Und auch solchen Menschen bin ich oft begegnet.
Ich denke z. B. an Tina, eine Mutter von drei Kindern. Sie freut sich, dass ihr Mann – seitdem er in der lokalen Freikirche mitarbeitet – viel ausgeglichener geworden ist. „Es ist so, als hätte ich einen runderneuerten Mann und meine Kinder einen glücklicheren Vater bekommen“, sagt sie. Dabei verbringt ihr Mann Friedhelm mindestens einen Abend in der Woche in der Gemeinde.
Oder mir fällt Sigi ein, dessen ganze Familie mittlerweile in der einen oder anderen Weise in der Gemeinde mitarbeitet. „Es macht einfach so viel Spaß!“, fasst er seinen langen Bericht über seine Erfahrungen im Gemeindebau zusammen.
Wenn die einen Lust und die anderen Frust empfinden, wenn alles komplizierter geworden ist, als man es erwartet – dann redet man normalerweise von einer Krise. Gemeindebau im Westen und damit auch in unserem Land steckt in der Krise. Doch eine Krise birgt immer beides: Chance und Risiko zugleich. Der südafrikanische Missionstheologe David J. Bosch spricht von der Krise als dem „Punkt, in dem Gefahr und Möglichkeit sich begegnen, an dem die Zukunft in der Schwebe ist und die Dinge sich in beide Richtungen entwickeln können.“
Wie schafft man es, im Gemeindebau vom Frust zur Lust zu kommen? Was sind Schlüsselfaktoren, die im Wesentlichen da-rüber entscheiden, ob man auf der einen oder anderen Seite seine Erfahrungen macht? In diesem Buch habe ich meine Beobachtungen dazu zusammengefasst. Nein, ich stelle nicht den Anspruch, alles gesagt zu haben. Aber nach nunmehr 35 Jahren vollzeitlicher Mitarbeit im Gemeindebau traue ich mir zu, meine Erfahrungen anderen zur Verfügung zu stellen. Mir macht Gemeindearbeit immer noch große Freude. Und ich kann mir nur schlecht vorstellen, etwas anderes zu tun, das mich mehr erfüllen würde und mich glücklicher machen würde als Gemeindearbeit.
Meine Beobachtungen habe ich in zehn Grundvorstellungen zusammengefasst, die ich hier „Faktoren“ nenne. Faktoren begründen Fakten, setzen eine Wirklichkeit, Erfahrungen in Gang. Und so ist es mein Wunsch und Gebet, dass dieses Buch den Lesern Mut zuspricht und sie zur Mitarbeit im größten und innovativsten Projekt Gottes auf Erden begeistert – ihrer Gemeinde.
Johannes Reimer
Bergneustadt, im Herbst 2014
Kapitel 1
Fundamente, die tragen
1.1 Stabile Häuser brauchen stabile Fundamente
Als junger Mann studierte ich Bautechnik. Meine Dozenten wurden nicht müde, uns zukünftigen Bauleitern einzuschärfen, warum es wichtig ist, einen Bau sachgemäß, gut kalkuliert und durchdacht durchzuführen. Immer wieder führte man uns zu Bauruinen, die infolge schlechter architektonischer Pläne und noch schlechterer Umsetzung in der Praxis entstanden waren. Und immer wieder zeigte man uns Menschen, die in unvorstellbar schlechten Verhältnissen lebten, die so dringend eine Wohnung suchten und denen nichts anderes übrig blieb, als in solchen Bauruinen ihre Bleibe einzurichten. Weder machte es Spaß, in solchen Verhältnissen hausen zu müssen, noch war es ungefährlich. Der bedenkliche bauliche Zustand solcher Gebäude bedrohte tagtäglich nicht nur Hab und Gut der Bewohner, sondern auch ihr Leben.
„So zu bauen ist kriminell“, warnten uns die Dozenten damals. Mir stehen diese Bilder bis heute vor Augen. Und nicht selten kommen sie mir in den Sinn, wenn ich an den Gemeindebau denke. Schließlich nennt die Bibel die Gemeinde ja auch „Haus Gottes“ (Hebr. 10,21; u. a.). Wer Gemeinde baut, arbeitet also an einer Art Hausbau mit. Und hier kommt es wesentlich darauf an, den Bau sorgfältig und gut zu durchdenken.
Jesus selbst warnte seine Jünger, nicht auf Sand zu bauen (Mt. 7,24-27). Denn wer auf Sand baut, ignoriert die Gefahren, die ein fehlendes Fundament für das Haus bedeutet. Nicht auf Sand, auf Stein sollten die Jünger bauen. Gemeinde als Haus Gottes muss also solide gebaut werden, dann besteht sie gegen alle Stürme und Gefahren des Lebens. Kein Unwetter, keine Überschwemmung, kein Sturm kann dann ihr Fundament zum Einsturz bringen. Sie ist wahrlich ein unsinkbares Schiff, um ein anderes Bild zu bemühen. Und keine Frage: Die Arbeit auf einem solchen Schiff macht den Mitarbeitern mehr Freude, gibt ihnen mehr Sicherheit, als das auf einem schlecht gesicherten Boot der Fall wäre, das bereits bei den ersten größeren Wellen zu versinken droht.
Solide Grundlagen geben demnach der Gemeinde Stabilität und machen die Mitarbeit an ihrem Bau zu einer positiven Erfahrung. Doch was sind solche Grundlagen? Was sind Fundamente, die unbedingt bedacht und eingerechnet werden müssen, wenn man solide Gemeinde bauen will? Mit anderen Worten: Welche Faktoren machen Gemeinde interessant und Gemeindebau effektiv? Wie arbeiten Menschen begeistert mit?
In den vielen Jahren meiner eigenen Gemeindearbeit und durch unzählige Studien über den Gemeindebau bin ich zu folgenden Faktoren gekommen, die, so scheint es mir, unbedingt bedacht werden müssen, wenn man eine Gemeinde im Sinne Gottes bauen möchte, die Menschen erreicht, begeistert und im Glauben fördert:
Die Gemeinde muss als Gottes Haus gebaut werden. Nicht Menschen, so wichtig sie in der Gemeinde sind, sondern Gott muss die eigentliche Mitte der Gemeinde sein. Schließlich ist er die Quelle allen Lebens, aller Kreativität und aller Begeisterung – er, der dreieinige Gott, der Vater, Sohn und Heilige Geist. Wer Gemeinde als den interessantesten Platz unter der Sonne haben will, der sollte Gott in ihrer Mitte haben. Der erste Faktor, den wir bedenken müssen, ist Gott.
Gemeinde als Haus Gottes ist wesentlich von der sozialen Kultur geprägt, die sich auf das Wesen des dreieinigen Gottes gründet. Und diese ist am besten beschrieben als Liebe. Kein anderer Begriff gibt das Beziehungsgeflecht zwischen Vater, Sohn und dem Heiligen Geist besser wieder. Gott ist sich in sich selbst einig, weil er als Liebe existiert. Gott ist Liebe (1. Joh. 4,8). Und wer sein Haus baut, der wird auf Liebe bauen müssen. Unser zweiter Faktor im Gemeindebau ist deshalb Liebe.
Liebe zeichnet sich durch gegenseitiges Vertrauen aus. Wer liebt, der glaubt seinem Geliebten, vertraut ihm und wird sich in jeder Situation auf ihn oder sie verlassen können. Liebende entziehen sich einander nicht. Das tut auch Gott in sich selbst nicht, das möchte er auch für seine Gemeinde nicht. Glaube und Vertrauen zeichnet sie aus. Der Faktor Vertrauen definiert somit eine gesunde Gemeinde.
Und wo man liebt und vertraut, da gibt es Hoffnung. Deshalb bezeichnet die Bibel Gott als einen „Gott aller Hoffnung“ (Röm. 15,13). Eine Gemeinde mit Gott in der Mitte ist ein „Haus der Hoffnung“. In ihr finden Menschen neue Lebens-perspektiven. Der vierte Faktor im Gemeindebau heißt deshalb Hoffnung.
Gemeinde wird in dieser Welt gebaut. An keiner anderen Stelle wird deshalb so deutlich und klar, was Gott mit dieser Welt vorhat, wie in seiner Gemeinde. Und konsequenterweise ist sie sich dieser Berufung bewusst. Sie weiß davon, eine Berufene Gottes zu sein. Damit ist der nächste Faktor im Gemeindebau genannt – Auftrag. Gottes Gemeinde ist eine missionarische Gemeinde.
Im Raum der Gnade begegnen wir Menschen dem Heiligen Geist, der uns verändern und in die ganze Fülle Gottes führen möchte. So werden wir, einst Sünder, nicht nur gerecht gesprochen, sondern Heilige und Gerechte. Diesen Prozess nennen wir Heiligung. Ohne Heiligung wird niemand Gott sehen und keine Gemeinde wachsen können. Deshalb lautet der sechste Faktor Heiligung.
Freilich ist Gottes Auftrag schnell Überforderung für jeden Menschen. Wer von uns wollte sich selbst zutrauen, so gut zu sein wie Gott selbst? So zu lieben, zu glauben und zu hoffen wie er? Wohl keiner. Gerade deshalb macht die Bibel deutlich, dass die Gemeinde ein Kind der Gnade ist. Gnade ist es, woher wir kommen, und Gnade ist es, die uns unser Leben lang begleitet. In einer Gemeinde, die Gott kennt, wird deshalb unser siebter Faktor großgeschrieben: Gnade.
Menschen, die unter der Führung des Heiligen Geistes leben, nennt das Neue Testament „Jünger“ oder „Nachfolger“ Jesu. Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Nachfolgern, von Menschen, die ihr Leben bewusst auf Jesus ausrichten. Der achte Faktor effektiver Gemeindearbeit heißt daher Jüngerschaft.
Jünger Jesu sind Menschen, die zu Gott gehören. Und doch leben sie noch auf der Erde. Sie sind nicht von dieser Welt, aber alles in ihrem Leben hat mit der Welt zu tun. Sie leben bewusst an der Grenze zwischen Himmel und Erde, sind in beiden Welten innerlich zu Hause. Eine solche Schwellen-Existenz nennen wir Liminalität und sie begründet unseren neunten Faktor.
Wo Gnade erlebt wird, da ist Raum für Wunder, für jene Handlungen und Taten Gottes, die wir Menschen von uns aus niemals zustande bringen würden. Und die Gemeinde ist ein solcher Raum, an dem Gott handelt. Sie ist der Platz, wo Wunder erlebt werden. Und diese Zeichen seiner Gegenwart ziehen die Menschen an. Unser letzter Faktor im effektiven Gemeindebau heißt Wunder.
Zehn Faktoren, zehn Fragen und zehn Entscheidungen – für einen effektiven, interessanten, begeisterungsfähigen Gemeindebau. Wer so Gemeinde bauen will, wird sich diesen Fragen stellen müssen. Wir tun es, indem wir einen Test zur Situation in unserer Gemeinde durchführen. Auf diese Weise wird klar, inwieweit die genannten Faktoren in der Gemeinde eine Rolle spielen.