Noch am späten Abend klingelt es an meiner Tür. Herr Wenzel steht vor mir. „Frau Bormuth, Sie sind fair und ich bin fair. Aber ich kann Ihnen das Geld für die vor acht Tagen angemietete Wohnung nicht bezahlen. Aber ich habe Ihnen einen anderen Interessenten mitgebracht, Igor.
Er will an meine Stelle treten. Er kommt aus Kirgisien. In meiner Tasche habe ich keinen Cent mehr.“
Bei diesen Worten legt er mir die Wohnungsschlüssel auf den Tisch. Ich bin verblüfft.
„Aber das können Sie doch nicht machen. Wir haben doch miteinander einen Vertrag abgeschlossen. Heute am späten Abend treffe ich keine Entscheidung mehr. Ich muss mir diese Sache erst mal durch den Kopf gehen lassen und werde morgen mit Ihrer Betreuerin reden.“
Nun schaltet sich Igor in unser Gespräch ein: „Aber Frau Bormuth, kann ich denn nicht in die Wohnung von Herrn Wenzel einziehen? Ich brauche ganz dringend eine Bleibe. Bitte rufen Sie mich morgen an, wenn Sie das Problem mit der Betreuerin geklärt haben. Ich habe im Augenblick zwei Arbeitsstellen in einer Wäscherei zugesprochen bekommen. Aber ich kann nur in ein geregeltes Arbeitsverhältnis übernommen werden, wenn ich in Marburg gemeldet bin. Dazu muss ich im Stadtbüro einen Wohnungsnachweis erbringen. Zwei Tage bleiben mir noch. Bis dahin brauche ich ganz dringend einen Mietvertrag, sonst stehe ich wieder auf der Straße, bin obdachlos und kann nicht weiterarbeiten, denn ich brauche eine Versicherungsnummer.“
Ich erwidere ihm: „Morgen früh werde ich die Sache mit Herrn Wenzel abgeklärt haben und dann telefoniere ich mit Ihnen.“
Dass ich an diesem Abend nicht glücklich zu Bett gehe, muss ich nicht erwähnen. Mich ärgert dieses Problem. Außerdem hat Herr Wenzel eine ziemliche Alkoholfahne, was mich nicht gerade erfreut. Bis in meine Träume hinein quält mich die Frage: Soll ich denn weiterhin Obdachlose und Bedürftige in unserem Haus aufnehmen, wenn sie mir solche Probleme bereiten? Sie erzählen mir, dass sie höchstens ein „Bierchen“ trinken und dann kommen sie stockbesoffen zu mir, haben ihr ganzes Geld verprasst und schlafen dann lieber unter einer Brücke. Trotz der Enttäuschung mit Herrn Wenzel will ich an meinem Auftrag festhalten, den mir Gott gegeben hat, und bedürftigen Menschen zugetan sein. Die Liebe ist und bleibt das Höchste. Dazu ringe ich mich durch.
Am nächsten Tag telefoniere ich mit der Betreuerin. „Nein“, erklärt sie mir, „Frau Bormuth, die Wohnung will ich weiterhin für Herrn Wenzel behalten. Ich verwalte sein Geld und ich werde die Miete an Sie überweisen. Jetzt wird Herr Wenzel als Wanderer im Walde seine Zeit verbringen, was ich ihm nicht verwehren kann. Aber wenn die kalten Herbsttage kommen, braucht er dringend ein Dach über dem Kopf. Dann wird er sicher bald wieder bei Ihnen aufkreuzen. Ich kenne meine Pappenheimer.“
Diese Sache ist nun geregelt. Aber was mache ich mit Igor? Händeringend hat er mich angefleht, ich möchte ihm doch eine Bleibe geben. Mir ist bange, dass er seinen Arbeitsplatz verlieren könnte. Der junge Mann ist 24 Jahre alt und könnte fast mein Enkel sein. Er hat auf mich auch einen guten Eindruck gemacht. Ich werde ihm mein Arbeitszimmer zur Verfügung stellen. Eine Schlafcouch steht schon darin. Den Schreibtisch werde ich räumen und mir im Wohnzimmer meinen Computer aufstellen. So rufe ich ihn am nächsten Morgen an und bitte ihn, zu mir zu kommen. Zwei Stunden später sitzen wir uns gegenüber und ich sage ihm, dass ich ihm einen Mietvertrag geben werde. Damit kann er sich in Marburg anmelden.
Igor ist über diese Lösung, die ich ihm anbiete, glücklich, das Zimmer gefällt ihm und vor lauter Freude nimmt er mich in die Arme und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Es ist mir zwar ungewöhnlich, aber ich lasse mir seine Dankbarkeit gefallen.
Seine beiden Arbeitsplätze bleiben ihm also erhalten.
Den Rest des Tages bin ich damit beschäftigt, für Igor eine schöne Heimstatt herzurichten. Ich gebe ihm Bettwäsche, Kissen, ein Federbett und Handtücher. Außerdem stelle ich ihm Duschgel und Shampoo ins Bad, das wir uns teilen. In der Küche zeige ich ihm, wo er Teller, Tassen, Gläser, Besteck und Töpfe finden kann, räume ihm im Kühlschrank ein Fach leer und erkläre ihm noch den Herd. Über sein Gesicht huscht ein Lächeln.
„Danke, Frau Bormuth, nun habe ich alles, was ich für den Anfang brauche. Hier bei Ihnen fühle ich mich wie zu Hause.“
An einem der nächsten Abende kommt er zu mir und ich biete ihm einen Platz auf dem Sofa an. Sofort beginnt er, mir seine Geschichte zu erzählen:
„Geboren bin ich in einem kleinen Dorf in Kirgisien. Aber dann siedelten meine Eltern nach Deutschland über. Für uns war das fast wie ein kleines Paradies. Mein Vater war Kraftfahrer. Da er Deutscher war, wurde er sogleich bei einer großen Baufirma angestellt. Auch meine Mutter fand einen Arbeitsplatz in einem Großmarkt. Ich hatte noch zwei ältere Brüder. Es war eine schreckliche Tragik für uns, als mein Vater schon nach drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Er war für uns ein so wunderbarer Vater und nun fehlte er uns überall. Sein Tod hat vor allem uns Kinder ins Unglück gerissen. Aus der Traurigkeit fanden wir gar nicht mehr heraus.
Und dann geschah etwas Schlimmes für uns. Falsche Freunde verführten uns und gaben uns Drogen. Sie würden uns unseren Schmerz vergessen lassen. Mein Bruder und ich gerieten in eine bedrohliche Sucht hinein. Jeden Cent, den wir uns erarbeiteten, gaben wir nun für Marihuana und Heroin aus. Täglich brauchten wir die Drogen und schlitterten auch in die Beschaffungskriminalität hinein. Beim Aufstehen bewegte mich nur ein Gedanke: Wo nehme ich das Geld her, das ich für meine Betäubungsmittel brauche? Schließlich habe ich so oft gestohlen, dass ich keine Bewährung für meine Straftaten erhielt. Ich wanderte in eine Vollzugsanstalt.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie fürchterlich der erste Tag im Gefängnis war. Wärter brachten mich in eine kleine Zelle, die ich mit einem anderen Knastbruder teilen musste. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, merkte ich, dass sie von innen nicht mehr zu öffnen war. Der Türgriff fehlte. Diese Einengung hat mich fast in die Verzweiflung gebracht und ich fragte mich: Was habe ich bloß aus meinem Leben gemacht. Würde ich je wieder den Weg aus der Sucht in die Freiheit finden?
Und noch ein bedrohliches Ereignis machte mir Not. Die Polizei hatte meinen Bruder in Frankfurt in einer Toilette bewusstlos aufgefunden. Er wurde sofort in eine Klinik gebracht. Zwei Stunden mühten sich die Ärzte, ihm das Leben zu erhalten, aber sie konnten ihn nicht mehr retten. Er verstarb noch am Nachmittag an einer Überdosis gepanschten Heroins. Für meine Mutter brach eine Welt zusammen. Erst hatte sie den Verkehrstod meines Vaters zu verkraften und nun musste sie auch meinen Bruder zu Grabe tragen. Mir hätte das Gleiche passieren können. Die Angst um mein Leben stürzte mich in die Verzweiflung. Aber wie sollte ich aus diesem Chaos wieder herausfinden? Es war meine Mutter, die alle Hebel in Bewegung setzte, um mich aus meiner misslichen Lage herauszuholen. Inzwischen war ich schon wieder aus dem Knast entlassen. Mutter setzte sich mit einem christlichen Radiosender in Verbindung und klagte dort ihre Not. Ein Seelsorger nahm sich ihres Elends an, besuchte sie und zeigte ihr Hilfen auf, wie sie ihren Sohn aus der Sucht herausholen könnte. Es gelang ihm auch, meine Mutter zu trösten.
Dann tauchte eines Tages ein Bekannter auf, der auch aus unserem Dorf in Kirgisien stammte. Zehn Jahre hatten wir uns nicht mehr gesehen. Er besuchte mich und erzählte mir seine Lebensgeschichte. Auch er war hier in Deutschland zum Drogenkonsum verführt worden und fünf Jahre dieser Sucht verfallen. Seine Eltern waren Christen und schickten viele Gebete zu Gott, damit er ihn aus dieser Hölle herausholte. Auch in einer russlanddeutschen Gemeinde kümmerte man sich um ihn, suchte ihn auf und bewegte ihn dazu, eine Entgiftung und anschließend eine Therapie durchzustehen. Es war für ihn ein harter und langer Weg. Was ihm aber half, das waren seine christlichen Freunde. Sie luden ihn in die Jugendstunden und die Gottesdienste ein und beteten für ihn.
Wirklich, ein Wunder geschah. Jesus wurde sein bester Freund und befreite ihn von seiner Drogensucht. Ein neues Leben tat sich vor ihm auf. Er blieb clean, fand eine junge Frau und ihre Ehe wurde mit zwei Kindern gesegnet. Er ging auch einer geregelten Arbeit nach und drei Jahre später konnte er sich mithilfe seiner Eltern ein kleines Eigenheim bauen.“
Diese Lebensgeschichte hat sich Igor tief eingeprägt. Er war auch bereit, sich einer Therapie zu unterziehen, und erlebte die Befreiung aus dieser Sucht. Nun ist er schon drei Jahre von Drogen befreit und hat bis heute noch keinen Rückfall erlitten. Aus dem Wort Gottes erhält er jeden Tag die Kraft und die Zusagen, dass Jesus an seiner Seite steht und ihn bewahren will. Über eine Stunde sitzen wir zusammen, bevor mir Igor eine gute Nacht wünscht und zu Bett geht. Ich freue mich, dass unser neuer Gast mit uns in die Gottesdienste geht. Er soll wie ein Sohn in unserer Mitte leben. Gott gebe mir die Kraft der Liebe dazu.