Mose 19,11-18). „Liebe“ meint im Hebräischen keine Gefühlsregung, sondern ein erkennbares und nachprüfbares Verhalten, das dem Nächsten Gutes tut.
Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit. Sein Wesen ist vollkommen gerecht. In Psalm 82 steht Gott in einer Götterversammlung und richtet. „Wie lange wollt ihr noch ungerechte Urteile fällen, wie lange noch wollt ihr Partei ergreifen für Menschen, die sich mir widersetzen. Schafft Recht den Schutzlosen und Waisen, sorgt dafür, dass den Unterdrückten und Armen Gerechtigkeit zuteil wird!“ Den Göttern fehlt die Erkenntnis, denn sie gehen ihren Weg in Finsternis. Deshalb geraten die Fundamente der Erde ins Wanken. Gott verbannt alle Götter aus dem Himmel und macht sie zur Strafe zu sterblichen Menschen. Übrig bleibt der eine einzig wahre Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde.
Jesus hatte eine tiefe Empfindlichkeit für das Leid der Menschen, denen er begegnete: Er nahm sich Zeit für sie, hörte zu, verteidigte und heilte sie. Er stand jederzeit auf der Seite der Einsamen, Ausgestoßenen und Vergessenen. Diese Herzenshaltung war Ausdruck seiner Nächstenliebe, die untrennbar mit der Gottesliebe verbunden ist. So wie er den Vater liebt, liebt er auch uns Menschen.
Als Christen sind wir Hoffnungsträger dieser universellen weit über den Tod hinausgehenden Gerechtigkeit, die wir in Christus haben. Diese Hoffnung stellt keinen Luxus dar, sondern eine Hoffnung, auf die wir verpflichtet sind. „Die Hoffnung ist uns um der Hoffnungslosen willen gegeben. Wir, die wir uns Hoffnung leisten können, müssen diese Hoffnung aufrechterhalten für diejenigen, die keine Hoffnung mehr haben.“ (Walter Benjamin)
Ich wünsche mir, dass Sie beim Durcharbeiten dieses Buches durch den Heiligen Geist so angesprochen werden, dass Sie selbst ein Träger dieser Hoffnung und Gerechtigkeit werden.
Dietmar Roller, International Justice Mission Deutschland
Einleitung
Als der Prophet Jesaja den Israeliten erklärte, warum Gott auf ihre Gebete und ihr Fasten nicht reagierte, sagte er ihnen, was Gott wirklich von ihnen erwartete und was wahren, gottgefälligen Gottesdienst ausmacht:
Nein – ein Fasten, das mir gefällt, sieht anders aus: Löst die Fesseln der Menschen, die ihr zu Unrecht gefangen haltet, befreit sie vom drückenden Joch der Sklaverei, und gebt ihnen ihre Freiheit wieder! Schafft jede Art von Unterdrü-ckung ab! Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!
(Jesaja 58,6-7)
In diesem Abschnitt definiert der Prophet die religiöse Praxis des Fastens neu, und zwar auf nicht-religiöse Art und Weise. Beim gottgefälligen Fasten gehe es nicht um das Essen, auf das man verzichtet, sondern vielmehr darum, wie man den Unterdrückten helfen und sich mit ihnen solidarisieren kann. Das gesamte Kapitel 58 des Jesajabuches betont einen engen Zusammenhang zwischen der Anbetung Gottes und dem Einsatz für Recht und Freiheit für die Verwundbarsten und Schwächsten in der Gesellschaft. Das Volk Israel soll begreifen, dass sein Verhalten gegenüber anderen, insbesondere gegenüber Randgruppen, sein Verhältnis zu Gott beeinflusst.
Als Nachfolger Jesu Christi besteht unser Auftrag darin, die Fesseln der Gefangenen zu lösen, die Unterdrückten zu befreien, jede Form der Unterdrückung abzuschaffen, unsere Nahrung zu teilen, Unterkunft und Kleidung für jene bereitzustellen, die Not leiden, und keinen Mitmenschen im Stich zu lassen. Das erwartet Gott von seinem Volk. In den Versen, die der genannten Passage folgen, betont Jesaja: Gott will nicht, dass wir beten oder fasten und uns in Sack und Asche kleiden, sondern dass wir die Unterdrückten befreien.
International Justice Mission (IJM) ist eine christliche Menschenrechtsorganisation von Ermittlern, Anwälten, Sozialarbeitern, Psychologen und Lobbyisten. Sie wurde 1997 ins Leben gerufen, weil ihre Gründer die Worte des Propheten Jesaja wörtlich nahmen. Seitdem kämpft die Organisation aktiv für die Befreiung all jener Menschen, die in Menschenhandel, Zwangsarbeit und Sklaverei sowie anderen Formen von schwerer Ungerechtigkeit gefangen sind.
Dabei betrachtet IJM die weltweiten Kirchen und Gemeinden als wichtige Akteure. Als IJM zu einer internationalen Gerechtigkeitsbewegung wuchs, gab es zunächst Bedenken: Ist die Bewegung tief und fest genug im biblischen Auftrag verwurzelt, um für den ausdauernden und nachhaltigen Kampf gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen gewappnet zu sein?
Im Jahr 2010 begann IJM damit, Kirchengemeinden im globalen Süden im Kampf gegen Ungerechtigkeit zu unterstützen. Schnell wurde klar, dass sich die Arbeit nicht so einfach wie erhofft gestalten würde. An sehr vielen Orten hatte das Leben in den Kirchengemeinden nur sehr wenig mit dem „wahren Gottesdienst“ des Propheten Jesaja zu tun. Sie betrachteten es nicht als ihre Aufgabe, etwas gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der Armen in ihrem Umfeld zu unternehmen und ihnen zu dienen.
Während wir im globalen Süden und anderen Regionen arbeiteten, bemerkten wir ein Muster, das der Ablehnung von Jesajas Definition von wahrhaftigem Gottesdienst häufig zugrunde lag. Entweder war das Ausmaß des Unrechts innerhalb der Städte und Gemeinden gar nicht bekannt, oder man war sich dessen zwar bewusst, war aber zugleich überfordert und unfähig, diesem Unrecht angemessen zu begegnen. Also klärten wir die Kirchengemeinden zunächst über die Missstände in ihrem unmittelbaren Umfeld auf.
Der zweite Grund für die Ablehnung machte uns größere Sorgen. So wie bei Jesaja geschildert, kümmerten sich die Kirchengemeinden stärker um bestimmte religiöse Formen und Traditionen, anstatt dafür zu sorgen, dass „Gerechtigkeit durchs Land fließe, wie ein nie versiegender Fluss“ (Amos 5,24). Jahrhundertelang hatte sich infolge von bestimmten Lehrmeinungen und Traditionen in den Kirchengemeinden eine dicke Schicht gebildet, die den wahren Kern von Gottes Auftrag in der Gesellschaft und die Verantwortung für diese Welt verdrängte. Es galt, diese Schicht abzutragen, damit wieder Licht auf Gottes Herzensanliegen fiel.
Das wollen wir auch mit diesem Studienbuch erreichen. Wir möchten das Thema Gerechtigkeit neu bewusst machen und verdeutlichen, welchen Stellenwert es in der gesamten Bibel einnimmt. Außerdem wollen wir uns gemeinsam mit den unterschiedlichen Konfessionen dieser Erde auf den Weg machen und unseren Platz in Gottes gutem Plan mit dieser Welt finden – Schalom.
Dieser Mann wird den Herrn von ganzem Herzen achten und ehren. Er richtet nicht nach dem Augenschein und fällt seine Urteile nicht nach dem Hörensagen. Unbestechlich verhilft er den Armen zu ihrem Recht und setzt sich für die Rechtlosen im Land ein. Sein Urteilsspruch wird die Erde treffen; ein Wort von ihm genügt, um die Gottlosen zu töten. Gerechtigkeit und Treue werden sein ganzes Handeln bestimmen. Dann werden Wolf und Lamm friedlich beieinander wohnen, der Leopard wird beim Ziegenböckchen liegen. Kälber, Rinder und junge Löwen weiden zusammen, ein kleiner Junge kann sie hüten. Kuh und Bärin teilen die gleiche Weide, und ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Heu wie ein Rind. Ein Säugling spielt beim Schlupfloch der Viper, ein Kind greift in die Höhle der Otter. Auf dem ganzen heiligen Berg wird niemand etwas Böses tun und Schaden anrichten. Alle Menschen kennen den Herrn, das Wissen um ihn erfüllt das Land wie Wasser das Meer.
(Jesaja 11,3-9)
Die jüdisch-christliche Vorstellung von Schalom rückt die universale Gerechtigkeit ins Zentrum allen Seins. Zum ersten Mal spielt sie in den poetischen und prophetischen Schriften des Alten Testaments eine Rolle. Später schließt das Neue Testament am Ideal des Schalom an. Schalom entsteht, wenn Menschen im Einklang mit Gott leben und zugleich im Einklang mit der Natur. Schalom umfasst aber noch eine andere wesentliche Dimension von Beziehungen: das Leben im Einklang mit unseren Mitmenschen. IJM hat durch seinen weltweiten Einsatz für Betroffene schwerster Menschenrechtsverletzungen mit ansehen müssen, wie zerstört viele Beziehungen zwischen Menschen sind.
In dem zuvor genannten Abschnitt stellt der Prophet Jesaja eine Verbindung zwischen Gottes Plan für Schalom und Jesu Auftrag in dieser Welt her. Er beschreibt sie mit folgenden Worten:
Was von Davids Königshaus noch übrig bleibt, gleicht einem alten Baumstumpf. Doch er wird zu neuem Leben erwachen: Ein junger Trieb sprießt aus seinen Wurzeln hervor. Der Geist des Herrn wird auf ihm ruhen, ein Geist der Weisheit und der Einsicht, ein Geist des Rates und der Kraft, ein Geist der Erkenntnis und der Ehrfurcht vor dem Herrn.
(Jesaja 11,1-2)
Jesajas Bild von Schalom ist unmittelbar mit dem Auftrag des davidischen Königshauses verbunden – und damit mit Jesus. Man kommt nicht um die Schlussfolgerung herum, dass Schalom keineswegs nur das eschatologische Ziel von Gottes Heilsplan für diese Welt ist, sondern zugleich auch der aktuelle Auftrag Jesu und aller, die ihm nachfolgen. Ein Nachfolger Jesu dient dem Schalom.
Die vollständige und endgültige Erfüllung von Schalom auf dieser Erde ist allein Gott vorbehalten, genauso wie vereinzelte Zeichen von Schalom in unserem Leben und unserer Gegenwart sein Werk sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir tatenlos abwarten sollen, bis Gott sein Werk vollbracht hat. Wir sind seine Mitstreiter und es ist unsere Aufgabe, uns für Freiheit und Gerechtigkeit in dieser Welt einzusetzen.
Wir haben dieses Buch geschrieben, um die Leser durch die einzelnen Einheiten auf Gottes Herzensanliegen aufmerksam zu machen: Recht und Freiheit für die Armen und Unterdrückten dieser Erde. Wir hoffen, dass die missio Dei (Gottes Auftrag) für Freiheit und Gerechtigkeit auch unser aller Auftrag wird. Dieses Buch will sämtliche Zweifel daran, dass der Einsatz für die Armen und Unterdrückten dieser Erde für Gott Priorität hat, ausräumen. Denn das ist wahrhaftiger Gottesdienst. Das bildet den Kern des Evangeliums.
Natürlich ist Schalom größer und umfassender als Gerechtigkeit. Doch ohne Gerechtigkeit wird es niemals Schalom geben.