Nachdem ihr Mann Stockton bei einem Autounfall ums Leben kam, versucht Nan sich und ihren drei Mädchen ein neues Leben aufzubauen. Dabei erhält sie ungefragt Unterstützung von Stocktons Kollege Travis. Eines Tages stößt Nan auf mysteriöse Notizen ihres Mannes, der sich als erfolgreicher Anwalt gegen Menschenhandel einsetzte. Zudem macht sie die Bekanntschaft der jungen CeeCee, die ihren Mann kurz vor seinem Tod um Hilfe gebeten hatte. CeeCees Leben und das Schicksal ihrer Vorfahrin Clara scheinen auf geheimnisvolle Weise mit Stocktons Familiengeschichte verbunden zu sein. In Nan wächst nach und nach der Verdacht, dass der Tod ihres Mannes kein bloßes Unglück war.
Doch auf welche Weise sind Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft? Je mehr Nan versucht, das Rätsel zu entwirren, desto mehr geraten sie und ihre Kinder in Gefahr.
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Kapitel 1
Mai, sechs Wochen zuvor
„Weiß jemand, wo Sylvia heute ist?“, fragte ich und schaute meine Achtklässler an. Dreiundzwanzig Augenpaare blickten zurück. Größtenteils dunkle Augen, einige mit asiatischen Zügen, ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten, Kinder aus der ganzen Welt, deren Familien sich im Süden von Atlanta angesiedelt hatten.
Schließlich antwortete Laetitia, eine dürre Dreizehnjährige: „Sie ist am Mittwochabend von zu Hause weggelaufen, Mrs Fitten.“
Ich atmete scharf ein und hörte die Stimme meines Anwaltsehemanns sagen: „Nan, die Statistiken sagen, dass Kinder, die von zu Hause weglaufen, in weniger als 48 Stunden aufgegriffen und hier in Atlanta zur Prostitution gezwungen werden.“
Als wir nach Atlanta gezogen waren, hatte sich Stockton anderen Anwälten in seiner Kanzlei angeschlossen, die sich mit mehreren gemeinnützigen Organisationen und der „International Justice Mission“ bemühten, den Menschenhandel in Atlanta zu bekämpfen, der erschreckende Ausmaße angenommen hatte. Vor meinem geistigen Auge sah ich erneut den heiligen Zorn in Stocktons warmen, braunen Augen, als er mir seinen aktuellen Fall erklärt hatte. Ich zwang mich, in die Gegenwart zurückzukehren, und legte eine Hand auf mein Pult, um mich abzustützen.
„Es tut mir sehr leid, das zu hören“, sagte ich als Antwort auf die ernsten Blicke meiner Schüler.
„Wirklich sehr leid.“ Ich räusperte mich und trat ans Whiteboard. „Heute analysieren wir Sätze.“
Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum.
Ich drehte mich um und zwang mich zu einem Lächeln. „Das habe ich euch doch gestern angekündigt.“ Während ich das sagte, merkte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben und das Klassenzimmer begann, sich um mich herum zu drehen. Das Letzte, an das ich mich erinnere, war die Stimme eines Schülers, Eddie, glaube ich, der laut rief: „Mrs Fitten! Ist alles in Ordnung, Mrs Fitten? Jemand muss Mrs Avery holen! Schnell!“
„Nan? Nan!“ Ich versuchte, die Augen aufzuschlagen, und stellte fest, dass ich im Lehrerzimmer der Druid Hills Schule, an der ich Englisch unterrichtete, auf dem Sofa lag. Patsy Avery, die Rektorin, stand über mir. Ihr Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten.
Ich schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihr hinauf. „Entschuldigung. Ich weiß nicht, was passiert ist.“
Patsy reichte mir ein Glas Wasser. „Trink bitte einen Schluck“, forderte sie mich auf, während ich versuchte, mich aufzusetzen. Mir wurde sofort wieder schwindelig. Deshalb legte ich mich zurück.
„Wer ist bei den Kindern?“, fragte ich mühsam.
„Mach dir darüber keine Sorgen.“ Sie nahm ein kühles Tuch und legte es auf meine Stirn. „Die Schüler haben gesagt, dass du dich aufgeregt hast, als du von Sylvia Gomez hörtest“, flüsterte sie.
„Tut mir leid, Patsy. Ich weiß nicht, warum mich das so erschüttert hat.“
Patsy sah sehr beunruhigt aus. „Nan, du weißt, dass wir froh sind, dich wiederzuhaben. Und du leistest sehr gute Arbeit. Die Kinder lieben dich. Aber vielleicht ist es doch noch zu früh. Vielleicht brauchst du noch ein wenig mehr Zeit.“
Schließlich gelang es mir, mich aufzusetzen, obwohl ich das Tuch immer noch an meine Stirn drückte. Meine Schläfen hämmerten. „Ich weiß, was du denkst, Patsy. Was alle denken. Aber das Schuljahr ist fast zu Ende. Ich möchte meine Klasse bis zum Schuljahresende begleiten. Die Kinder hatten in den letzten acht Monaten genug Unruhe.“
Patsy sah nicht überzeugt aus. Sie war Ende vierzig, kaum zehn Jahre älter als ich, strahlte aber mit ihren kurzen, grau melierten Haaren und ihrer fülligen Figur etwas Großmütterliches aus. „Du bist jetzt zum dritten Mal vor den Kindern in Ohnmacht gefallen. Das wirkt sich nicht gerade beruhigend auf die Schüler aus. Und du hast noch mehr abgenommen, Nan.“ Sie seufzte. „Ich mache mir Sorgen um dich. Natürlich erwarte ich nach allem, was passiert ist, nicht, dass du plötzlich wieder die alte, unbeschwerte Nan bist. Aber vielleicht setzt du dich zu sehr unter Druck, wenn du jetzt schon wieder unterrichtest.“
Ich kannte Patsy seit zehn Monaten und hatte großen Respekt vor meiner Vorgesetzten. Ich vertraute ihr. Deshalb atmete ich tief ein und murmelte: „Ich komme mir vor, als wäre ich ein vollkommen anderer Mensch, Patsy. Alles wirft mich aus dem Gleichgewicht. Ich hatte früher nie Angst. Jetzt jagt mir vieles, das mich früher nicht beunruhigt hätte, große Angst ein.“ Wahrscheinlich besiegelte ich damit gerade mein Schicksal, aber es tat gut, es auszusprechen. „Vielleicht hast du ja recht. Ich will den Kindern auf gar keinen Fall Angst einjagen. Die meisten von ihnen haben genug eigene Probleme.“ Ich schloss die Augen und flüsterte: „Aber ich bin doch so gerne bei meinen Schülern. Daran hat sich nichts geändert. Wenn ich unterrichte, habe ich das Gefühl, dass das Leben weniger verrückt ist. Ich glaube wirklich, dass ich bis zum Schuljahresende durchhalten kann. Es sind ja nur noch drei Wochen.“
Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig. Schließlich nickte sie halbherzig. Dankbar sagte ich: „Lass mich in meine Klasse zurückgehen. Ich werde es den Kindern erklären.“
Patsy tätschelte meine Schulter. „Oh, Nan. Du weißt, dass du nichts erklären musst. Die Kinder verstehen dich. Sie verstehen das alle sehr gut.“
In den ersten zwei Monaten nach Stocktons Tod hatte ich mich wie gelähmt gefühlt, als hätte ich selbst diesen schrecklichen Unfall erlitten und wäre jetzt an einen Rollstuhl gefesselt. Dann gab es allmählich wieder Tage, an denen ich wieder „funktionierte“, an denen ich tatsächlich aufstehen und meinen Töchtern helfen konnte, sich anzuziehen. Tage, an denen ich durch den Supermarkt gehen konnte, ohne vor dem Regal mit dem Lieblingsmüsli meines Mannes in Tränen auszubrechen.
Also ging ich wieder arbeiten. Nur in Teilzeit. Aber doch so viel, dass ich gezwungen war, aus dem Haus zu gehen und mich in die Welt mit normalen Menschen zu begeben. Ich hasste es, von einer neuen Normalität zu sprechen. Ich wollte keine neue Normalität. Ich wollte mein altes Leben zurück. Wenn ich unterrichtete, dann überbrückte das die Kluft zwischen dem, was früher gewesen war, und meiner gegenwärtigen Realität.
Aber ich konnte die Angst nicht loswerden.
Früher war ich bei schlechten Nachrichten nie in Ohnmacht gefallen. Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre ich in meinen Minivan gesprungen, zu Sylvia Gomez’ Eltern gefahren und hätte verlangt, dass mir ihre Mutter, auch wenn sie unter Drogen stand und rot unterlaufene Augen hatte, erzählte, was passiert war. Jetzt löste dieser Gedanke bei mir Angst und Erschöpfung aus. Ich eilte an diesem Freitagnachmittag zu meinem Minivan, schlug die Tür hinter mir zu, verriegelte sie und fuhr zu der Grundschule, in der ich meine älteste Tochter, Middie, abholen würde. Danach würde ich Kenzie aus dem Kindergarten abholen. Anschließend würden wir nach Hause fahren, wo ich mein Krabbelkind, Weezie, mit meiner Babysitterin anträfe, und wir wären alle in Sicherheit. Sicherheit, das war jetzt mein neues Ziel.
Der Grabstein war aufgerichtet. Ich hatte den Mädchen versprochen, dass wir das Grab ihres Papas besuchen würden, wenn der Stein stand. Also nahm ich am Sonntag nach dem Gottesdienst meinen ganzen Mut zusammen und wir fuhren zum Oakland-Friedhof. Meine Eltern waren mitgekommen, wofür ich sehr dankbar war. Wir gingen Hand in Hand an unzähligen Grabsteinen vorbei, von denen einige hundert Jahre alt waren, zum nagelneuen Grabstein meines Mannes. Ich hielt die Hand meiner zweijährigen Tochter so fest, dass sie zu mir hinaufschaute und sagte: „Au, Mama!“
Als wir zu seinem Grab kamen, knieten meine zwei älteren Töchter nieder und legten Wiesenblumen vor dem Granitstein nieder, auf dem stand: Andrew Stockton Fitten, geliebter Sohn, Ehemann, Vater und Anwalt der Armen. Jesaja 58,9-10. Dann setzten sie sich in ihren Kleinmädchen-Kleidern auf den Boden. Ich setzte mich neben sie und zog die zweijährige Weezie auf meinen Schoß. Papa sprach ein kurzes Gebet und las dann einen Psalm. Danach erzählte die sechsjährige Middie ihrem Vater, was sie in der Kindergruppe in der Gemeinde gelernt hatten. „Goliat war wahrscheinlich nur drei Meter groß. Also war er gar kein richtiger Riese.“ Meine Mutter musste grinsen.
Kenzie, vier Jahre alt, flüsterte mit ihrer leisen Stimme: „Ich vermisse dich, Papa. Ich vermisse dich so sehr.“
Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich kein Wort herausbrachte. Deshalb hielt ich einfach Kenzies kleine Hand, während Weezie die gepflückten Blumen aus meiner anderen Hand nahm und sie auf Stocktons Grab legte.
Einige schweigende Minuten, die gelegentlich durch ein Schluchzen unterbrochen wurden, vergingen. Dann berührte mich Mama an der Schulter und flüsterte: „Wir gehen mit den Mädchen zu den anderen Gräbern und lassen dich eine Weile allein.“ Sie löste Weezies Hand aus meiner und schwang sie auf ihre Hüfte. Papa streckte die Hände aus und sagte: „Wer nimmt meine Hände und führt mich?“ Middie und Kenzie kamen seiner Aufforderung schnell nach, doch vorher drückte mir jede noch einen nassen Kuss auf die Wange und sagte: „Wir sind bald wieder da, Mama.“
„Hey, Schatz“, flüsterte ich Stockton mit Tränen in den Augen zu. „Ich vermisse dich so sehr. Ich dachte, es würde ein wenig leichter werden, wenn einige Monate vergangen sind. Nicht unbedingt leicht, aber einfach nicht mehr so furchtbar grausam. Aber so ist es nicht. Es tut richtig körperlich weh.“
Ich legte einen kleinen Kieselstein vor den Grabstein. Stockton und ich waren gerne miteinander gewandert und hatten uns angewöhnt, kleine Steine auf den verschiedenen Wanderwegen zu sammeln und sie in einem Ordner aufzubewahren, in dem wir auch den Ort und das Datum der Wanderung festhielten. Für uns war das wie für andere Menschen das Münzensammeln und Katalogisieren. Bei unserer letzten Familienwanderung hatten wir den Stone Mountain zur Hälfte erklommen, als Kenzie, die den für diesen Tag bereits gesammelten Stein umklammerte, theatralisch verkündet hatte: „Ich kann keinen Schritt mehr gehen!“ Also hatte Stockton sie auf seine Arme geschwungen und sie mit „meine arme, kleine Prinzessin“ geneckt. Das hatte Middie, die mit stoischer Miene neben mir her marschiert war, eifersüchtig gemacht. Deshalb hatte Stockton auch sie in die Höhe geschwungen und Kenzie auf der einen und Middie auf der anderen Hüfte getragen, während Weezie in der Rückentrage auf seinem Rücken schlief.
Ich hatte gekichert, mit dem Handy ein Foto gemacht und es mit dem Kommentar „Super-Papa“ an Stocktons und meine Eltern geschickt.
Super-Papa.
Sie vermissen dich so sehr. Ich vermisse dich so sehr.
Jetzt betrachtete ich dieses Foto, dann machte ich mehrere Bilder vom Grabstein und schickte sie erneut durch den Cyberspace an George und Louisa, Stocktons Eltern. „Eines Tages werden sie hierherkommen, Stockton“, flüsterte ich. „Aber im Moment ist es für sie wahrscheinlich einfach furchtbar schwer.“
Ich schloss die Augen und erinnerte mich daran, wie George und Louisa ausgesehen hatten, als ich sie vor einem Monat mit den Mädchen besucht hatte. Zwei blasse Gestalten, kreidebleich und mit hohlen Augen, hatten uns begrüßt. Nicht länger stolze Aristokraten, sondern gebrochene, trauernde Eltern.
Ich kniete neben dem Grabstein nieder und sagte laut: „Stockton, ich habe beschlossen, dass ich an jedem neuen Ort, an den ich allein oder mit den Mädchen gehe, einen Stein oder Kiesel oder etwas anderes suchen und es dir mitbringen werde.“
Ich berührte den Kieselstein. „Der hier ist vom Gelände um das Wren’s Nest, Stockton. Ich war letzte Woche dort. Aber ich konnte mich nicht überwinden, in dieses wunderschöne Hausmuseum hineinzugehen. Es tut mir so leid, dass ich dich und die Mädchen nie zu den Kinderbuchlesungen dort begleitet habe.“ Ich schluckte schwer.
Der Granitgrabstein sah zu sauber, zu professionell, zu hart und zu unpersönlich für all die Gefühle aus, die in mir tobten. Ich war versucht, mit einem Stein über die Oberfläche zu kratzen, um deutlich zu machen, dass es überhaupt nicht sauber oder professionell war, dass Stockton hier begraben lag. Doch stattdessen schüttete ich meinem Mann mein Herz aus und fühlte mich ihm so nahe, als kuschelten wir uns in unserem Bett aneinander. Mir war nicht einmal bewusst, wie sehr ich weinte, bis ich auf meine Jeans hinabschaute und den dunklen Fleck an der Stelle sah, auf die meine vielen Tränen gefallen waren. Meine Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Schließlich kam Mama, berührte mich wieder an der Schulter und flüsterte: „Die Mädchen bekommen Hunger.“ Ich stand auf, wischte mit den Händen über mein Gesicht und umarmte Mama ganz fest.
„Wie hast du die ersten Monate überlebt, nachdem Oma Sheila gestorben war?“ Ich wusste ihre Antwort, ich kannte die bewegende Lebensgeschichte meiner Mutter, aber ich musste sie an diesem sonnigen Frühlingstag noch einmal hören, der mir so furchtbar dunkel erschien.
„Ich weinte und malte und ließ mich in der Schule auf diesen dummen Raven Dare ein, und ich hatte Rachel und dann so viele andere …“ Mama war immer sehr aufgewühlt, wenn sie von dem Jahr erzählte, nachdem ihre Mutter bei einem Flugzeugabsturz gestorben war. „Weißt du, Liebes, das war das Jahr, in dem ich entdeckte, was wahrer Glaube ist.“
Wahrer Glaube. Ich verzog das Gesicht und war dankbar, dass Mama nicht genauer auf dieses Thema einging.
Wir kehrten zu der Stelle zurück, an der Papa mit den Mädchen wartete. „Aber ich war ein Teenager und du bist eine junge Mutter mit drei kleinen Mädchen. Das ist ein Unterschied, Nan. Für dich ist es in vielerlei Hinsicht viel schwerer. Ich würde dir so gerne etwas von dem Schmerz abnehmen, aber das kann ich leider nicht.“
Sie zog mich an sich. Dann kam Papa auf meine andere Seite und so gingen wir zum Ausgang des Oakland-Friedhofs, während die Bäume ihre zarten grünen Blätter im Wind wiegten und die Hinterbliebenen leise mit lieben Menschen flüsterten, die sie verloren hatten, und sich meine kleinen Mädchen fest an uns klammerten.
Es war spät an diesem Sonntagabend und die Mädchen lagen schon eine Weile im Bett, als ich Stocktons Laptop herausholte. In der letzten Woche hatte ich angefangen, die Seiten, die Stockton markiert hatte, durchzusehen. Vor allem wollte ich sichergehen, dass keine Rechnungen offenstanden und keine Konten überzogen waren. Fünf Monate, zwei Wochen, sechs Tage und zwölf Stunden waren vergangen, seit Stocktons Auto an jenem verregneten Novemberabend von der Straße abgekommen war. In den ersten Monaten nach seinem Tod war ich wie benommen und betäubt gewesen, mit einem Schleier vor den Augen und einer Lethargie, die sich so schwer auf mich gelegt hatte, dass ich mir mehr wie eine alte Frau als wie eine junge Mutter vorgekommen war. Aber als die Monate vergingen, hatte ich mich allmählich auf die „Wiederaufbauphase“ zubewegt, wie es meine kleine Schwester, Ellie, bezeichnete. Ich begriff, dass ich Stocktons Sachen durchsehen musste, und fing Schritt für Schritt damit an.
An diesem Abend hatte ich mir vorgenommen, mich mit Ahnenforschung zu befassen. Stockton hatte viele Stunden in dieses Thema investiert. Er war Mitglied zahlreicher Ahnenforschungsgruppen auf Facebook und hatte bei mehreren entsprechenden Internetseiten Lesezeichen gesetzt. Er hatte auch einen Ordner mit dem Titel „Ahnenforschung“ in seinen Dokumenten, in dem er viele Dateien mit Informationen über seine Familie, die Fittens, gesammelt hatte. Die Fittens von Alabama, die Fittens von Georgia, die Fittens von hier und die Fittens von dort. Ich hatte mir zwölf Jahre lang viel über die Fittens und ihren angeblichen Ruhm angehört. Stockton hatte seinen Familienstammbaum bis zu Karl dem Großen 800 n. Chr. zurückverfolgt.
Ich blinzelte meine Tränen zurück, als ich mich auf Stocktons
Facebook-Account anmeldete. Ich hätte alles gegeben, wenn ich hier neben ihm sitzen könnte, während er in die Welt der Fittens eintauchte und ich Fotos sortierte und ein Scrapbook gestaltete. Damit hatten wir die seltenen Abende verbracht, wenn unsere Mädchen tatsächlich einmal alle schliefen, wir aber zu müde für Zärtlichkeiten waren und andererseits noch zu wach, um selbst ins Bett zu gehen. Ahnenforschung und Scrapbooking.
Meine Kehle war wieder wie zugeschnürt und ich stöhnte zum tausendsten Mal. „Komm zurück. Ach, bitte, komm zurück, Stockton. Ich würde alles geben, wenn ich dich wieder bei mir haben könnte.“
Ich klickte eine Facebook-Seite mit dem Titel „Ahnenforschung in den Südstaaten“ an. Der Slogan in der Überschrift entlockte mir ein kurzes Lächeln. „Ich suche meine Vorfahren, damit ich weiß, wem ich die Schuld geben kann.“
Stockton war einer von über 10.000 Mitgliedern dieser Gruppe, und ich war vor ein paar Tagen beigetreten. Jetzt tippte ich „Fitten“ in die Suchzeile. Im nächsten Moment hatte ich mehrere Seiten mit Posts und Kommentaren zwischen Leuten, die irgendwelche Vorfahren namens Fitten suchten. Einige dieser Nachrichten waren mehrere Jahre alt, aber als ich die Seite nach unten scrollte, tauchte ein neuerer Eintrag auf dem Bildschirm auf, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ich suche Informationen über die Towner-Fitten-Carnes-Plantage in Wilkes County, Georgia. Das war alles. Sonst nichts. Aber es weckte eine Erinnerung in mir:
Stockton, braun gebrannt mit seinen dunklen Augen und Grübchen, legte die Hände auf meine Schultern, dann ließ er sie über meinen hervorstehenden Bauch wandern, in dem unser erstes Kind heranwuchs. „Du hast da drinnen einen weiteren großartigen Fitten“, hatte er gesagt.
„Fitten dies, Fitten das!“, hatte ich geknurrt. „Man könnte meinen, dass es auf der Welt nichts anderes gäbe als Fittens.“
Stockton hatte mich zu sich herumgedreht, meine Hände ergriffen und gesagt: „Oh, jetzt irrst du dich aber, meine hübsche Nan. Fitten ist wirklich ein sehr seltener Name.“ Und er ergoss sich in einer Erklärung des Familienstammbaumes und dass es in den ganzen USA nur noch wenige Hundert Fittens gebe.
Fitten. Ein seltener Name. Dann die zwei anderen: Carnes und Towner. Auch sie gehörten zu Stocktons Familienlinie, irgendwo in der Vergangenheit, das wusste ich.
Ich las die Antworten auf diese Frage und sah Stocktons Namen in einer Antwort weiter unten auf der Seite. Ich wollte sie gerade lesen, als sich ein Chatfenster auf dem Bildschirm öffnete und plötzlich jemand etwas in Echtzeit tippte:
Hallo, Stockton! Wo warst du in den vergangenen Monaten? Warum antwortest du mir nicht? Ich dachte, wir wollten uns treffen.
Der Username war CeeCee_so_süß. Sie schrieb Stockton auf seinem persönlichen Facebook-Account. CeeCee_so_süß? Wer war diese Frau? Tausend Szenarien schossen mir durch den Kopf, die alle unmöglich waren.
Ich versank in dieser unsicheren Welt mit schmerzhaften Fragen, als ein lächerlicher gelber Smiley mit zwinkerndem Auge nach dem letzten Satz erschien.
Ich wartete mehrere Minuten, bevor ich antwortete.
Eine Minute verging, dann zwei, dann saß ich gefühlte Stunden, Tage und Monate ohne neue Nachricht da, starrte den Bildschirm an und meine Fantasie ging mit mir durch. Mein Handy klingelte und erschreckte mich fast zu Tode. Ich sprang hoch und meldete mich.
„Hey, Nan? Habe ich dich geweckt?“
Es war meine kleine Schwester, Ellie. Ich seufzte erleichtert auf. Dachte ich wirklich, diese Frau auf der anderen Seite des Internets würde zum Telefon greifen und mich anrufen? „Nein, nein, überhaupt nicht. Ich sitze nur hier und starre den Computerbildschirm an.“ Das stimmte.
„Klingt interessant. Ähm, Ben und ich haben vor, mit den Kindern am Samstag zur Farm im Geschichtszentrum zu fahren. Das planen wir schon seit Ewigkeiten. Hast du Lust, zusammen mit den Mädchen mitzukommen? Oder wenn du ein wenig Zeit für dich haben willst, könnten wir die Mädchen auch abholen und du hast einen freien Nachmittag.“
Das war so typisch für Ellie, für meine ganze Familie, für die ich Gott so dankbar war. Sie versuchten ihr Möglichstes, um mir zu helfen, ohne sich zu sehr in mein Leben einzumischen.
„Das wäre herrlich“, seufzte ich. „Option zwei, meine ich.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. Wenn Stockton noch leben würde, würden er und ich gemeinsam mit den Kindern zum Tullie-Smith-Haus fahren, einer rekonstruierten Farm aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg im Geschichtszentrum von Atlanta. Dort würde Stockton die Geschichte lebendig werden lassen.
Geschichte. Der Facebook-Chat. Diese Frau.
„Ellie, das ist wirklich sehr lieb von euch. Können wir morgen weiter darüber sprechen? Ich bin hundemüde.“
„Klar. Brauchst du irgendetwas?“
„Schlaf“, schmunzelte ich, aber eigentlich wollte ich sagen: Stockton.
Ich lehnte mich zurück und wagte es, einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Nichts. Nur meine Worte: Hier ist Stocktons Frau.
Elizabeth Musser
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.
Webseite: www.elizabethmusser.wordpress.com
Instagram: elizabeth.musser
Facebook: Elizabeth Musser
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