Seine liebenswerte Art hat er in besonderer Weise meine heranwachsenden Kinder spüren lassen, wenn sie zur Glaubenskonferenz in die Hammerhütte nach Siegen mitfuhren. Freundlich hat er sie begrüßt und sich Zeit für ein längeres Gespräch mit unseren beiden Ältesten genommen. Anne-Ruth und Gottfried standen nach dem Abitur vor der Frage: Welchen Beruf sollen wir ergreifen? Hilfreich waren seine Argumente, als er besonders unserem Sohn Mut machte, Theologie zu studieren und sich in den Dienst unserer Kirche stellen zu lassen. Gott brauche tapfere, mutige Verkündiger in unserem Land. Seine freundliche und liebevolle Art zeigte sich auch darin, dass er nach einer solchen Unterredung ihnen beiden Essensmarken in die Hand drückte mit den Worten: „Auf unserer Tagung hier soll es euch gut gehen. Ihr sollt keinen Hunger leiden.“
Ich war immer sehr dankbar, wenn meine Kinder Kontakt zu solchen Gottesmännern fanden und gerne mit uns die Glaubenskonferenzen besuchten. Ihr junges Leben mit Gott brauchte eine kluge Wegführung und eine starke Ermutigung.
In Siegen lernte ich auch Herrn Pfarrer Paul Deitenbeck kennen. Er begegnete mir auf dem Flur, als er nach seinem Vortrag meinen Mann herzlich begrüßte und sich freute, auch mich kennenzulernen. „Ehepaar Bormuth, wie lange seid ihr schon miteinander verbunden?“
„Über dreißig Jahre“, lautete unsere Antwort.
„Dann stellt euch hier zu mir an die Wand, damit ich euch segnen kann.“
Wie wohl taten mir die Worte dieses Pfarrers, der nicht nur mit meinem Mann durch den Dienst im Gnadauer Gemeinschaftsverband verbunden war, sondern auch mich mit unserer großen Kinderschar in seine Gebete einschloss und uns unter Gottes Segen stellte. Pfarrer Deitenbeck hat mich auch noch mehr Liebe erfahren lassen. Einmal drückte er mir mit einem frohen Lächeln auf seinem Gesicht fünf DM in die Hand mit den Worten: „Für eine Gurke oder eine Tafel Schokolade.“ Ich klebte mir dieses Geldstück zu Hause an die Tür meines Backofens. Dieses Silberstück war mir höchst wertvoll, denn es erinnerte mich an einen Menschen, dem auch ich im Glauben an Gott verbunden sein durfte. Für eine Gurke oder eine Tafel Schokolade war mir dieses Geldstück viel zu kostbar.
Die herzliche Beziehung zu ihm blieb mir noch lange erhalten. Jedes Mal, wenn ich ein neues Buch auf den Markt brachte und es ihm mit einer Widmung zuschickte, bedankte er sich bei mir und bestellte gleich 20 neue dazu. Weil es ihm ein Anliegen war, andere zu beschenken und ihnen Gutes zu tun, brauchte er immer gute, praktische christliche Literatur zum Weitergeben.
Von ihm wurde mir noch eine andere nette Begebenheit berichtet. Sie hat mir sehr imponiert. Es war Weihnachten, und er kam an einer Fleischerei vorbei. Auf der Straße sah er einen Trupp von Bauarbeitern stehen, die bei Eiseskälte neue Rohre verlegen mussten. Da ging er auf die Männer zu und begrüßte sie: „Heute feiern wir Christfest. Ihr sollt auch an der Freude dieses Tages teilhaben. Jesus ist für uns geboren. Jedem von euch spendiere ich eine Bratwurst mit Brötchen. Begleitet mich in den Laden.“ Die Truppe der Männer ließ sich dies nicht zweimal sagen und folgte ihm zur Theke. Die Arbeiter waren von der freundlichen Art ihres Ortspfarrers überrascht. Ich musste denken: So gewinnt man seine Schäfchen in der Gemeinde.
Pfarrer Deitenbeck hatte eine liebe Art, Menschen spontan zu begegnen und ihnen wohlzutun. Ich muss sicher gar nicht erwähnen, dass seine Gottesdienste immer sehr gut besucht waren. Und nun durfte auch ich in diese Liebesbeziehung mit hineingenommen sein und wurde später noch mit vielen Liebesgaben und manch herzlichen Grüßen bedacht.
Zu den Menschen, die mir bedeutsam geworden sind, gehört auch die Oberin des Diakonissen-Mutterhauses in Aidlingen. Im Nachbarort Gärtringen war ich zu einem Vortrag eingeladen. Von Aidlingen hatte ich schon viel Gutes gehört und so war ich hocherfreut, als mich ein Anruf erreichte, ob ich denn auch zu einem Bibelkreis ins Mutterhaus kommen könnte. Gern nahm ich diese Einladung an. Für Sonntagnachmittag war ich zu einer Bibelstunde eingeladen und sollte die Verkündigung übernehmen. Herzlich wurde ich von Schwester Berta empfangen. Sie geleitete mich in den Andachtssaal. Ich hatte mit einem kleinen Kreis von Schwestern gerechnet und nun führte mich die Oberin in einen voll besetzten Saal. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Aber mein Herz schlug noch höher, als ich vorn auf der Bühne stand und die vielen Besucher sah, die auf der Empore saßen. Mir zitterten die Knie, als ich vor dem Rednerpult stand, und war froh, dass meine Aufregung verborgen blieb. Gott schenkte mir seine Gnade zur Predigt an diesem Sonntagnachmittag und die vielen erwartungsfrohen Gesichter erfüllten mein Herz mit Freude.
Mehrmals wurde ich in den folgenden Jahren zu diesem Bibelstundenkreis eingeladen und auch bei den Schwestern durfte ich über meine Vortragsreisen in die neuen Bundesländer berichten. Das Erzgebirge und das Vogtland kannte ich recht gut und es gibt nur wenige Orte, in denen ich noch nicht gewesen bin. Die Schwestern waren am Geschehen in den neuen Bundesländern interessiert, denn die Wende war erst vor Kurzem vollzogen worden und so wurde ich ein gern gesehener Gast bei den lieben Diakonissen.
Aber an einem Morgen wurde ich von einem Brief total überrumpelt. Mit einem recht kurzen Schreiben wurde ich eingeladen, zum Pfingstjugendtreffen zu kommen und dort zu predigen. Hier kamen mehr als achttausend junge Menschen zusammen. Diese Nachricht trieb mich zur Stille im Gebet, denn Angst überfiel mich. Mein Mann ermutigte mich, diesen Auftrag anzunehmen. „Lotte, fahr nach Aidlingen. Du wirst viel Freude an diesem Dienst gewinnen.“ So fuhr ich zum Pfingstjugendtreffen und wurde sehr herzlich von Schwester Berta empfangen. Vor dem Einsatz in dem Riesenzelt trafen wir uns im kleineren Schwesternkreis und falteten unsere Hände. Meine Bitte zu Gott lautete: „Vater im Himmel, leg du mir selbst die Worte auf die Lippen, damit junge Menschen zum Glauben an dich finden. Gib mir Kraft, Weisheit und Vollmacht von dir, dass dem Wirken deines Heiligen Geistes nichts im Wege steht und die jungen Menschen durch dein befreiendes Evangelium zum Heil in dir finden. Amen!“
Staunend stand ich vor dem Rednerpult und sah auf die erwartungsvollen Gesichter. Gott schenkte mir kraftvolle, rettende Worte, und voller Freude über sein Handeln konnte ich meinen Vortrag zu einem guten Ende bringen. Bevor ich dann die Heimreise antrat, ging die Oberin mit einigen Schwestern und mir in einen stillen Raum und wir dankten unserem Herrn für die Freiheit, in unserem Land Gottes wunderbares Evangelium in reichem Maße zu verkündigen. Beim Verabschieden nahm mich Schwester Berta in ihre Arme und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Wie wertvoll war mir dieser Liebesbeweis.
Nun sind darüber schon viele Jahre ins Land gegangen. Schwester Berta ist schon lange in Gottes himmlischer Welt. Mir aber ist die Herzlichkeit und Liebe dieser mutigen Diakonisse in bleibender Erinnerung geblieben.
Inzwischen habe ich das biblische Alter weit überschritten, und doch war es mir jetzt noch einmal vergönnt, zum Dienst nach Aidlingen zu fahren. Im Buchcafé Credo war ich zu einer Lesung eingeladen. Eng wurde es in diesen Räumen, denn immer mehr Besucher drängten herein. Mein Thema lautete „Kerzenduft und Tannengrün“ und ich berichtete über das Wunder der Heiligen Nacht auf Bethlehems Fluren.
Drei Tage später schickte mir einer meiner Leser einen Bericht, den er im Internet über meinen Vortragsabend gefunden hatte. Da-
rüber war ich sehr überrascht. Darin hieß es:
„Wer Lotte Bormuth kennt, weiß, dass sie nicht nur liest, sondern hauptsächlich packend erzählt von bewegenden Erlebnissen und Begegnungen, wie sie das Leben schreibt. Dabei wechselt sich Autobiografisches ab mit ‚Geschichten von nebenan‘. Meisterhaft beschreibt die Autorin, wie die verschiedensten Menschen die herrliche Weihnachtsfreude erlebten. Es wird ein Abend voller bunter Geschichten, die dem Zuhörer ans Herz gehen und die Mut, Zuversicht und Weihnachtsfreude schenken.“
Ich selbst war an diesem Abend von tiefer Ergriffenheit erfüllt über so viel Liebe, die Gott uns durch das Kind in der Krippe schenkt. Die Diakonissen von Aidlingen haben ein weites Herz für die Verkündigung des Evangeliums. Ihre Liebe hat mir wohlgetan und die Erinnerung an Schwester Berta werde ich in großer Dankbarkeit in meinem Herzen behalten.
Einen anderen lieben Freund, der mir in meinem Leben bedeutungsvoll geworden ist, will ich noch erwähnen. Es ist der ehemalige Vorsitzende des Altpietistischen Gemeinschaftsverbandes, Pfarrer Walter Schaal. Ihn lernte ich auch in Siegen auf einer Konferenz kennen. Seine Predigt hat mich im Innersten berührt, und so sprach ich ihn an. In mir hatte sich einiges angesammelt, das ich in einem Beichtgespräch zur Sprache bringen wollte. Es war eine längere Unterredung, die wir in einem Hotel beim Mittagessen führten. Eine Reihe von Schwierigkeiten bedrängten mich. Meine Kinder waren erwachsen geworden und ich musste meinen Erziehungsstil ändern. Dessen war ich mir bewusst. Oft war es die Angst, die mich bedrängte, wenn sie abends so spät nach Hause kamen. Ich konnte in der Nacht erst einschlafen, wenn ich wusste, dass sie alle in ihren Betten lagen. Mein Mann hatte schon längst zu einem gesunden Schlaf gefunden, während ich mich unruhig in den Kissen wälzte. Damals wurden in den Schulen und Diskotheken viele Feste gefeiert, die erst spät ihr Ende fanden. Alkohol und Drogen waren für die Jugendlichen zu einer großen Gefahr geworden. Ich meinte, die Kinder mit Strenge in der Erziehung vor diesem verderblichen Einfluss bewahren zu können. Aber nun war für mich die Zeit gekommen, meine Kinder loszulassen und sie nicht mit unnötigen Befehlen zu gängeln. Schreien und Schimpfen waren nicht die rechte Art, meine Fünf in den bewahrenden Gleisen zu halten. So war ich an ihnen schuldig geworden.
Als unser Gottfried 18 Jahre alt geworden war, wollte ich mich in meinem Verhalten ändern und ihn nicht mehr mit strengen Regeln in die Schranken weisen. So änderte ich mich und schwieg zwei oder drei Tage, wenn er wieder viel zu spät in der Nacht nach Hause gekommen war. Aber am vierten Tag meinte ich, durchgreifen zu müssen, und tadelte ihn schon wieder. „Mutter“, sagte er ziemlich empört, „drei Tage warst du vernünftig und hast dich mir gegenüber korrekt verhalten, aber nun fängt deine alte Leier wieder an. Bin ich jetzt volljährig oder nicht?“
Ich musste meinem Sohn recht geben und gestand vor meinem Seelsorger mein ängstliches, aber total falsches Verhalten ein. Meine Art, unseren erwachsenen Kindern zu begegnen, war von Furcht geprägt. Pfarrer Schaal hörte mir aufmerksam zu. Dann sagte er zu mir: „Rechte Erziehung ist eine der schwierigsten Aufgaben in der Familie. Aber wir dürfen unser Leben lang Lernende bleiben. Es ist gut, wenn Gott uns auf unsere Fehler aufmerksam macht und wir ihm recht geben. Er will uns unsere Schuld verzeihen. Ich danke Ihnen, Frau Bormuth, für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben. Sie haben Ihr Versagen erkannt und nun alles in Gottes Ohr hineingeredet. Der Herr ist ein verständnisvoller und versöhnender Vater. Sie dürfen Neues wagen. Ist es Ihnen recht, wenn ich noch mit Ihnen bete?“ Und so falteten wir unsere Hände. Just in diesem Augenblick stand die Kellnerin hinter uns und wollte kassieren. Sie merkte sofort, dass sie uns jetzt nicht stören durfte, und trat zwei Schritte zurück. Das war ihr in der Weise sicher noch nie passiert. Erst als wir Amen gesagt hatten, kam sie wieder auf uns zu. Mir war jetzt wohler zumute, da ich mir alles Belastende von der Seele geredet hatte.
Es ist immer hilfreich, das Versagen vor Gott zu bringen. Und doch fragte ich mich: War es richtig, einem Pfarrer, mit dem mein Mann im Gnadauer Verband als sein Mitarbeiter eng verbunden ist, meine Schuld zu bekennen? Was wird er denken, wie es in unserer Familie zugeht?
Aber mein Gewissen musste mich nicht lange plagen, denn schon am nächsten Morgen trat Herr Pfarrer Schaal auf mich zu und bat mich, die Rüstzeit für die Predigerfrauen in seinem Verband zu übernehmen. Ich konnte die Einladung zu diesem Dienst kaum begreifen. Ganz neu aber wurde mir das Wort aus dem ersten Johannesbrief bewusst: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünde bekennen, so ist Jesus treu und gerecht, dass er uns unsere Schuld vergibt und reinigt uns von aller Untugend. Wenn wir im Licht wandeln, wie er im Licht ist, haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ Ganz neu begriff ich, welch wunderbares Heil uns Jesus erworben hat. Die Vergebung und Aussöhnung mit ihm ist Jesu größte Tat.
Mehrere Jahre hintereinander durfte ich diese Rüstzeiten für Herrn Pfarrer Schaal in Schwäbisch Gmünd halten. Welch großes Vertrauen brachte mir mein Beichtvater entgegen!