Borken 1963: Als die angehende Pädagogin Margret Pfannstiel auf einem Lehrerfest einen dunkelhaarigen Mann fragt, ob er auch Lehrerpraktikant sei und wo er studiert habe, antwortet dieser: »Nein, ich bin Theologe und habe in Wuppertal, Mainz, Heidelberg und Hamburg studiert. Mein Hobby sind Missionswissenschaften, ich möchte nämlich mal nach Afrika gehen.« Da weiß sie: »Das wird mein Mann!«
In dieser Autobiografie gewährt die Autorin dem Leser einen Blick in ihr bewegtes Leben: 1938 in Ulrichstein im Vogelsberg geboren, heiratet die Tochter eines Gasthausbesitzers 1965 den Theologen Gerhard Lehmann. Doch die gemeinsamen Pläne, nach Afrika zu gehen, zerschlagen sich. Stattdessen zieht das junge Paar zum Vikariat nach Sechshelden bei Dillenburg. Drei Kinder werden ihnen geschenkt. Und bis ins hohe Alter engagiert sich Margret Lehmann als Pfarrfrau ehrenamtlich an der Seite ihres Mannes, zuletzt in Lohra bei Marburg. Durch viele Hochs und Tiefs geht es im Leben der Autorin, aber immer scheint der Glaube an Jesus durch, der ihr auch in dunklen Stunden Mut und Kraft gibt.
Vorwort
Märztag in der Ramsau am Dachstein
Sonnenschein und tiefe Bläue,
weiße Helle ringsumher,
grüner Tann mit schnee’gen Hauben,
du, mein Herz, was willst du mehr?
Mehr noch gibt es nur im Himmel –
doch Ewigkeit beginnt schon hier,
wo ein Mensch es wagt zu sagen:
„Herr, ich bitt’ dich, komm zu mir!“
„Herr, ich bitt’ dich,
komm zu mir!“
Um diese Beziehung soll es in dem vorliegenden Buch gehen. Dass der dreieinige Gott so nahe ist, hat mich oft überrascht. Leider eignet sich nicht jede Episode meines Lebens, veröffentlicht zu werden. Doch auch die Ausschnitte lassen Gottes Spuren entdecken. Um sie nicht zu vergessen, darum habe ich mein Leben aufgeschrieben.
Margret Lehmann
Bad Endbach, April 2012
Bis zur Hochzeit und danach ...
Das kleine Bergstädtchen Ulrichstein im Vogelsberg, Winter 1938.
Die junge Gastwirtin vom „Darmstädter Hof“ bindet sich frühmorgens ihre Schürze um. Sie reißt die Fenster auf, damit der kalte Rauch vom Abend zuvor abzieht. Dann sammelt sie die Biergläser ein. Die Aschenbecher werden geleert und ausgewischt, die Tischtücher zum Fenster hinausgeschüttelt. Die Stühle stellt sie umgekehrt auf den Tisch, so kann sie leichter kehren.
Viele Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Das zweite Kind ist unterwegs. Passend kommt es ihr nicht. Die viele Arbeit! Die Beschwerden der Schwangerschaft. Im Wochenbett wird sie als Köchin ganz ausfallen. Der Kinderfrau, die sich um den anderthalbjährigen Jungen kümmert, wird sie mehr zahlen müssen. Dazu die Schuldenlast des Gasthofes, den ihr Mann und sie vor einigen Jahren einem Onkel abgekauft haben. Oben im Haus wohnt dessen Witwe, der sie das Haus nach und nach abzahlen müssen. Mit 10 Reichsmark Wechselgeld und einem Kästchen Zigarren hatten sie damals angefangen. Wie soll das alles nur gehen?
Da fällt ihr Blick auf den Spruch, der über der Tür zum Gastzimmer hängt:
Beklage nie den Morgen,
der Müh’ und Arbeit gibt.
Es ist so schön zu sorgen
für Menschen, die man liebt.
Der Vers gibt ihr Kraft. Für ihre Lieben da sein – ja, das will sie!
Und dieses Motto hat sie ein Leben lang durchgehalten.
Meine Kindheit
Einige Monate später bin ich auf die Welt gekommen. Zusammen mit meinem zwei Jahre älteren Bruder wuchs ich in einer unruhigen Zeit auf. In der Nähe meines Heimatortes war eine Funkstation, die sogenannte „Hofhöhe“, gebaut worden. Daher fanden deutsche Soldaten Verpflegung und Quartier in unserem Haus.
Für uns Kinder blieb nicht viel Zeit. Nur wenn die Hosen nass oder schmutzig waren, rief die Kinderfrau meine Mutter.
Ich war noch keine vier Jahre alt, als mein Vater eingezogen wurde. Im Gasthaus kehrte Stille ein. Außer uns Kindern und der Mutter lebte nur noch die frühere Besitzerin im ersten Stock. So traurig die Umstände waren, wir Geschwister genossen es, dass wir die Mutter für uns allein hatten.
An ein Weihnachtsfest erinnere ich mich noch gut: Meine Mutter lief am Heiligen Abend immer noch mit der Arbeitsschürze herum. Sie hatte wohl keine Lust, sich festlich anzuziehen, weil mein Vater keinen Urlaub bekommen hatte. Uns Kindern gefiel das überhaupt nicht.
Ja, der Urlaub des Vaters! Er bedeutete für mich ein Stück Paradies. Mit roten Backen fuhren wir zusammen Schlitten. Und – was das Schönste war: In diesen Tagen brauchte ich nicht in den Kindergarten.
Mit fünf Jahren begann für mich die Schule. Während der Schulzeit gab es an einem Nachmittag Fliegeralarm. Wir Schüler rannten, so schnell wir konnten, zu unseren Verwandten, wo gerade ein Geburtstag gefeiert werden sollte. Die Ereignisse um Ostern 1945 haben sich mir tief eingeprägt. Wir saßen mit den Erwachsenen im Keller, voller Angst vor dem, was kommen würde. Das Vaterunser wurde gebetet. Statt Ostereier zu suchen, gab es ein Massenlager auf Stroh in der Schule. So übel fanden wir Kinder die Situation gar nicht, eher aufregend. Nach wenigen Tagen durften die Bewohner wieder in ihre Häuser zurückkehren. Und in unserem Gasthof wimmelte es von amerikanischen Soldaten, die sich aber meist zu benehmen wussten.
Nur einmal hatte ich große Angst. Ich sehe mich noch heute im Flur stehen, zusammen mit meiner Tante, die etwas Englisch sprach, und meiner Mutter. Ein Soldat suchte sein Gewehr und beschuldigte meine Mutter, es gestohlen zu haben. Mit lauten Worten und drohenden Gebärden brüllte er sie an. Obwohl ich noch ein Kind war, spürte ich doch die Gefahr, die mein Leben total hätte verändern können.
Unsere Freunde munkelten, dass sich in unserem Haus Dinge zwischen Amerikanern und deutschen Frauen abspielten, die sich nicht gehörten. „Doch eure Mutter macht da nicht mit!“, wussten die Kameraden zu berichten. Wie stolz war ich da auf meine Mama! Und wie hätte es uns seelisch geschadet, wäre es anders gewesen. – Für einige amerikanische Soldaten wusch meine Mutter die Wäsche. Dafür erhielt sie Schokolade und Apfelsinen, die sie im Wäscheschrank aufhob. Bis heute erinnere ich mich noch an den guten Geruch.
Jahre später machte ich eine Entdeckung hinter der Tür zur Bodentreppe. Ein inzwischen rostiges Kruzifix hing dort an der Wand. Sicher hatte ein an Jesus Christus glaubender Soldat hier Zwiesprache mit seinem Herrn im Gebet gehalten. Als junges Mädchen beeindruckte mich das sehr.
Doch zurück in die Zeit nach dem Krieg! Noch befanden sich viele Väter in Gefangenschaft, waren vermisst oder gar gefallen. Heimatvertriebene, vor allem aus dem Sudetengau, saßen auf ihren wenigen Habseligkeiten. Einige wurden uns zugeteilt und wohnten jahrelang über unserer Waschküche.
Plötzlich hieß es eines Tages: „Der Papa kommt heim! Er ist schon in Mücke am Bahnhof.“ Dies war der freudigste Moment meiner Kindheit! Mutter legte in großer Eile und Erregung überall frische Deckchen auf. Es knisterte vor Spannung. Und dann stand ich vor einem bis auf die Knochen abgemagerten Menschen. Sollte das mein Vater sein, der immer fröhlich und lebenslustig auf Urlaub gekommen war?
Die russische Kriegsgefangenschaft hatte an seinen Kräften gezehrt, dazu war er an der Ruhr erkrankt. Mehr als einmal hatte er in Lebensgefahr geschwebt. Aufopfernd wurde er von meiner Mutter gepflegt. Sie tauschte viele eingemachte Obstsorten gegen Heidelbeeren. „Die haben deinem Papa das Leben gerettet“, erzählte sie mir oft.
Wie froh konnten wir sein, dass unser Vater lebend aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekommen war! Doch einfach gestaltete sich das Zusammenleben nach seiner Heimkehr nicht. Wovon sollten wir leben? In seinen früheren Beruf als Metzger zurückzugehen, das erlaubte seine Gesundheit nicht mehr. Er band Kehrbesen und schnitzte Rechen. Zufrieden fühlte er sich dabei aber nicht. Und so legte sich eine gespannte Atmosphäre auf die Familie.
1948 kam die Währungsreform. In Deutschland ging es aufwärts und in unserem Gasthaus herrschte wieder Betrieb. Sommergäste aus den Städten verbrachten ihre Ferien bei uns. Reisende übernachteten, um ihre Kunden zu beliefern. Nach allem Schweren feierten die Menschen in unserem großen Saal wieder. Für uns Kinder hatten die Eltern wenig Zeit.
Ein Glück, dass unsere alte „Tanti“ oben wohnte. Bei ihr lernten wir Hochdeutsch, was uns in der Schule zugutekam. Später brachte sie mir das Sticken bei; so konnte ich meiner Mutter manche selbst gefertigte Handarbeit zu Weihnachten schenken.
Am liebsten saßen wir im Bett der lieben, alten Frau und hörten Geschichten, wie es früher war. Was für eine arme Zeit, von der sie berichtete: Bei einer kinderreichen Familie mussten die Kleinen sogar im Kohlenkasten schlafen.
Um dem Trubel in unserem Gastbetrieb zu entgehen, flüchteten wir uns oft nach oben. Hier, bei der „Tanti“, ging es ruhig und besinnlich zu. Wie viel haben wir ihr doch zu verdanken!
Die Schulzeit
Fünf Jahre hatte ich nun die Ulrichsteiner Volksschule besucht. In der letzten Klasse waren wir von einem ausgezeichneten Lehrer unterrichtet worden. In deutscher Grammatik und beim Aufsatzschreiben fühlte ich mich sicher; im Rechnen war die Sache fraglicher. Unbedingt wollte ich auf die höhere Schule nach Lauterbach. Meine Eltern waren anfangs dagegen, doch ich ließ nicht locker. Die Großmutter hatte Angst, ich würde hochmütig; der Stiefopa aber zahlte großzügig die Wochenkarte für den Bus. Und so gehörte ich im neuen Schuljahr mit anderen Ulrichsteiner Kindern zu den Fahrschülern.
Im Winter mussten wir morgens um 6.00 Uhr bei Dunkelheit durch den Schnee stapfen. Deshalb entschieden meine Eltern, mich nach anderthalb Jahren auf das Schottener Gymnasium umzuschulen. Dorthin fuhr der Omnibus später ab. Es musste viel gelernt werden; wenn ich mich bei meinem Vater über die lästige Mathematik beschwerte, tröstete er mich mit den Worten: „Kind, dann hörst du an Ostern mit der Schule auf und gehst ins Büro!“
Das war Öl ins Feuer für mich und so strengte ich mich umso mehr an. Heute weiß ich nicht mehr, warum; aber „ins Büro“ wollte ich auf gar keinen Fall.
Erwähnen möchte ich den Direktor Reich, einen pädagogisch begabten Erzieher. Wenn ein Junge mit dem Fußball eine Scheibe kaputt schoss, so bedeutete das kein Unglück. Aber als Klassenkameraden ein Stück Brot an den Landkartenständer hängten, da war etwas los! Die Täter wurden bestraft, denn sie hatten das Lebensmittel „Brot“ verachtet. – In einer Mathematikarbeit war viel gespickt worden. Ich selbst kam mir nicht so schuldig vor, weil ich andere von mir hatte abschreiben lassen. Als ich zur Rede gestellt wurde, zitierte ich das Wort: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Oh weh, so böse hatte ich unseren Direx noch nie erlebt. „Mit diesem Satz sind Kriege geführt worden!“, brüllte er. Und er hatte ja recht. Übrigens ließ er die besagte Mathearbeit ohne Aufsicht nachschreiben. Keiner von uns schrieb in dieser Stunde ab. Das war Ehrensache!
Eine Lehrerin habe ich fast ein ganzes Schuljahr lang regelrecht gehasst. Zu einer Sportstunde sollten wir die Skier mitbringen. Ich hatte mich im Klassenraum mit Kameraden unterhalten und kam natürlich zu spät zum Sport. Wo aber waren inzwischen die anderen Mädchen mit der Turnlehrerin? Nirgends konnte ich sie finden. So kehrte ich wieder nach oben zurück. Wenn ich mich doch nur bei der Lehrerin entschuldigt hätte, dann wäre vielleicht alles gut gewesen. Aber ich vergaß den Zwischenfall. Und so verpasste sie mir im Zeugnis eine Drei in Fleiß. Das wollte ich ihr nicht verzeihen. Darum mied ich sie, so gut es eben ging. Kurz vor Weihnachten hatte sie eine Handarbeitsausstellung mit von uns selbst genähten Blusen und Kleidern vorbereitet. Einige Mitschülerinnen halfen ihr beim Aufbau; wir anderen hielten uns im Klassenzimmer auf. ,Ich bin sicher beim Vorbereiten der Ausstellung nicht willkommen‘, dachte ich so bei mir, als eine Schulkameradin erschien und mir zurief: „Du sollst auch kommen und mitmachen! Das hat sie extra gesagt.“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. Diese Lehrerin hatte meinen Hass auf sie mit Liebe überwunden.
In der Zwischenzeit war ich konfirmiert worden. Zwei Jahre lang mussten wir viel auswendig lernen, auch eine Reihe von Liedern und Psalmen. Es hat uns nicht geschadet, sondern viel genützt. Was ich allerdings für eine Überforderung hielt, waren Inhaltsangaben der Propheten. Ich persönlich habe meinem Konfirmator, Herrn Pfarrer Schmidt, viel zu verdanken. Er lieh mir ein dickes lateinisches Wörterbuch und verfolgte mit Interesse meinen Weg als Schülerin und später als Studentin. Als ich mich auf mein 1. Staatsexamen als Lehrerin vorbereitete, wollte er mir Bücher heraussuchen. Doch während seine Frau in der Kirche den Weihnachtsbaum schmückte, starb er an Nierenversagen. Die aufgeschlagenen Werke für meine Prüfung lagen noch auf dem Tisch, als ich am selben Tag seiner Frau und Tochter beistehen wollte.
Mehrere Jahre hielt ich Jungscharstunden in unserer Gemeinde. Wenn ich darüber nachdenke, wer mich zuerst für den Glauben an Jesus Christus begeisterte, so kommt mir Pfarrer Eilbacher in den Sinn. Ich erinnere mich noch, dass er uns im dritten Schuljahr die Emmausgeschichte spielen ließ. Ich durfte den auferstandenen Herrn vor der Klasse darstellen. Mit wie viel Freude war ich da bei der Sache!
Doch zurück nach Schotten! Auf dem Gymnasium dort konnten wir nur die „mittlere Reife“ ablegen, für die Oberstufe kehrte ich in die alte Klasse nach Lauterbach zurück. Der Schulwechsel fiel mir nicht leicht, vor allem wegen der Naturwissenschaften. In Physik und Chemie fehlten mir die Grundlagen. Aber ich wusste mir zu helfen: Ein Schulkamerad schrieb mir das Referat in Physik. Ein Doktor der Chemie verbrachte Ferien in meinem Elternhaus. Da ich ihm von meiner Schwäche in seinem Fach erzählte, verfasste er für mich die Hausarbeit. Und in Englisch schickte mir ein Student, dem ich im Vorgarten ein Getränk serviert hatte, Gedanken und Inhaltsangabe zu dem durchzuarbeitenden Roman.
Später nahm ich es mit dem Christsein ernster. Ich schämte mich für meinen Betrug. In einem Brief bat ich zwei Lehrer um Verzeihung. Ich schrieb, dass ich froh sei, durch den Tod Jesu Vergebung bekommen zu haben.
In der Unterprima, der 12. Klasse, wurde ich sehr krank. Eine Magen-Darm-Infektion löste eine schwere Erschöpfung aus. Das hohe Fieber wollte nicht weichen. Jeden Morgen besuchte mich der Doktor vor seiner Sprechstunde. Die Krankheit hatte mich so geschwächt, dass ich kraft- und mutlos geworden war.
Wenn ich heute darüber nachdenke, staune ich, mit wie viel Liebe Gott mich da he-
rausholte: Eine Stickarbeit machte mir Freude. Die „Feuerzangenbowle“ fiel mir in die Hand und brachte mich zum Lachen. In der Schule wurde ich von einem Schulaufsichtsbeamten wegen eines schnell angefertigten Protokolls gelobt, ebenso vom Physiklehrer. Und dann geschah das Größte: Ich wurde zur Hauptdarstellerin des Stücks „Hokuspokus“ von Curt Goetz ausgewählt. Was für eine Freude, was für ein Glück! In die Rolle der spritzigen und charmanten Agda Kjerulf schlüpfte ich hinein. Langsam nahm ich ihren Charakter an. Dann kam die Aufführung zum Abiturball der vorherigen Klasse.
Wenige Tage davor erkrankte ich an Stirnhöhlenvereiterung. Unter dem Auge sah man eine dicke Schwellung. Dabei war im Drehbuch von meiner Schönheit die Rede; unser Zeichenlehrer hatte sogar ein Porträt von mir malen müssen. „O, diese Augen“ hieß es bewundernd in dem Theaterstück. Vor dem großen Auftritt gab mir der Vater eines Mitschülers, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, in der Umkleidekabine eine Penicillinspritze.
Und dann ging es los – im doppelten Sinne. Durch das Antibiotikum und die Aufregung löste sich der Eiter, ich schluckte und schluckte. Eine besondere Pointe wurde vom Publikum nicht verstanden und doch: tosender Applaus für unser Werk! Wir schwebten auf Wolke sieben. Da uns der Aufwand für eine einmalige Aufführung zu groß erschien, spielten wir an verschiedenen Orten: in Schotten, in Schlitz, ein zweites Mal in Lauterbach und in meinem Heimatort Ulrichstein. Dabei übernachtete die ganze Klasse im großen Saal unseres Gasthauses. Mit dem Erlös, den wir durch die Eintrittsgelder erzielten, konnten wir eine Klassenfahrt nach München mitfinanzieren.
Nun war mir der Erfolg etwas zu Kopf gestiegen. Den Lehrern gegenüber verhielt ich mich schnippisch. Auf die Erde zurück brachte mich der Satz des Klassenlehrers Stephan: „Ich hätte nicht gedacht, dass sich ein Mensch in kurzer Zeit so verändern kann. Ich habe überlegt, ob ich Ihnen in Betragen nur eine Zwei geben sollte.“ Das wirkte!
Außerdem rückte das Abitur näher und es galt, viel zu arbeiten. In Mathematik bekamen es meine Freundin und ich mit der Angst zu tun. Jeden Tag rechneten wir zusätzlich zu den Hausaufgaben etwas. Und was passierte? Ein Groschen nach dem anderen fiel. Wir wurden sicherer, und das ungeliebte Fach fing an, uns Spaß zu machen.
Damals konnten wir Schulkameraden noch nicht ahnen, dass wir einen zukünftigen Nobelpreisträger unter uns hatten: Professor Dr. Peter Grünberg erhielt 2007 den Nobelpreis in Physik. Fast 50 Jahre nach unserem Abitur waren wir zur großen Feier seiner Ehrenbürgerschaft der Stadt Lauterbach als ehemalige Mitschüler eingeladen. Als frühere Klassenkameradin sprach ich ein Grußwort. Wir freuten uns als Mitschüler eines Physiknobelpreisträgers auf die feierliche Verleihung der Ehrenbürgerschaft und ein bisschen Glanz fiel ja auch auf uns ab. So jedenfalls empfanden wir es.
Peters Familie war nach dem Krieg aus der Heimat vertrieben worden. Sein Vater galt als vermisst. Mit der Mutter und der Schwester lebte er als Kind in Frischborn bei Lauterbach. Peter erzählte an seinem Ehrentag, dass ihm die Schulspeisung in guter Erinnerung geblieben sei, weil sie die schlechte Ernährung etwas ausglich.
Konnten wir damals schon ahnen, dass aus ihm ein Nobelpreisträger werden würde? Ich weiß es nicht. Nur einmal hatte er es mit Beweisen zu tun. Es war in der Oberstufe. Ein Lehrer herrschte Peter plötzlich an: „Grünberg, Sie schlafen ja!“ – „Ich schlafe nicht“, beharrte Peter mit fester Stimme. – „Doch, Sie haben die Augen zu.“ – „Das ist noch wirklich kein Beweis dafür, dass ich schlafe“, erklärte unser heutiger Nobelpreisträger.
Nach dem Abitur verloren wir uns aus den Augen. Dann kam zu unser aller Überraschung der Nobelpreis und der Vulkan bebte, wie Christel, eine Mitschülerin, mir berichtete. Unser ganzer Vogelsberg, der ja der größte erloschene Vulkan Europas ist, freute sich über die Auszeichnung mit.
Als sich die Wellen etwas geglättet hatten, fand ich in einer christlichen Zeitschrift ein Interview mit einem englischen Wissenschaftler. Darin tauchte Peters Name auf. Es war zu lesen, dass die beiden Nobelpreisträger von 2007 an Gott glaubten. Ich dachte, so viele Menschen in unserem Land – bei Weitem nicht so klug – tun das nicht. Allerdings, so meinte der englische Gelehrte: „Den Glauben an Jesus Christus kann man aus der Natur nicht ablesen. Dazu braucht es die Geschichte und die Erfahrung!“
Ich persönlich habe in meinem Leben Jesus Christus oft erfahren, besonders dann, wenn es mir schlecht ging, aber auch sonst. Unmittelbar vor dem schriftlichen Abitur wurde vor unseren Augen der Brief des Kultusministeriums geöffnet, der das Thema für die Abiturklausur enthielt. Wir alle hatten Angst und Direktor Strohmeyer forderte mich zum Beten auf. Aber was sollte ich beten?
Da fiel mir das Neujahrsgedicht von Diet-rich Bonhoeffer ein, den die Nationalsozialisten hingerichtet hatten. Es ist auch heute noch aktuell, für alle Menschen, auch für einen Nobelpreisträger.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Mit einem rauschenden Abiturball ging die Schulzeit zu Ende.
Margret Lehmann
Margret Lehmann ist verwitwet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und häufig unterwegs zu Frühstückstreffen und Frauentagen.