Joelle stampfte demonstrativ die Treppe hinauf in ihr Zimmer, aber der dicke Teppich dämpfte die Wirkung ihres Wutanfalls.
„Gib dir keine Mühe!“, rief Kathleen ihr hinterher. „Ich gehe zuerst!“
Als Erwiderung knallte Joelle ihre Zimmertür so heftig zu, dass die Teetassen unter ihr im Esszimmerregal bebten.
„Weißt du was? Ich habe die Nase gestrichen voll von deiner Frechheit, Joelle“, brüllte Kathleen und schlug sich dann die Hand vor den Mund. Sie hatte genau die gleiche Formulierung benutzt, in genau demselben Tonfall, wie ihre Mutter es immer getan hatte. Wann hatte sie sich in ihre Mutter verwandelt?
Sie sank auf einen Stuhl am Küchentisch, weil ihre Beine sie nicht länger tragen wollten. Vor einigen Stunden während der Auseinandersetzung mit ihrem Chef hatten sie zu zittern begonnen und sie kaum zum Parkplatz getragen, als sie aus dem Bürogebäude gestürmt war. Es war gut, dass sie in ihrem Auto gesessen hatte, die hochhackigen Schuhe ausgezogen, als die Polizei sie auf ihrem Handy anrief. Sonst wäre sie vielleicht auf der Stelle eingeknickt.
„Mrs Seymour? Hier spricht Wachtmeister Marks von der städtischen Polizei. Wir haben Ihre Tochter Joelle Marie Seymour … in Gewahrsam …“
Danach konnte Kathleen sich nur noch an wenig erinnern. Irgendwie war sie zum Einkaufszentrum gefahren, hatte das Büro der Sicherheitskräfte gefunden und eine qualvolle Begegnung mit Wachtmeister Marks und dem Ladendetektiv durchlitten, der Joelle dabei erwischt hatte, wie sie einen Lippenstift im Wert von sieben Dollar an der Kosmetiktheke gestohlen hatte. Es war ihr wie ein böser Traum erschienen, vor allem Joelles Reaktion auf die ganze Sache. Sie hatte keine Reue gezeigt, wie sie da auf dem Stuhl hing, die Arme verschränkt, und sich weigerte jemanden anzusehen, während sie lässig mit dem Fuß wippte – die hübsche Joelle mit ihrem zimtfarbenen Haar, das Kathleen so an das ihres eigenen Vaters erinnerte. Aber das Letzte, was Kathleen in dieser Situation brauchen konnte, war eine Erinnerung an ihren Vater.
Zum Glück hatte sie den Geschäftsführer des Kaufhauses überreden können, keine Anzeige zu erstatten, weil es Joelles erstes Vergehen war, aber ein Hausverbot für ein Jahr wurde verhängt, und im Falle eines zweiten Diebstahls war eine Vernehmung durch die Polizei genauso fällig wie eine Jugendstrafe. Kathleen hatte Wachtmeister Marks praktisch bekniet, Joelle zu verschonen.
„Wo sind deine Freundinnen?“, fragte Kathleen ihre Tochter, als die Polizei sie schließlich gehen ließ. „Bist du nicht mit Colleen und Stacey zum Einkaufszentrum gegangen?“
Joelle zuckte mit den Schultern. „Sie sind abgehauen, als ich geschnappt wurde.“
„Schöne Freundinnen.“
„Kannst du mich bei Colleen absetzen?“, fragte Joelle, als sie den Wagen erreichten.
Kathleen starrte sie ungläubig an. „Hast du den Verstand verloren?“
Joelle ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und knallte die Tür zu. Den Sicherheitsgurt und das lästige Pling des Warntons ignorierte sie. Als sie die Hand ausstreckte, um die Lautstärke des Autoradios aufzudrehen, schob Kathleen ihren Arm zur Seite.
„Lass das – und schnall dich an.“
„Als ob es dich interessieren würde, was mit mir passiert!“
Kathleen spürte, wie sie allmählich die Beherrschung verlor. Sie ließ den Motor an und lenkte den Wagen mit quietschenden Reifen vom Parkplatz hinunter. „Warum machst du so etwas Dummes, Joelle? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Ich gebe dir jede Woche fünf Dollar Taschengeld – was ist bloß in dich gefahren, dass du einen Lippenstift für sieben Dollar klaust?“
Joelle zuckte mit den Schultern. „Ist doch keine große Sache. Sie haben mich schließlich laufen lassen.“
Danach hatten sie sich auf der Fahrt nach Hause nur noch gegenseitig angeschrien, was in Joelles Drohung endete, abzuhauen und nie wieder nach Hause zurückzukehren. Kathleen hatte genau dieselbe Drohung ausgestoßen – vor wie vielen Jahren? Und sie hatte ihre Drohung auch wirklich wahr gemacht.
Kathleens Hände zitterten noch immer, als sie quer über den Küchentisch zum Telefon griff, um ihren Mann anzurufen. Zum Glück erreichte sie Mike persönlich und nicht seinen Anrufbeantworter. „Was ist los, Kat?“
„Du musst nach Hause kommen“, sagte sie mit zittriger Stimme.
„Kannst du mir etwas mehr sagen? Ich habe eine Menge –“
„Joelle wurde wegen Ladendiebstahls verhaftet.“ Jetzt flossen die Tränen – Tränen der Wut, des Nichtbegreifens und des Kummers. Zuerst gab sie keinen Laut von sich, während die Tränen über ihr Gesicht liefen, aber als sie aufblickte und an der Kühlschranktür den Zettel sah, der sie daran erinnerte, dass Joelle heute Abend etwas zu knabbern zum Jugendtreff in die Kirche mitbringen sollte, begann sie zu schluchzen.
„Ich bin gleich zu Hause“, sagte Mike ruhig.
Er kam gerade rechtzeitig, um Joelle aufzuhalten, die ihren Rucksack und einen zum Bersten gefüllten Koffer die Treppe hinunterschleifte. „Ich werde nicht zulassen, dass du wegläufst, mein Schatz“, besänftigte er sie. „Komm, wir gehen nach oben und reden darüber.“
Kathleen fragte sich, ob Mike versucht hätte, sie aufzuhalten, wenn sie diejenige mit dem Koffer gewesen wäre, und nicht Joelle. Sie lauschte dem Klang ihrer Stimmen, der aus dem Obergeschoss zu ihr herunterdrang, eifersüchtig auf die enge Beziehung, die diese beiden Menschen verband. Sie selbst hatte es mal wieder vermasselt. Sie und Joelle stritten sich genau so, wie Kathleen und ihre Mutter sich immer gestritten hatten – vielleicht sogar noch mehr. Kathleen schwor sich immer wieder, dass sie versuchen würde, eine bessere, liebevollere Mutter zu sein, aber sie wusste nicht, wie sie es anfangen sollte.
Sie griff nach dem gerahmten Foto, das auf ihrem Schreibtisch in der Küche stand. Es war im letzten Winter während ihres Skiurlaubs in Colorado aufgenommen worden. Alle drei lächelten in die Kamera und blinzelten im hellen Licht der Wintersonne, ihre Gesichter in einem seltenen Augenblick der Zusammengehörigkeit aneinandergedrückt, eine Bilderbuchfamilie. Mikes ständige Sorgenfalten hatten sich zu Lachfalten entspannt, seine stoppeligen grauen Haare waren unter einer Skimütze versteckt, sodass er jünger aussah als seine achtundfünfzig Jahre. Kathleen selbst war es gewohnt, dass man ihr ihre vierundfünfzig Jahre nicht ansah – dank eines regelmäßigen Trainings im Fitnessclub und einer kreativen Friseurin, die Kathleens hellbraunes Haar modisch schnitt und von eindringendem Grau befreite. Sie war achtunddreißig gewesen, als Joelle nach jahrelangen medizinischen Verfahren und endlosen Gebeten endlich geboren wurde. Sie hatte geschworen, dass sie um ihrer Tochter willen jung bleiben würde, aber heute kam sie sich vor wie die böse alte Hexe in einem Märchen.
Auf dem Foto fiel Joelles Haar in üppigen Naturlocken, die ein Gesicht umrahmten, das noch die Weichheit und Unschuld eines Kindes widerspiegelte und zugleich die Verheißung fraulicher Schönheit und Sinnlichkeit enthielt. „Herr, hilf uns!“, seufzte Kathleen und schloss die Augen. Joelle war erst sechzehn und schon in Schwierigkeiten. Gott allein wusste, wie das enden würde.
„Ich habe sie beruhigt“, sagte Mike, als er eine Stunde später herunterkam. Er hatte seine Krawatte gelöst und die Ärmel seines gestärkten weißen Hemdes hochgekrempelt. „Aber ich glaube, du solltest raufgehen und mit ihr reden. Zeig ihr, dass du sie trotzdem liebst.“
„Im Moment bin ich sehr, sehr wütend auf sie“, sagte Kathleen mit gepresster Stimme. Sie hatte endlich die Kraft gefunden, den Stuhl zurückzuschieben und ein paar Reste in der Mikrowelle fürs Abendessen aufzuwärmen – obwohl sie alles andere als hungrig war. Sie hatte weder ihre Kostümjacke noch ihre Schuhe oder ihre Strumpfhose ausgezogen, so als spiele sie immer noch mit dem Gedanken zu gehen.
„Wir haben ihr alles gegeben, was sie sich nur wünschen konnte, Mike, und trotzdem ist sie so undankbar. Als ich so alt war wie sie, habe ich mich nach einem solchen Leben gesehnt. Ich kann nicht fassen, dass sie all das für einen dämlichen Lippenstift zum Fenster hinauswirft. Warum macht sie so etwas Dummes? Sie bekommt ein großzügiges Taschengeld. Sie könnte sich einen Haufen Lippenstifte kaufen.“
„Vielleicht versucht sie deine Aufmerksamkeit zu erlangen.“
Seine Worte fühlten sich an wie ein Schlag ins Gesicht. „Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen? Du bist manchmal wochenlang von zu Hause weg! Ich bin diejenige, die immer für sie da war!“ Sie riss ihre Handtasche vom Tisch, fischte ihren Autoschlüssel heraus und ging auf die Terrassentür zu.
„Geh nicht, Kathleen. Das hier ist ein Problem, vor dem du besser nicht davonläufst.“
Sie wirbelte herum und funkelte ihn an. „Ich laufe nicht davon – obwohl ich zugeben muss, dass die Versuchung groß ist! Ich gehe nur ein bisschen frische Luft schnappen.“
Mit einer schnellen Bewegung nahm er ihr den Autoschlüssel aus der Hand. „Dann setz dich wenigstens nicht hinters Steuer. In deinem Zustand solltest du nicht Auto fahren.“
„Gut!“
Sie stolzierte bis zum Ende des Häuserblocks, dann wieder zurück, ihre hohen Absätze bereiteten ihr zu große Schmerzen, als dass sie hätte weiterlaufen können. Das vornehme Viertel war ruhig, denn in dieser Gegend fuhren an einem warmen Sommerabend keine Kinder mit ihren Fahrrädern herum oder spielten auf der Straße Ball. Sie brauchte sich keine Sorgen darüber zu machen, dass neugierige Nachbarn ihre lautstarken Auseinandersetzungen mit Joelle mit anhören oder sich fragen könnten, warum sie in ihrer Arbeitskleidung auf der Straße hin und her lief. Die Häuser standen auf riesigen Grundstücken weit genug voneinander entfernt und waren zusätzlich von Büschen und Bäumen abgeschirmt, während jedes Geräusch von draußen durch das Surren der Klimaanlagen und das Summen der Swimmingpoolfilter gedämpft wurde.
Auf dem Weg zurück zum Haus blieb Kathleen vor ihrem Briefkasten stehen und zog einen Stapel Kataloge, Broschüren und Werbemüll heraus. Einen handgeschriebenen Brief in der Papierflut zu entdecken, war inzwischen eine solche Seltenheit geworden, dass der einsame Umschlag ihr direkt ins Auge fiel. Sie suchte nach dem Absender und entdeckte den Namen ihrer Schwester und darunter eine Adresse in Riverside, New York, wo sie aufgewachsen waren. Warum schrieb Annie ihr? Kathleen riss den Briefumschlag auf.
Darin fand sie eine schrill-bunte Einladung, die mit Luftballons und Partyhüten verziert war. Sie sah aus wie eine Karte aus einem dieser Billigläden. Kathleen überflog die Einzelheiten und las sie dann noch einmal, um sich zu vergewissern, dass sie es nicht missverstanden hatte: Ihre Schwester veranstaltete eine Party für ihren Vater. Bitte versuch zu kommen, Kathy, hatte sie unten auf die Einladung geschrieben. Es würde Papa unheimlich viel bedeuten.