Glücklich war er bei seinem Einzug, und seine Mutter half ihm, alles schön einzurichten. Aber heute bin ich beim Anblick der Räumlichkeiten entsetzt, schlimmer als bei Hempels unterm Sofa. Jens hatte vor ein paar Tagen mit seinen Kumpels eine Party gefeiert, bei der der Alkohol in großen Mengen geflossen war. Mehr als 40 leere Flaschen standen überall herum. Die jungen Männer müssen wie die Vandalen gehaust haben. Am schlimmsten sieht unsere schöne Haustür aus. Da muss einer mit Gewalt dagegengetreten haben. Sie ist sehr stark beschädigt. Je näher ich mir die Wohnung anschaue, desto mehr Schäden entdecke ich. Da liegen zerborstene Scherben rund um das schöne Glastischchen und einige total zerstörte Stühle. In solchen Situationen merke ich, wie viel Wut und Ärger in mir stecken. Bei diesem Chaos könnte ich explodieren. Außerdem frage ich mich zu Recht: Wer bezahlt mir nun den Schaden? Dies ist unser Haus und es sind unsere Möbel.
Ich hole den Schreinermeister und lasse mir einen Kostenvoranschlag machen. Über den Betrag bin ich entsetzt. Mehr als 600 Euro werde ich berappen müssen, denn es ist nicht nur das Glas des Fensters zerschlagen, sondern auch der Rahmen ist beschädigt. Dabei wird mir bewusst, dass ich von Jens keinen einzigen Cent bekommen werde. Seine Taschen sind leer und schon öfter haben wir ihm finanziell unter die Arme greifen müssen, wenn in seinem Portemonnaie nicht ein Euro mehr steckte. Der angerichtete Schaden ist wirklich sehr groß, und mir ist bange vor der hohen Rechnung. Nein, das darf ich mir nicht gefallen lassen. Ich werde Jens fristlos kündigen.
Als mich wenig später unser Sohn besucht, bespreche ich das Dilemma mit Johannes. Ich bitte ihn, mir ein Kündigungsschreiben aufzusetzen, denn er kennt sich in solchen amtlichen Angelegenheiten besser aus als ich. Aber Johannes sitzt mir schweigsam gegenüber. Erst nach einer Weile fragt er mich: „Mutti, was wird denn aus Jens, wenn du ihn auf die Straße setzt? Würde er eine andere Wohnung finden, oder entlässt du ihn in die Obdachlosigkeit? Draußen herrschen in der Nacht noch Minusgrade. Die Kälte könnte ihn das Leben kosten. Jens wäre nicht der Erste, der auf einer Parkbank oder unter einer Brücke erfroren ist.“
Johannes hat recht. Zwei Stunden bewege ich die Frage: Wie gehe ich mit Jens um? Ich denke über dieses Problem nach und dann stehe ich mit meinen Gedanken vor Gott und bitte ihn um seinen Ratschlag. In der Konkordanz finde ich viele Antworten, die uns der Vater im Himmel zu diesen Problemen in seinem Wort gibt. Eine ganze Reihe von Bibelstellen sind hier angegeben über die Frage, was Gott über Fremdlinge und Arme sagt. Am meisten beeindruckt mich ein Vers im 5. Buch Mose. Dort heißt es in Kapitel 10,18: „Und habt die Fremdlinge lieb, denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.“
Nach Ägypten hatte es uns auf unserer Flucht 1945 nicht verschlagen, aber nach Breitenbach bei Bebra, in Hessen. Dort hatten uns Christen eine Küche und eine Kammer für unsere große Familie zur Verfügung gestellt. Sie waren in ihrem Haus sehr eng zusammengerückt, damit wir im Winter ein Dach über dem Kopf hatten. Ein großes Opfer hatte Gott ihnen abgefordert und Familie Becker hatte sich dem Auftrag ihres Vaters im Himmel nicht widersetzt. Sie hatten unsere große Familie in ihrem Haus aufgenommen, obwohl wir für sie sicherlich eine große Belastung waren.
Durch Opa Becker habe ich dann später zu Jesus gefunden, denn in seinem Wohnstübchen fand jede Woche eine Bibelstunde statt. Dieser wunderbare alte Christ hat mich mit jungen Leuten aus dem Bibelkreis zusammengeführt, und ich durfte eine klare Hinwendung zu Jesus erleben.
Viele Gedanken schwirren nun in meinem Kopf herum und die Frage meines Sohnes lässt mich nicht zur Ruhe kommen, bis ich bereit bin, Jesus mein Jawort zu geben. Ich werde Jens nicht vor die Tür setzen, sondern ihn dazu bewegen, dass er eine Therapie macht, damit er eine Befreiung vom Alkohol erfährt und auch zu einem neuen Leben mit Gott findet. Auf meinem Schreibtisch liegt mein Gebetszettel und ich schreibe seinen Namen auf die lange Liste. Das Geld für die Renovierungskosten werde ich von meinem Sparbuch abheben. Der Ärger und die Wut haben jetzt keinen Platz mehr in meinem Herzen. Gottes Friede ist mir nun gewiss. Ich bin wieder die fröhliche Lotte und mir geht es gut.
14 Tage später werde ich aus meinem Mittagsschlaf gerissen. Jens und zwei andere Herren betreten unser Wohnzimmer. Der ältere von ihnen legt mir gleich zwei Dauerwürstchen auf den Schoß. Ich bin sehr erstaunt und bitte die drei, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
„Frau Bormuth, wir haben ein Problem und möchten dies mit Ihnen besprechen. Jens hat uns von dem Schaden berichtet, den er bei Ihnen angerichtet hat. Ich bin der Schwager von Jens und neben ihm sitzt sein Bruder. Jens ist verzweifelt, dass er Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereitet hat. Wir möchten Sie bitten, dass Sie ihn weiter in seiner Wohnung lassen und ihm nicht kündigen. Er hat uns versprochen, dass er bei Ihnen keine Drogenparty mehr feiern wird; und auch kein Fest mit seinen Alkoholkumpanen.Wir haben uns in unserer Familie geeinigt, dass wir Ihnen gemeinsam den angerichteten Schaden bezahlen werden. Werfen Sie Jens nicht aus seiner schönen Wohnung. Was sollte sonst aus ihm werden? Wir haben schon mit der Klinik Kontakt aufgenommen. Er soll einen Alkoholentzug machen. Ein halbes Jahr wird er dort als Patient bleiben. Es fällt uns natürlich nicht so leicht, diese Zahlung zu übernehmen, aber Jens ist doch unser Bruder. Bitte, Frau Bormuth, kündigen Sie ihm nicht. Sagen Sie uns, was die Reparaturen kosten werden.“
Ich nenne die Schadenssumme von 637,40 Euro und bin auch mit einer Ratenzahlung einverstanden. Die erste Rate soll ich noch in dieser Woche erhalten. Das wird mir zugesagt. Bevor sich unser Besuch verabschiedet, kommt Jens auf mich zu und bittet mich um Verzeihung. Fest drücke ich ihm die Hand. So ist Versöhnung, so muss der wahre Friede sein.
Es dauert nicht lange, bis der komplette Rechnungsbetrag von dieser Familie eingeht. Sie ist sogar bereit, seine Wohnung zu entrümpeln und die Zweizimmerwohnung zu streichen. Sogar die Haustür und andere Schäden werden von ihr repariert. Ich kenne sein neues Zuhause kaum wieder. Sogar neue Möbel werden hereingetragen. So kann eine Familie zusammenstehen. Das ist für mich ein Wunder.