu erkennen. In jeder Sekunde verarbeitet unser Gehirn Abertausende von Informationen, die über unsere Sinnesorgane einströmen, und ordnet diese in Muster ein: Lichtwellen, die auf unsere Netzhaut treffen, Töne in unterschiedlichsten Frequenzen, Signale, die zum Beispiel unsere Muskeln und inneren Organe ans Gehirn senden – ein einziges großes Chaos. Wer nicht erlebt, dass sein Gehirn das alles in eine Ordnung bringt, denkt zu Recht, dass er verrückt wird. Diese Notwendigkeit macht uns alle zu Meistern in der komplexen Mustererkennung. Das beginnt früh. Ein vierjähriges Kind hat schon gezeichnete Hasen im Bilderbuch gesehen, zahme Hasen im Streichelzoo und vielleicht auch wilde Hasen am Ortsrand. Schon diese wenigen und sehr unterschiedlichen Eindrücke reichen ihm für die komplexe Mustererkennung. Sieht das Kind nun einen Schneehasen, müsste es ihn eigentlich für einen Eisbären halten, das einzige weiße Tier, das es bisher kennt. Schließlich ist die Farbe die hervorstechendste Eigenschaft. Doch das Gehirn des Kindes merkt, dass die übrigen Merkmale des Schneehasen besser zum Muster »Hase« passen als zum Eisbären. Es erkennt das Muster richtig und erweitert es sogar: »Der Hase ist ja weiß!« – eine unglaubliche Leistung.
Weil zwischenmenschliche Beziehungen für uns so wichtig sind, arbeitet unser Gehirn hier am intensivsten. Von klein auf machen wir uns unsere eigenen Typologien: liebe und böse Kinder; Mädchen und Jungs; Kinder und Erwachsene. Dabei stehen uns nur unsere eigenen Erfahrungen zur Verfügung und das, was uns andere berichten. Psychologische Typologien fassen die Erfahrungen von vielen Menschen zusammen und bringen sie in eine Ordnung, die uns zu einem bestimmten Zweck dient.
Typologien unterscheiden sich darin, was sie genau betrachten und wie viele Kategorien sie dafür brauchen. Wissenschaftlich wohl am besten überprüft ist zum Beispiel eine Typologie, die die frühe Eltern-Kind-Bindung betrachtet. Ursprünglich wurden kleinen Kindern nach einer Verhaltensbeobachtung entweder der Typ »sichere Bindung« zugeordnet oder einer von zwei Typen unsicherer Bindungen. Inzwischen sind noch weitere Kategorien hinzugekommen. Diese Einordnung sagt ziemlich treffsicher voraus, ob Kinder später soziale oder emotionale Probleme bekommen, und sogar, ob sie sich als Erwachsene mit Liebesbeziehungen schwer- oder leichttun. Ein anderes, nicht im strengen Sinne wissenschaftliches Typenmodell ist das sogenannte DISG-Modell. Es unterscheidet zwischen dominanten, initiativen, stetigen und gewissenhaften Menschen. Es kommt mit vier Typen aus, lässt sich schnell erlernen und wird gerne für den beruflichen Bereich eingesetzt. Wer dagegen Menschenkenntnis gewinnen will, ist mit dem Enneagramm gut bedient. Es interessiert sich besonders für die grundlegenden Motive und Schutzmechanismen von Menschen. Mit seinen neun
Kategorien ist es gerade noch übersichtlich, aber auch differenziert genug, um die wichtigsten Charakterstrukturen von Menschen zu erfassen.
Das Enneagramm
Die Ursprünge dieser Charakterkunde liegen im Dunkeln. Lange wurde sie mündlich weitergegeben, Spuren finden sich bei den christlichen Wüstenvätern und im Sufismus, einer mystischen Richtung des Islam. Erst Ende des letzten Jahrhunderts fand das Enneagramm eine intensive schriftliche Verbreitung. Es wurde immer neu formuliert, mit zeitgemäßen Beispielen versehen und für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt. Heute gibt es eine esoterische Enneagramm-Tradition, die in der Typologie einen spirituellen Wegweiser sieht, eine psychologische Tradition, die sich zunächst mit psychoanalytischen, später eher mit Coaching-Ansätzen verbunden hat, und eine christliche Tradition, die sich vor allem durch den amerikanischen Franziskaner-Pater Richard Rohr verbreitet hat. Von christlicher Seite gab es zwei Einwände gegen das Enneagramm. Der eine bestand in der Frage, ob diese Charakterkunde nicht im Kern esoterisch sei und den Anwender in eine Spiritualität hineinziehe, die er vielleicht gar nicht wünsche. Diesen Einwand teile ich nicht. Denn die Ursprünge des Enneagramms haben wenig gemeinsam mit seinem heutigen esoterischen Gebrauch. Im Kern ist das Enneagramm eine kluge Charakterkunde. Aber weil sie so umfassend ist, lädt sie dazu ein, den Menschen auch spirituell zu betrachten. Das kann man auf ganz unterschiedliche Weise tun, auch auf der Basis eines christlichen Menschenbildes. Ein anderer Einwand warnt, dass das Enneagramm zu einer Ersatzreligion werden könne. Seinen Ansatz könne man als einen Weg der Selbsterlösung verstehen. Man könne seinen Lebenssinn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit suchen und für aktuelle Lebensfragen eine Wegweisung im Enneagramm finden, wie es andere zum Beispiel in der Astrologie tun. All das führe von Gott weg zu einer spirituellen Selbstbezogenheit. Diesen Einwand finde ich berechtigt. Denn das Enneagramm ist tatsächlich so faszinierend, dass man darin sein Heil, seinen Sinn und seine Lebensorientierung suchen könnte. Doch wer das versucht, wird bald selbst entdecken, dass er auch eine faszinierende Charakterkunde damit überfordert. Außerdem gilt diese Versuchung ja nicht nur für eine Charakterkunde, sondern für alles, was uns begeistert. Auch eine glückliche Liebesbeziehung, eine einflussreiche berufliche Position oder die Liebe zur Kunst können zu einer Ersatzreligion werden, wenn wir davon alles erhoffen und dafür alles geben. Besser ist es, die Grenzen von alledem zu achten. Dann suchen wir in einer Charakterkunde Menschenkenntnis und bei Gott, was nur bei ihm zu finden ist. Dass eine Charakterkunde aber ganz unterschiedliche Ausgangspunkte für einen Glaubensweg zeigt, wirst du an vielen Stellen dieses Buches sehen. Heute ist die kirchliche Einschätzung des Enneagramms ausgewogen. So würdigt Michael Utsch das Enneagramm in einem Beitrag für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen als Hilfsmittel für die Selbsterkenntnis, für die Seelsorge und sogar für die Weiterentwicklung der persönlichen Gottesbeziehung. Gleichzeitig mahnt er zur Wachsamkeit, wo Enneagramm-Ansätze psychologische und spirituelle Ebenen verwischen und Selbsterlösungsfantasien fördern.
Das Modell des Enneagramms ist so vielfältig, dass man Hunderte von Büchern darüber schreiben könnte. Das ist inzwischen auch passiert. Die Komplexität entsteht dadurch, dass das Enneagramm nicht nur neun Typen beschreibt, sondern deren vielfältige Beziehungen untereinander. Auf diese Weise kommt es auch zu dem ominösen Symbol, das sich auf dem Cover dieses und auch vieler anderer Enneagramm-Bücher findet. Neun Punkte, die natürlich für die neun Typen stehen, werden durch Linien miteinander verbunden. Das Gebilde, das so entsteht, wird von einem Kreis umschlossen: Alle Spielarten des Menschseins ergeben zusammen ein Ganzes. Eine Bedeutung hat auch, welche Punkte untereinander verbunden sind. Zum Beispiel steht der Punkt ganz oben in der Enneagramm-Figur für entspannte, selbstzufriedene Menschen. Dieser Punkt verbindet sich durch eine Linie mit einem Punkt, der auf einer Uhr zwischen 4:00 Uhr und 5:00 Uhr liegen würde. Dieser Punkt steht für tatkräftige, imagebewusste Charaktere. Das Enneagramm-Modell sagt nun, dass entspannte, selbstzufriedene Menschen bei den Tatkräftigen einen »Trostpunkt« finden und es ihnen guttut, wenn sie selbst Tatkraft und ein Bewusstsein ihrer Wirkung entwickeln. Umgekehrt könne das Phlegma, das selbstzufriedene Menschen haben, zu einem »Stresspunkt« für die tatkräftigen, auf Wirkung bedachten Charaktere werden. In ihren schlechten, ausgebrannten Momenten allerdings – sagt das Enneagramm weiter – nähmen die sonst tatkräftigen Persönlichkeiten die negativen Eigenschaften selbstzufriedener Persönlichkeiten an und seien zu nichts mehr zu motivieren.
Vielleicht denkst du nun: »Oh weh! Das wird kompliziert.« Dann hast du damit recht. Man kann sogar noch betrachten, wie jeder Typ mit den jeweils acht anderen Typen zurechtkommt, und außerdem gibt es für jeden Typen auch verschiedene Untertypen. Doch ich möchte dich nicht zu einem Enneagramm-Experten machen und gehe nicht auf diese Zusammenhänge ein. Wenn du das schade findest, empfehle ich dir den umfangreichen Klassiker »Das Enneagramm« von Richard Rohr und Andreas Ebert. (Oh, du gehörst schon zu den Enneagramm-Kennern und wolltest durch dieses Buch deine Expertise vertiefen? Dann beginne mit dem dritten Teil. Für die ersten beiden brauchst du dann die Geduld eines Goldschürfers: Lass den Sand von Bekanntem durch dein Sieb rieseln, bis du Körnchen findest, die für dich wertvoll sind.) Das griechische Fremdwort Enneagramm hat übrigens keine tiefere Bedeutung. Es bedeutet etwa »neunmal geschrieben«, wie bei Zwieback – zweimal gebacken – stutzt man kurz und gewöhnt sich dann an die Bezeichnung.
Einfach du selbst sein und anderen damit dienen
Wer das Enneagramm nutzt, muss aus dessen Möglichkeiten auswählen. Ich tue es mit der Zielsetzung des Untertitels: Einfach du selbst sein und anderen damit dienen. Ich stelle dir die neun Persönlichkeiten und Lebensstile der Enneagramm-Typen vor. Ich beschreibe, was sie antreibt und wie ihr »Typ« sie bis in ihre Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Entscheidungen bestimmt. Das dient der Selbsterkenntnis und weil ich die Typen auf eine wertschätzende Weise beschreibe, führt es auch zur Selbstannahme. Vielleicht kommt dir die Beschreibung im ersten Teil des Buches zu positiv vor, schließlich gibt es auch schlimme Vertreter von jedem Charaktertyp. Aber auch eine wertschätzende Beschreibung erlaubt dir, die Schwachpunkte und Gefährdungen eines Charakters zu erkennen. Dabei legt dich Selbsterkenntnis nicht auf deinen Charakter fest, im Gegenteil, sie macht dich frei, auch gegen deine charakterlichen Prägungen zu handeln, wenn das nötig ist. Gleichzeitig befreit sie dich aber von dem Druck, so sein zu müssen, wie es andere sind. Wir alle sehen bei anderen Eigenschaften, die wir nicht haben und um die wir andere beneiden. Doch es ist ja keine Lösung, anders sein zu wollen, als man ist. Besser entfalten wir das Beste, was in uns liegt, und freuen uns, dass andere uns ergänzen.
Dieses Buch schreibe ich zugleich für Menschen, die mit mir eine Überzeugung teilen: Die Freude an unserer eigenen Person wird umso größer, je mehr wir für andere da sind. Unsere Besonderheiten und Fähigkeiten finden ihre Erfüllung darin, dass sie andere beschenken. Diese Überzeugung wurzelt in meinem christlichen Glauben und den Erfahrungen, die ich in der Begleitung kirchlich geprägter Menschen mache. Vielleicht hast du dir dieses Buch gekauft, weil es in einem christlichen Verlag erschienen ist oder du mich als christlichen Autor kennst. Falls nicht, wird dir vielleicht mehr christliche Spiritualität begegnen, als du erwartet hast. Doch dieses Buch geht nur wenig darüber hinaus, was in unserer Gesellschaft Konsens ist. Die unantastbare Menschenwürde hat ihren Weg in unser Grundgesetz gefunden, weil in Ländern mit christlichen Wurzeln der Mensch als von Gott geliebt und sogar als »Ebenbild« seines Schöpfers angesehen wurde. Das geht auch dem nicht verloren, der in den schlimmsten Lebensumständen leben muss. Keiner ist außerdem allein auf der Welt. Unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten verpflichten uns gegenüber Menschen, die uns brauchen. Die Nächstenliebe findet auch bei Menschen Zustimmung, die mit der Kirche wenig anfangen können. Schließlich dürfte eine dritte Glaubensüberzeugung niemandem unangenehm werden: Wo der Mensch Gott spielt, da verliert er seine Menschlichkeit. Das letzte Urteil über einen anderen überlassen wir lieber Gott. Es steht keinem Menschen zu, einen anderen nach seinem Bilde zu formen oder über ihn zu verfügen. Natürlich erschöpft sich der christliche Glaube nicht in diesen Werten. Aber sie sind ein guter Ausgangspunkt, um sich selbst zu finden und für andere da zu sein. Und die, die im christlichen Sinne mit Gott unterwegs sind, wird das Enneagramm auch im Glauben weiterführen.
Inzwischen gibt es viele Menschen mit Grundkenntnissen im Enneagramm. Daher stehen die Chancen gut, dass du deine Aha-Erlebnisse, Gedanken und Fragen mit anderen teilen kannst. Wenn du möchtest, kannst du dich von meinem Newsletter begleiten lassen, der etwa alle sechs Wochen Impulse zu Menschenkenntnis, christlicher Spiritualität und anderen Themen gibt: www.derherzenskompass.de/newsletter. Vielleicht spürst du beim Lesen dieses Buches eine Sehnsucht nach einer tieferen Veränderung deiner Persönlichkeit oder auch nach einer tieferen Veränderung der Beziehung zu Menschen, die dir etwas bedeuten. Hier kommt das Medium Buch an seine Grenzen. Ein vertiefendes Angebot findest du dann in folgendem Videokurs: www.derherzenskompass.de/ennagramm. Aber erst mal wünsche ich dir Freude an dir und den Möglichkeiten, die in deiner Person liegen. Sei gespannt auf die Erfahrung, wie du so, wie du bist, am besten für die Menschen da sein kannst, die dir etwas bedeuten und die dich brauchen.