Als LEHRER ist er so engagiert und weiß so viel, dass er sich den Markennamen „Rabbi“ verdient hat.
Als BRUDER gehört er zum Gründungskreis der Gethsemanebruderschaft, der späteren Koinonia. Über seine Leitungsverantwortung darin und die vielfältigen Impulse wird er weit darüber hinaus für viele zu einem Bruder auf Augenhöhe. Seine Beziehungen reichen bis nach Südafrika.
Als WEGGEFÄHRTE ist nicht nur das Lehren, sondern auch das Wandern seine Leidenschaft. Viele Gegenden hat er mit Weggefährten durchwandert. Darüber hinaus begleitet er viele menschlich, seelsorgerlich und spirituell auf ihren Lebenswegen.
Schüler, Geschwister und Weggefährten haben sich zusammengetan, um diesen spirituellen Schriftsteller und Kinderfreund zum 80. Geburtstag zu würdigen. Ihre Erkenntnisse und Erinnerungen ergeben einen bunten Blumenstrauß.
Vorwort
Viele werden Reinhard Deichgräbers zu seinem achtzigsten Geburtstag am 18. 9. 2016 gedenken. Einige unter ihnen haben sich zusammengetan, dem, der selbst so viele Bücher und Beiträge geschrieben hat, nun umgekehrt gemeinsam dieses Buch zu widmen. Für ihren „Rabbi“, wie er auch liebevoll genannt wird, spiegeln sie ihre Erfahrungen mit ihm, schildern ihre Wandlungen durch ihn und halten ihre Eindrücke von ihm fest.
Vielleicht werden darunter einige vermisst, die auch noch hätten schreiben können; andere werden entdeckt werden, die nun mitgeschrieben haben; wieder andere hätten schreiben wollen, sind aber nicht dazu gekommen. Aus solchen geschichtlichen Zufälligkeiten ist ein bunter, reicher „Blumenstrauß“ entstanden, der „Rabbi“ auf vielfältige Weise erscheinen lässt.
Drei für ihn typische Begriffe haben sich zu dem Titel verdichtet: REINHARD DEICHGRÄBER – LEHRER, BRUDER, WEGGEFÄHRTE. Denn LEHREN – das Alte Testament, die Lebenskunde, das betrachtende Gebet – ist sein Lebenselement, ob im Unterricht, auf Einkehrfreizeiten, im Gespräch oder schriftlich durch Briefe, Beiträge, Artikel und Bücher. BRUDER war er auf Augenhöhe nicht nur in seiner Geschwisterschaft, der Koinonia, sondern auch im Missionsseminar und jedem anderen gegenüber. Und WEGGEFÄHRTE wurde er für viele Mitwanderer und im übertragenen Sinne als seelsorgerlicher Begleiter auf so manchem Lebensweg.
Mein Dank gilt allen, die Lust und Mut aufgebracht haben, zu diesem Buch beizutragen. In erster Linie denen, die zu diesem Unternehmen angeregt haben: Jochen Bobka, Hartmut Schönherr und Ernst-August Lüdemann und dem Lenkungskreis der Koinonia, sodann dem Engagement Detlef Graf von der Pahlens und vor allem Dr. Christian Ottemanns, die ein gründliches Literaturverzeichnis erstellt haben. Insbesondere danke ich meiner Frau Dorothea, die in vielen Gesprächen und mit Korrekturvorschlägen zu ordnen und zu motivieren half, sowie Reinhard Deichgräbers Schwester Hildegard Danner, die sich schon früher als versierte Lektorin ihres Bruders erwiesen hat. Ganz besonderer Dank schließlich gilt dem Francke-Verlag und seiner Verlegerin Anne Meiß, ohne die dieses Buch nicht hätte zu so günstigen Konditionen erscheinen können.
Hermannsburg, den 25. März 2016
Georg Gremels
Einleitung
„Ins Wasser fällt ein Stein, ganz heimlich, still und leise:
und ist er noch so klein, er zieht doch große Kreise.
Wo Gottes große Liebe in einen Menschen fällt,
da wirkt sie fort in Tat und Wort hinaus in unsre Welt.“
Evangelisches Gesangbuch 603,1
Ein bisschen passt etwas von dem, was das obige Lied besingt, zu Reinhard Deichgräber. Er gehört nicht zu denjenigen, die sich selbstgefällig in Szene setzen. Er erhebt seine Stimme auch nicht, um sich lauthals durchzusetzen. Er neigt nicht zu dramatischen Veranstaltungen. Nein, er kommt in der Regel leise – wenngleich auch klar und bestimmt – einher. Und doch zieht sein Wirken über die Jahre hin weite Kreise bis nach Südafrika, so weit, dass er zu einem der bedeutenden spirituellen Schriftsteller unserer Tage zählt.
Eigentlich war er immer einer der Jüngsten, ob in der Jugendarbeit oder am Seminar; und wenn nicht, dann sah er doch fast immer jünger aus. Bis heute! Äußerlich – abgesehen von seinen vielen Wanderungen und Reisen – verläuft sein Leben übersichtlich. Geboren ist er in Marburg und aufgewachsen in Göttingen. Studiert hat er dort und in Heidelberg. Dann wurde er für dreißig Jahre theologischer Lehrer am Missionsseminar in Hermannsburg, um nach einer Schleife über das Bildungsreferat des ELM und im Ruhestand über Malente in Schleswig-Holstein wieder nach Hermannsburg zurückzukehren.
Aus einem Professorenhaus stammend, war er für eine akademische Laufbahn nicht nur prädestiniert, sondern beschritt sie mit großem Erfolg. Die Lobgesänge im Neuen Testament, die Entschlüsselung der Funde in den Qumranhöhlen, das alles hielt den jungen Assistenten in Heidelberg in Atem. Aber wie kommt ein junger, zum Doktor promovierter Theologe auf einer verheißungsvollen Assistentenstelle in Heidelberg ausgerechnet nach Hermannsburg an das Missionsseminar? Das Rätsel lässt sich ohne sein wohl tiefstes und wesentlichstes Gegenüber – Olav Hanssen – nicht lösen.
Foto 1: Reinhard Deichgräber vor einem Gemälde von
Olav Hanssen (EALüdemann)
Denn ein zweiter roter Faden zieht sich seit seiner Schulzeit durch sein Leben. Schon mit zwölf Jahren nimmt er an Morgenandachten junger Menschen teil, die sich um den Kriegsheimkehrer und Theologiestudenten Olav Hanssen in Göttingen sammeln. Er gehört als Jüngster zu dessen engerem Freundeskreis, dem „Klein-Süntel-Kreis“. Sein erstes Gespräch mit Olav Hanssen hatte er 1954, ein späteres – noch während seiner Forschertätigkeit am 8. März 1963 – führt zu einer Lebenswende. Sie gipfelt in seiner Berufung 1965 als „frischgebackener“ Doktor der Theologie nach Hermannsburg. Seither ist er fest in die Geschwisterschaft der Koinonia eingebunden und gehört – lange leitend – bis heute zum Epiphaniaskreis der Koinonia.
Er beginnt mit Olav Hanssen, Wolfgang Bartholomae, Klaus Vollmer, Wolfgang Kubik und anderen Lehre und Leben des Missionsseminars neu zu füllen. Dreißig Jahre unterrichtet er dort als Dozent für das Alte Testament, als Leiter der Mitarbeiterschule und des Theologenjahrs, als Leiter der Bruderschaft am Seminar, als Lehrer in Bibelkunde, Lebenskunde und als Wegweiser in die Praxis des betrachtenden Gebets. So hat er eine ganze Generation von Missionaren, Theologen und Laien geprägt. Das Missionsseminar wird zu seinem Lebensschicksal und zum Ort tiefgreifender Herausforderungen. Sie werden zur Ursache für die Bewegungen, die von diesem „neueren Hermannsburg“ ausgingen.
LEHREN NICHT ALLEIN – SONDERN WANDERN UND LEHREN:
Leitend für diese Doppelheit wurde das Evangelium selbst: „Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Sy-
nagogen ...“ (Mt 9,35) Das Wandern war die Entdeckung, die dem jungen Wissenschaftler Reinhard Deichgräber zur Lebenswende verhalf. Denn er, der sich ganz in die Wissenschaft vergraben hatte, entdeckte nach einem Gespräch mit Olav Hanssen – gesundheitlich geschwächt und nach langer Abstinenz – das Wandern wieder. Gleich bei seiner ersten Wanderung am Neckar erfuhr er die gesundende Kraft der Bewegung, die inspirierenden Eindrücke, ja, sogar seine brachliegenden Reserven bei der Bewältigung einer eindrucksvollen Strecke von 38 Kilometern. Fortan wird er nicht nur selbst ein leidenschaftlicher Wanderer und Jogger, sondern wird viele mit auf den Pfad des Wanderns – und was er besonders liebte: den Pfad des Gesanges – nehmen. Beispielhaft wird das an seinem Schülerkreis und an seinen Mitarbeiterschülern sichtbar. Vieles aus der Jugendbewegung – vor allem auch ihre Lieder – wurden auf diesen Wanderungen lebendig.
Die wissenschaftliche Lehre gehörte von Kindesbeinen an zu dem, was sein Leben prägte. Seine Liebe zur Rationalität lässt sich vermutlich nirgends besser als an seiner Liebe zu Bundesbahnfahrplänen ablesen, die er seit seiner Jugend auswendig im Kopf hatte. Später im Theologiestudium konzentrierte sich für ihn die Lehre auf das eine Buch, das Gott hatte schreiben lassen, die Bibel. Mit den gesammelten Kräften seines Verstandes grub er sich in ihre Tiefen hinein. Doch hatte Gott noch ein zweites Buch „geschrieben“: das Buch der Schöpfung und der Natur. In ihm zu lesen und in ihm zu leben lehrte Reinhard Deichgräber das Wandern.
Seine Leidenschaft für die Fotografie half ihm, sich nicht nur auf die existenzielle Lebensbewegung einzulassen, sondern auch Sehen zu lernen. Nicht umsonst trägt die Programmschrift, die Olav Hanssen mit ihm zusammen herausgab, den Titel: Leben heißt Sehen! Das war und ist gewiss auch gegen die Wortlastigkeit der theologischen Zunft gerichtet.
BRUDER
Er gehörte von Anfang an dazu, als sich am Missionsseminar nach den verstörenden Eindrücken der Afrikareise Olav Hanssens in der alten Bruderschaft der Missionsseminaristen und Missionare eine neue Bruderschaft, die Gethsemanebruderschaft, zu sammeln begann, die sich schon bald den Namen Koinonia gab. Wie könnten isolierte Missionare angesichts der Anforderungen und Anfechtungen in den Missionsgebieten und Partnerkirchen spirituell lebendig bleiben? Doch nur, wenn sie sich zu einem verbindlichen, intensiven geistlichen Leben verabredeten. Dieser Einsicht folgend gehören die fortlaufende Lektüre des Matthäus-
evangeliums und die tägliche Betrachtung von Bibeltexten zu den Grundregeln dieser Bewegung.
Doch ist Brudersein mehr als nur eine gemeinsame Verankerung durch ein spirituelles Leben. Brudersein will den Individualismus, diese höchste und letzte Krönung der Neuzeit, wieder einbinden in ein größeres Ganzes. Dies kann nicht in einem Rückschritt in vorindividuelle, kollektive Lebensweisen geschehen, sondern nur in einem Fortschreiten über die Vereinzelung und Vereinsamung hinaus zu einer Verbundenheit im Geist.
Zu einer solchen Verbundenheit gehört – und das ist typisch für das neuere Hermannsburg – auch ein Denkrahmen, mit dem sich ein Mensch der Wirklichkeit nähert. Jeder Theologe hat – wissentlich oder unwissentlich – einen philosophischen Standpunkt, von dem aus er sich die Offenbarung erschließt. Doch welcher Denkrahmen ist geeignet, um den erfahrenen Gott auch im Denken zu fassen? Das mittelalterliche Ringen zwischen Universalisten und Nominalisten wurde zu einem Grundmodell der neueren „Hermannsburger Theologie“: Der Geist ist nicht nur ein aufgesetztes Phänomen der Materie, sondern ist Ursprung und innerste Mitte allen materiellen Seins. So gehören Gott und Welt zusammen, er als die Mitte und die Welt als Peripherie; sie gehören auch zusammen im Glauben und im Denken. Noch einen Schritt weiter geht es im philosophischen Diskurs am Seminar. In den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wird die Geburtsstunde des Denkens im antiken Griechenland zum Thema. Hier werden insbesondere die Schriften Platons – und da das Symposion – zur inneren Mitte der philosophischen Orientierung.
Bruder im gemeinsamen Leben, Bruder im Glauben, Bruder im Denken und Menschenbruder. Reinhard Deichgräber liebt das Gespräch auf Augenhöhe, in dem sein Gegenüber sein kann, frei sein und selbst sein. Damit bin ich schon beim dritten Stichwort:
WEGBEGLEITER
Er ist so manchem auf Wanderungen zum Wegbegleiter geworden. Doch sei es dabei, sei es in ernsthaften Gesprächen unter vier Augen, sei es am Telefon oder im Briefwechsel, ja, auch über seine Bücher hat er viele Menschen auf ihren Lebenswegen begleitet. Davon zeugen die Beiträge, die sich in diesem Buch finden.
Nun ist er achtzig Jahre geworden. Es wäre ein Wunder, wenn alles so harmonisch und bruchlos verlaufen wäre, wie es diese kurze Einleitung und die vielen dankbaren Worte erscheinen lassen könnten. Doch es gab, wenn ich es recht sehe, auch Bruchlinien, die sich hinter seinem Lebenslauf nur ahnen lassen: die Enttäuschung, dass sein Traum vom Mönchsein sich nicht in eine ihm gemäße, gemeinsame Lebensgestalt hat umsetzen lassen. Die Trennung von seinem geschätzten Lehrer Olav Hanssen, als dieser zunächst nach Ratzeburg und später nach Riechenberg ging, um dort ein evangelisches Kloster – heute das Gethsemane-
kloster Riechenberg – aufzubauen. Die Erfahrung, dass mit zunehmender Institutionalisierung des Missionswerks als einer Einrichtung dreier Landeskirchen der charismatische Impuls geistiger Wahrheitseinsicht, brüderlicher Gemeinschaft und naturliebender Existenz an den Rand gerieten.
Doch ist bei all dem eine Seite von ihm noch ganz im Schatten geblieben: Reinhard Deichgräber, der spirituelle Schriftsteller! Seine Bücher haben weite Kreise gezogen. In großer, ja, beinahe erschlagender Vielfalt finden sich seine schriftlichen Äußerungen in Rundbriefen, Beiträgen und Artikeln, von Briefen ganz zu schweigen, die eines Tages vielleicht einmal gesammelt werden. Ein wenig davon gibt das Literaturverzeichnis wieder. Viele seiner Schüler, Kollegen, Freunde und Weggefährten haben sich zusammengetan, um ihn mit ihren Erfahrungen, Erkenntnissen und Eindrücken zu ehren.
Wie aber die Fülle dieses bunten Blumenstraußes an Beiträgen ordnen? Zuerst habe ich das historische Schema zu Hilfe genommen. So folgen die Beiträge dem Lauf seines Lebens und den Zeiten, in denen die Autorinnen und Autoren Reinhard Deichgräber begegnet sind. Doch ist damit nur ein Ordnungsschema genannt. Das andere ist systematischer Natur. So kommt unter der Überschrift „Theologisches“ – die Würdigung seiner Doktorarbeit – auch „Humoriges“ – die Sache mit dem „geklauten Professor“ – und viel Späteres zusammen, bei dem ein Kollege des Seminars in Hermannsburg und einer des Seminars in Marang/Südafrika eingereiht wurden.
Oder: Reinhard Deichgräber war zugleich Lehrer für Altes Testament am Missionsseminar und Leiter und Lehrer der Mitarbeiterschule, die dem Seminar angegliedert war. Doch wem sollte der Vorrang gegeben werden? Und was, wenn jemand beides besuchte, die Mitarbeiterschule und dann das Seminar? Ich habe mich entschieden, mit den Beiträgen der Missionsseminaristen zu beginnen und dann die der Mitarbeiterschüler folgen zu lassen. Aber wie alle Systematiken – ganz passen sie nicht auf das pralle Leben und hier auf den bunten Stoff!
Da manche Menschen Bücher von hinten zu lesen beginnen, sind zwei wertvolle Beiträge ganz am Schluss gelandet: die Würdigung Reinhard Deichgräbers als Schriftsteller – denn das passt zum Literaturverzeichnis – und ein heiteres Gedicht, das sein reiches Leben auf originelle Weise zusammenfasst. – Ach ja, das Literaturverzeichnis! Wenn ich alle seine Veröffentlichungen aufgeführt hätte, hätte es den Umfang dieses Buches gesprengt! Deswegen habe ich mich in Absprache mit Christian Ottemann und Detlef Graf von der Pahlen dafür entschieden, nur eine Auswahl wiederzugeben und das vollständige Verzeichnis ins Netz zu stellen (http://gremels.de/buecher/lebensbilder/reinhard-deichgraeber/literaturverzeichnis-reinhard-deichgraeber ).
Viele wären ohne Reinhard Deichgräber nicht zu dem geworden, was sie sind. Stellvertretend für sie nenne ich die verschiedenen Kreise, die von Hermannsburg ausgegangen sind. Dabei stammen die Jahreszahlen aus den Reflexionen, die Reinhard Deichgräber selbst für „Olav Hanssen – 1915–2005“ in „zehn freundschaftliche(n) Briefe(n)“ zusammengestellt hat: der Gethsemanekreis (1963), die rote und blaue Koinonia, die Communität der Koinonia (1976), die Gruppe 153 (seit etwa 1960), die Evangelische Geschwisterschaft (ehemals Kleine Brüder vom Kreuz; seit 1969), der Freundeskreis Missionarischer Dienste zunächst in Lutterloh, dann in Hanstedt I (1970) und ich ergänze: das Gethsemanekloster, erst in Ratzeburg und dann in Riechenberg. Daher schließt sich dieser Zusammenfassung ein Wunsch an: Möge der Impuls doch weiterhin weite Kreise ziehen.
Nicht vergessen will ich die anderen, die zu Reinhard Deichgräbers Geburtstag Schriftliches herausgeben werden. Ich nenne die mir bekannten hier:
Festschrift zum 80. Geburtstag von Reinhard Deichgräber, Hg. von der Koinonia; zu bestellen über: Dr. Hansgünter Ludewig, Schlossplatz 8, 38304 Wolfenbüttel.
Reinhard Deichgräber, Er gebe uns ein fröhlich Herz – Singen, beten, loben – (Hgg.) Detlev Graf von der Pahlen, Dr. Reiner Andreas Neuschäfer, Freimundverlag 2016.
In Planung: Reinhard Deichgräbers gesammelte Auslegungen zu Sprüchen von Angelus Silesius, Hg. Epiphaniaskreis der Koinonia.
Bleibt mir noch eine Schlussbemerkung übrig. Martin Heidegger meinte in seiner berühmten Rede in Meßkirch zu Ehren des Komponisten Conradin Kreutzer: „Wenn wir einen jener Menschen feiern sollen, die berufen sind, Werke zu schaffen, dann gilt es vor allem, das Werk gebührend zu ehren. [...] Je größer ein Meister ist, umso reiner verschwindet seine Person hinter seinem Werk.“
Das ist eine weitverbreitete Sicht dessen, was ein Mensch allgemein, losgelöst von seiner Existenz und seiner geschichtlichen Persönlichkeit, als sein Werk hervorbringen kann. Doch über den Namen hinaus ist es dieser lebendige Mensch mit diesen Eigenheiten, der ein solches Werk schafft. Und alle, die sein Werk wahrnehmen, sind wiederum lebendige Menschen mit ihren Eigentümlichkeiten, ihren Licht- und Schattenseiten. Und deswegen gehört es zur besonderen Eigenart dieses Buches, dass die Person nicht hinter dem Werk verschwindet. Sondern vielmehr sollen der Jubilar wie die Mitschreibenden hinter den Erkenntnissen und Einsichten sichtbar werden. Denn, um einen anderen Großen zu zitieren: „Was im Hirn ist, ist im Hirn; und Existenz ist die erste aller Eigenschaften.“
Foto 2: Der Rabbi (ChrOttemann)
Eine Geburtstagsandacht
Kristlieb Adloff, Dr. theol., Jahrgang 1934. Studium der Theologie und Philosophie in Neuendettelsau, Mainz, Heidelberg und Erlangen. Pfarrer in München und Umgebung, wiss. Assistent an der Ruhr-Universität Bochum, Gemeindepfarrer in Bochum, theologischer Lektor im Neukirchener Verlag, von 1980 bis 1996 Dozent am Missionsseminar. Seit 1997 als Pfarrer i. R. in Wolfenbüttel, verheiratet mit Ingrid, geb. Crämer.
Vorweg:
Natürlich interessiert mich, der ich seit meiner Begegnung mit Menschen aus dem Volk Israel aus der gewohnten Theologenbahn geworfen und auf andere Wege gewiesen war, von Anfang an ein Kollege, der „Rabbi“ genannt wurde. Vieles aus den gemeinsamen Jahren mit Reinhard Deichgräber bleibt mir denkwürdig. Ich greife nur eins heraus: Als Hausvater hielt er regelmäßig Geburtstagsandachten für Studierende und Dozenten. Er tat das in einer unnachahmlichen, ebenso tiefgründigen wie sensiblen und charmanten Art und Weise. Da er sich stets an die Herrnhuter Tageslosung hielt, auch wenn den Seminarleiter das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ traf, wage ich es, dem Geburtstagskind auch eine Geburtstagsandacht mit der Losung vom 18. September 2016 zu widmen.
Fürchte dich nicht, Abram! Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn. (1. Mose 15,1)
Lieber Herr Deichgräber!
In einer seiner schönsten Schriften erinnert Martin Buber an einen Ausspruch des in die Jahre gekommenen chassidischen Rabbi Sussja: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ‚Warum bist du nicht Mose gewesen?‘ Man wird mich fragen: ‚Warum bist du nicht Sussja gewesen?‘“ Und so wird es sein: Man wird Sie, liebes mit schöner und gewichtiger Losung beschenktes Geburtstagskind, nicht fragen: „Warum bist du nicht Abraham gewesen?“ Abraham, der Glaubensgigant und Mann von Prüfungen, an die wir nicht ohne Schaudern zu denken wagen, sondern: „Warum bist du nicht Reinhard Deichgräber gewesen?“ Wie Abraham sind ja auch Sie mit einem – mit Ihrem! – Namen von Gott angerufen, der wie jeder Name bei Gott einmalig ist. Und wenn Sie wie wir alle gern an Geburtstagen „mit Abrahams Samen“ den Gott loben, der (sag, was du willst, mein trotziges und verzagtes Herz!) „alles so herrlich regieret“, dann ist das so, sogar so, „wie es dir selber gefällt“, „meine geliebete Seele“, mit allem, „was in mir ist“.
Der Gott, der mit Abraham geredet hat, der sagt die ganze Bibel hindurch unentwegt sein „Fürchte dich nicht!“, nicht weil wir alle von Natur Angsthasen wären und es nicht mit allen möglichen furchterregenden Gottheiten aufzunehmen vermöchten, sondern weil wir gerade die Anrede des Gottes Israels fürchten, die mich unverwechselbar an die Seite dieses Gottes stellt, damit ich antworte, wie es der biblische Mensch tut, dem Gott die Furcht vor sich selbst, vor den eigenen Möglichkeiten, genommen hat: „Hier bin ich.“ Da reicht Ihnen, dem das Losungswort des heutigen Tages zugedacht ist, der große Abraham seinen Schild, den er von Gott bekam in einer Nacht, die er wie andere Nächte und Tage auch wohl kaum ohne diesen Schild bestanden hätte, damit Gott auch Sie festhalte an dem Ort, an dem Sie stehen dürfen vor IHM, sogar schlafen: Abrahams Schild, damit der Sie verteidige gegen jene Verzweiflung, die Ihnen einreden will, auf Sie komme es nicht an. Ach, Abrahams „gestirnter Himmel“, der könnte uns doch auch erschlagen, namenlos machen mit seiner kalten Unendlichkeit! Aber bei Abraham ist’s ja anders: Ohne ihn würde es diese unzählbaren Sterne, würde es dieses Volk (Leo Baeck) Israel nicht geben! So zählt Gott, der große Mathematiker, auf ihn, ja er, der alle Sterne zählt, „kennt auch dich und hat dich lieb“, weil er dich will.
Begnügen wir uns doch nicht mit dem matten Trost der Sprache Neu-Kanaans: „Gott nimmt einen jeden Menschen an, wie er ist.“ Aber wie bin ich denn? Ich weiß es nicht und muss es nicht wissen. Gott weiß es, indem er weiß, wie ich sein werde durch alles, womit er mich begabt hat. Der hochverehrte Herr Immanuel (was für ein schöner Name!) Kant möge mir verzeihen, dem unter dem Sternenhimmel, dem bewunderten, nur das moralische Gesetz blieb, reine Pflicht, ohne Aussicht auf Lohn, ganz ohne Neigung. Der Gott Abrahams weiß unverdient zu lohnen, und das nicht nur kärglich, sondern überreichlich. Und wenn uns Christenmenschen „Abrams Lohn“ in der Person Jesu auf- und einleuchtet, dann nehmen wir (sei’s drum: wir armen Sünder!) ungeniert von diesem Reichtum, von dem Gott, der sich aus Liebe zu uns verzehrt. Sie, lieber Herr Deichgräber, dürfen sich an diesem Tag freuen über die vielen, die Ihnen danken möchten für alles, was sie von Ihnen an Beistand, Hilfe und Trost empfangen haben. Und sagen Sie nicht zu den Ihnen Dankenden: „Da nich für!“, obwohl es doch so ist, dass alles, was wir vermögen, nicht von uns stammt. Wir wissen oft wirklich nicht, wofür uns jemand danken sollte, wir, die wir zwar pflichtschuldig zu handeln vermögen, aber die Liebe schuldig bleiben. Lassen Sie sich Gott zuliebe den Dank gefallen, als Zeichen dafür, dass Gott seine Verheißung an Ihnen wahrmachen wird. Am Ende soll Ihnen nichts und niemand fehlen, auch die nicht, die Sie aus fremder oder eigener Schuld verloren haben. Was wir als Verlust buchen, bleibt auf Gottes Gewinnseite stehen.
Weil wir das oft so schwer zu glauben vermögen, gewährt uns Gott täglich neu sein „Fürchte dich nicht!“, womit er uns nicht nur ruft, sondern ins Leben, ins ewige Leben mit IHM beruft. Da wird Abram nicht Abram, sondern Abraham heißen, und Reinhard Deichgräber wird sich in seinem ihm noch unbekannten neuen Namen wiedererkennen, in dem Namen, der schon jetzt im Himmel geschrieben ist. In Israel singt man gern ein Lied der Dichterin Zelda, in dem sich die folgenden Zeilen finden:
Jeder Mensch hat einen Namen,
Von seinen Sünden ihm verliehen
Und dem, wonach er sich sehnt.
Schalom!