Zusammengekauert sitzt Theo am Boden. Kälte und tiefe, undurchdringliche Dunkelheit umgeben ihn wie eine Vorahnung. Es knackt, keucht und faucht in der Ferne.
Er kommt immer näher! Theo versucht sich loszureißen, aber die Fesseln, die ihn in diesem Verlies gefangen halten, geben keinen Millimeter nach. Er öffnet seinen Mund zu einem Schrei, doch es kommt kein Ton heraus. Kein Ton, um Hilfe zu holen; kein Ton, um das Fauchen zu übertönen, das lauter und lauter wird.
Mit jeder Sekunde nähert sich das Untier, immer näher, immer näher …
Jetzt ist er da!
Über Theo!
Er öffnet sein riesiges Maul. Der kalte Atem streift Theo. Er wird jeden Moment zubeißen. Er wird …
„NEIN!! LASS MICH IN RUHE, BEN KRIEGER!“
Der Wind spielt mit den Vorhängen vor Theos gekipptem Fenster und lässt einen Luftzug über sein Gesicht gleiten. Der Schrei hängt noch in der Luft. Hat Theo laut gerufen? Das hätte sicherlich seine Mutter aufgeweckt. Theo horcht in das nachtstille Haus, aber nichts rührt sich.
Immer noch schlägt sein Herz viel zu schnell. Er liegt starr da, als sei er wirklich gefesselt. So ein dummer Traum!
Langsam bewegt er zuerst seine Beine, dann seine Arme und setzt sich im Bett auf. Der schreckliche Drache lauert noch irgendwo in seinem Hinterkopf. Der Traum hat ihn noch nicht ganz losgelassen.
Theo knipst seine Nachttischlampe an. Das Licht tut den müden Augen weh. Trotzdem ist es besser so.
„Ben Krieger“, flüstert er leise. Was hat er sich nur dabei gedacht, den Drachen mit Ben Krieger anzusprechen? Im Traum war es ganz selbstverständlich gewesen. Im Traum waren der Drache und Ben ein und dieselbe Person. Aber jetzt, wo er wach ist, kommt es Theo seltsam vor.
Im echten Leben ist Ben ein Kind. Er ist wie Theo elf Jahre alt und sein Klassenkamerad. Im echten Leben gibt es sogar den Drachen. Er ist auf einem riesigen Gemälde abgebildet. Theos Mutter hat es in wochenlanger Arbeit gemalt und vor ein paar Tagen in der Küche über der Bank aufgehängt. „Es soll mich daran erinnern, meinen Ängsten ins Auge zu sehen“, sagt sie. Theos Mutter hat viele Ängste, aber was das Drachenbild daran ändern soll, das versteht Theo nicht.
Der Wecker zeigt „3:46“. Theo sitzt in seinem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, die Augen halb geschlossen. Er ist noch müde, sehr müde. Es wäre sicher vernünftig, sich einfach wieder hinzulegen und die Augen zu schließen. Aber hinter den Lidern lauern noch die Reste des Albtraums. Theo befürchtet, dass der Traum weitergehen wird, und dann … Nein, lieber will er wach bleiben und in dieser Nacht gar nicht mehr schlafen.
Er versucht seine Gedanken zu lenken und ihre Richtung zu bestimmen, aber das ist schwierig nachts um Viertel vor vier.
Fangen um vier Uhr nicht die Bäcker an zu arbeiten?
War der Drachentöter aus der Eulenburgsage nicht ein Bäcker?
Wie hat er es noch mal geschafft, den Drachen zu besiegen? Mit einem Brotschieber?
Bedeutet „besiegen“, wenn man sagt: Man sieht seinen Ängsten in die Augen?
Kann Theo Ben besiegen?
Was ist eigentlich ein Brotschieber?
Könnte Theo Ben mit einem Brotschieber besiegen …?
Theos Kopf fällt nach vorne.
Jetzt wird er nicht von einem Drachen bedroht, sondern er rennt mit einem Brotschieber hinter Ben her. Ben ist schnell, aber er stolpert, sodass Theo ihn schon fast eingeholt hat.
„Ich werde dich besiegen, Ben Krieger! Ich werde dich besiegen, so wahr ich Theo der Drachenkämpfer bin!“
Das Weckerklingeln dringt in seinen Traum wie ein ungebetener Gast. Hartnäckig nervend versucht es, Theo aus der Traumwelt zu zerren. Der zieht sich das Kissen über den Kopf. Er hält sich die Ohren zu. Aber schließlich gibt er doch auf und bringt den Wecker zum Schweigen.
„Schon Morgen …“, stöhnt er. Sein Kopf ist so müde, dass seine Gedanken in die Traumwelt zurückdrängen, in eine Welt aus Drachen und Ben Krieger. Theo schüttelt sich. Er muss aufstehen. Es ist heute Schule … ein Wochentag, Donnerstag ... ja richtig, Donnerstag… und Samantha … wohnt jetzt in England. Allmählich wird Theo wach.
Jetzt weiß er auch wieder, warum Ben Krieger ein Drache ist; warum er von Ben geträumt hat, von Ben und nicht von Samantha. Zum ersten Mal, seit sie umgezogen ist, hat Theo nicht von ihr geträumt. Ob das wohl ein gutes Zeichen ist?
Nein, beschließt Theo, gut ist das nicht, aber wahrscheinlich ist es ganz normal.
Theo gähnt und setzt sich auf. Müde betrachtet er die Schnur, die er über seinem Bett gespannt hat. Dreiundzwanzig kleine weiße Karten sind dort mit Büroklammern befestigt. Es sieht ein bisschen so aus wie ein Adventskalender.
Jedes Kärtchen zeigt einen anderen Gegenstand: einen Gartenschlauch (Theo dachte zuerst, es wäre eine Schlange), eine Blockflöte, einen Heißluftballon, eine Zahnbürste und noch viele andere Dinge. Leider kann man manche nicht sehr gut erkennen, weil Samantha sie in ihrer ungeduldigen Art mit einem dicken, roten Filzstift hingekritzelt hat. Zu jedem Gegenstand gehört eine Erinnerung – eine Erinnerung, die nur Theo mit Samantha teilt.
Auf dem Nachttisch liegt eine weitere weiße Karte mit einem Teddy darauf. Aber die Erinnerung an den Bär muss Theo irgendwie verloren gegangen sein. Er hat keine Ahnung, was „Teddy“ bedeuten könnte. Theo nimmt die Karte in die Hand … Teddy? Sein Kopf ist leer.
Die Erinnerungskarten sind Samanthas Abschiedsgeschenk an Theo. Zuerst war Theo enttäuscht. Aber inzwischen weiß er, dass es wirklich ein besonderes Geschenk ist. Jeden Tag freut er sich auf die nächste Karte.
„In jedem dieser Briefe steckt eine Erinnerung an unsere Freundschaft!“, hat Samantha erklärt, als sie Theo die Kiste, voll mit kleinen Umschlägen, geschenkt hat. Und es stimmt!
Im ersten Umschlag steckte zum Beispiel ein Affenbildchen. Theo fiel sofort die Geschichte ein, als er mit Samantha im Zoo gewesen war und Samantha die Affen nachgemacht hatte. Die Affen hatten zuerst ein bisschen gelangweilt zugeguckt. Ein Affe war an die Scheibe gekommen und hatte dagegengeschlagen. Samantha hatte zurückgeklopft. Irgendwann hatte sich alles umgekehrt und der Affe hatte Samantha nachgeahmt. Das war so lustig gewesen! Theo und Samantha hatten gelacht, bis ihnen die Tränen über das Gesicht liefen.
Bisher musste Theo noch nie lange überlegen. Immer wusste er sofort, woran Samantha ihn erinnern wollte. Bei jedem kleinen Bild – bis auf dieses Teddybild. Seit gestern liegt es auf seinem Nachttisch, aber die Erinnerung fehlt immer noch.
„Theo, es ist schon spät! Bist du im Bad, oder schläfst du etwa noch?“, ruft Theos Mutter von unten.
Müde streckt sich Theo, lehnt die Teddykarte gegen den Wecker, steht auf und schleicht ins Bad.