Dieser Satz ist mir eine moralische wie gedankliche Stütze – und ein Ansporn weiterzumachen.
Die Frage nach der Ordnung in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften hat mich in meinem Leben schon früh beschäftigt. »Eure Ordnung ist unsere Unordnung«, in diesem Ghandi-Zitat steckt viel Wahres. Oft hat westliche Politik gerade nicht dazu beigetragen, Menschenrechte in einer bestehenden Ordnung zu etablieren. Offene Kritik, die bewusste kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Gesellschaft – das ist ebenfalls ein ganz reformatorischer Gedanke. Freilich einer, der bei Luther eher zu wenig ausgeprägt war und für den viel mehr Melanchthon oder Erasmus von Rotterdam und die großen reformatorischen Vordenker der Aufklärung stehen, von Thomasius über Kant bis hin zu Habermas heute.
Auf meiner ersten Reise nach Frankreich in einem Citroën 2CV habe ich viel über Europa gelernt. Damals habe ich Europa zu meinem Leitstern gemacht. Deutschland und Frankreich waren Erbfeinde, sind nun aber engste Partner. Daraus dürfen wir Mut schöpfen, müssen uns aber auch realistisch die langen Zeitspannen vor Augen führen, die wir in der Außenpolitik für politische, kulturelle und gesellschaftliche Integration benötigen. Gemeinsamkeiten, wie sie zwischen Frankreich und Deutschland heute bestehen, haben sich aber nicht nur durch politische Prozesse entwickelt, sondern vor allem über den kulturellen Austausch.
Meine Arbeit beruht auf dem Grundgedanken, dass Deutschland gerade angesichts der schwarzen Stunden seiner Geschichte eine Außenpolitik zu verfolgen hat, in der wir durch Verständigung gestalten und nicht durch Macht oder Gewalt. Es ist ganz offensichtlich, dass mich auch hierbei die Reformation begleitet und anleitet. Denn ich bin aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass unsere Freiheit eine Freiheit zu etwas ist. Eine Freiheit, die es uns erlaubt, Verantwortung zu übernehmen. Eine Freiheit, die uns auffordert, zu einer besseren Welt beizutragen. Carolin Emcke hat das in ihrer großen und kämpferischen Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels aus einem anderen Blickwinkel so formuliert: »Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.«
Auch in diesem Band sind kritische Stimmen versammelt, die aus ihren Wertvorstellungen und aus ihrem Glauben heraus ihre Stimme erheben und Partei ergreifen, die aus ihrer Freiheit heraus gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Mit der Reformation ging auch eine neue, eine gewachsene Verantwortung einher – für uns selbst, aber auch für die Welt, in der wir leben. Es ist an uns, diese Verantwortung anzunehmen.
Einführung
Wir stehen in Deutschland vor großen Herausforderungen. Einerseits beschert eine stabile Wirtschaft hier vielen Menschen Wohlstand. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie lange nicht. Deutschland ist ein Wohlstandsland. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass die Schere zwischen Arm und Reich zunehmend auseinandergeht. Dennoch, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind die meisten Menschen in Deutschland noch erträglich abgesichert. Von unseren Sozialstandards können weltweit andere Gesellschaften nur träumen.
Andererseits ist eine zunehmende Verunsicherung in der Bevölkerung erkennbar. Wer soll bei sinkenden Kinderzahlen und schrumpfender Bevölkerung einmal für die Renten aufkommen? Wie sollen wir in unserem Land mit Einwanderung umgehen? Können wir in Europa weiter in Frieden leben? Der Blick über die Republik hinaus macht uns deutlich, dass unsere Situation eher einem dauerhaften Ausnahmezustand gleichkommt. Zeitungen und Nachrichten zeichnen ein düsteres Bild: Europa ist zerrissen und in der Krise. Die südeuropäischen Länder befinden sich in tiefen wirtschaftlichen Zerwürfnissen. Das Ringen um die Forderung nach harten Sparkursen und tief greifenden sozialen Reformen auf der einen Seite und der Appell nach mehr Solidarität auf der anderen Seite haben Europa erstarren lassen. Europa, das hat der Bürgerkrieg in Syrien und der daraus hervorgehende Flüchtlingsstrom gezeigt, hat keine gemeinsame und damit belastbare Einwanderungspolitik. Beim Gezerre um Flüchtlingsquoten, Finanzhilfen und Subventionen drohen die gemeinsamen Werte nationalen Interessen zu unterliegen. Krisenmodus im Dauerzustand.
Auch aus dem bejubelten »arabischen Frühling« ist mittlerweile ein kühler, unfreundlicher Herbst geworden. Hunderttausende Menschen fliehen aus ihrer Heimat vor Krieg und Unterdrückung, Not und Verfolgung. Die historisch verwurzelte christliche Bevölkerung wird im gesamten arabischen Raum flächendeckend verdrängt oder zerrieben. Dschihadisten des IS ängstigen die alte Welt mit Terroranschlägen. Der islamistische Terror hat Europa erreicht. Wir sehen, wie vor unseren Augen einst stabile Staaten zerfallen, und akzeptieren, dass Diktaturen das kleinere Übel sind im Vergleich zu den »failed states« – Ländern, in denen Chaos und Gewalt herrschen, Bildung und Gesundheitswesen zusammengebrochen sind und Terroristen ein willkommenes Rekrutierungsfeld für ihre Anhänger gefunden haben.
Die politische Roadmap Europas erinnert an Alice im Wunderland. Darin kommt Alice zu einer Weggabelung und sieht eine grinsende Katze in einem Baum sitzen. »Welchen Weg soll ich nehmen?«, fragte das Mädchen. – »Wo willst du denn hin?«, antwortete die Katze mit einer Gegenfrage. – »Ich weiß es nicht«, erwidert Alice. – »Dann«, sagte die Katze, »spielt es auch keine Rolle, wohin du gehst.«
Wohin gehen wir? Woher bekommen wir in unsicheren Zeiten Orientierung, die uns einen Weg in die Zukunft weisen könnte? Welche Werte prägen unsere Gesellschaft oder noch grundsätzlicher gefragt: Gibt es noch eine tragfähige Grundlage, auf die wir uns verlassen können und die uns auch Antworten auf Fragen der Zukunft zu geben vermag?
Die Geschichte des modernen Europa ruht auf drei antiken Säulen: der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und der christlichen Tradition. Die Griechen haben uns ein demokratisches Grundverständnis mitgegeben, das dem Bürger viele Rechte, Freiheiten und auch die Verpflichtung gibt, die Gesellschaft mitzugestalten. Das römische Rechtsverständnis hat in Europa dazu geführt, dass wir in Strukturen leben, die ein geordnetes und freies Leben inmitten eines verlässlichen Rechtssystems ermöglichen. Dem Christentum verdanken wir eine Ethik, die dem Einzelnen die Verantwortung für seine Mitgeschöpfe, seinen Nächsten, auferlegt. Die geistigen Urheber des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland haben das erkannt und in der Präambel festgehalten:
»Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.«
Die Nächstenliebe ist eine dauerhafte Verpflichtung und ein Auftrag für unsere gesamte Gesellschaft, auch wenn die Kirchen, und damit das Christentum als Bewegung, zunehmend an Bedeutung verlieren.
Einzelne Bürger fragen weniger grundsätzlich, sondern möchten pragmatische Antworten, die ihnen helfen, den Alltag zu bewältigen. Sie suchen Antwort auf die Fragen, die die Tagesschau unbeantwortet lässt. Sie suchen Orientierung. Damit rücken die Entscheidungsträger in Politik und Zivilgesellschaft in den Fokus des Interesses. Die Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, welche Normen, Werte und Ideen für das gute Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft uns in Zukunft tragen sollen und wie die Politik jenseits des Alltagsgeschäftes darüber denkt.
Dieses Buch stellt deutsche Politikerinnen und Politiker vor, die über unterschiedliche politische Grundauffassungen hinweg eines verbindet: Sie anerkennen die Bedeutung eines ethischen Werteverständnisses, das sich aus den christlich-abendländischen Wurzeln speist. Im Gespräch offenbaren sie, welcher Kompass ihrem Handeln zugrunde liegt. Sie geben Einblick in ihre politischen Überzeugungen und über ihr Verständnis von christlichen Werten. Wir haben ihnen Fragen gestellt und sie haben uns geantwortet. Gelegentlich hat uns ihre Offenheit verblüfft. Aus manchem Gespräch gingen wir als Beschenkte.
Immer wieder hören wir bei unseren Tätigkeiten die Vorbehalte und Urteile über Politiker, die oft mit dem Satz beginnen: »Die in Berlin ...« Nicht wenige der Vorwürfe dieser Art mögen unbegründet sein. Das Parlament stellt einen Querschnitt der Bevölkerung dar und ist womöglich keine Versammlung von Heiligen. Dennoch wird von Mandatsträgern erwartet, dass sie Vorbilder sind. Wir meinen, zu Recht.
Wir haben bei unseren Gesprächen und Begegnungen die Entdeckung gemacht, dass sich viele Verantwortungsträger intensiv Gedanken machen, die über den politischen Alltag hinausgehen. Wir haben Abgeordnete getroffen, die nicht nur extrem viel arbeiten und gewissenhaft ihrem Auftrag nachgehen, sondern die bewusst dem Gemeinwohl dienen, dabei aber auch um ihre Grenzen im politischen Alltag wissen. Etliche haben glaubhaft zum Ausdruck gebracht, dass sie unter den oft sehr kleinteiligen Kompromissen demokratischer Abläufe leiden.
Wir sind Menschen begegnet, die viel suchender sind, als sie sich in der Öffentlichkeit darstellen dürfen. Dabei trafen wir auf engagierte Christen aus dem parlamentarischen Gebetskreis, auf bekannte »Promis«, die regelmäßig Gottesdienste besuchen, ohne das bekannt zu machen, und auf Politiker, die persönlich dem christlichen Glauben fernstehen, aber dennoch für die ethischen Grundlagen unseres christlich-jüdischen Erbes dankbar sind. Alle Gesprächspartner hatten eines gemeinsam: die Suche nach tragfähigen Antworten, die Bestand haben.
Die persönliche Begegnung mit Politikern hat uns aber vor allem eines gezeigt: Jenseits der öffentlichen Auseinandersetzungen, abseits der Rednerpulte, der Fernsehkameras und Mikrofone bleiben Politiker Menschen. Menschen mit Gaben, aber auch mit Schwächen. Am Ende ist für uns eines geblieben: Engagierte Politiker, gleich welcher Partei, die sich um das gute Zusammenleben in unserer Gesellschaft ernsthaft mühen, verdienen unsere Achtung.
Martin Knispel und Norbert Schäfer
im Oktober 2016