»Man hat uns alles genommen«, hört Andrea Wegener bei ihrem Hilfseinsatz im Irak 2014 immer wieder. »Erzählt unsere Geschichten weiter. Vergesst uns nicht!«
Die Mitarbeiterin des Katastrophenteams von GAiN (Global Aid Network) ist im Land, als der IS den Christen in Mossul ein Ultimatum stellt und sie Hals über Kopf die Stadt verlassen müssen. Viele flüchten sich nach Erbil, einige sogar in die Wohnung, in der auch Andrea Wegener und ihre Kollegen untergebracht sind. Die Katastrophenhelferin erlebt hautnah mit, wie sich die Lage der Flüchtlinge mit der Ausbreitung des IS und der Vertreibung Zehntausender Christen und anderer Minderheiten von Tag zu Tag verschärft. Sie ist vielen der Verfolgten begegnet, zuletzt im Herbst 2015, und hat ihre Geschichten aufgeschrieben. Diese nehmen uns unmittelbar mit hinein in das Erleben von Terror, Vertreibung und Flucht, aber auch Gottvertrauen, das die Christen im Nordirak nicht erst seit dem Vordringen des IS prägt.
Mit einem Vorwort von Emanuel Youkhana, Archimandrit der Assyrischen Kirche des Ostens und Direktor der einheimischen Hilfsorganisation CAPNI, und einem Nachwort von Klaus Dewald, Direktor von GAiN e.V. in Gießen.
€ 10,99 inkl. MwSt.
Zum Hintergrund der Irak-Krise
Emanuel Youkhana ist Archimandrit der Assyrischen Kirche des Ostens und Leiter des irakischen Hilfwerks CAPNI. Zurzeit ist er in Deutschland einer der gefragtesten Experten, wenn es um die Lage der Christen und anderer verfolgter Minderheiten im Irak geht. Es ist mir eine besondere Ehre, dass er sich bereiterklärt hat, uns einen Einblick in die Situation der Christen in seiner Heimat zu geben. Eigentlich wollte er ein Vorwort für dieses Buch schreiben, doch dann hatte ich stattdessen die Gelegenheit, ein ausführliches Interview mit ihm zu führen. Es nimmt uns unmittelbar mit hinein in die aktuellen Geschehnisse und deren Hintergründe.
Vater Emanuel, Sie haben das Hilfswerk CAPNI bereits in den Neunzigern gegründet, also waren Christen offensichtlich auch damals schon in Not.
Was war damals die Situation? Was war ähnlich, was anders als heute?
Das ist schon 25 Jahre her, aber ich kann mich noch daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. 1991, nach der Invasion Kuwaits und dem ersten Golfkrieg, gab es im Nordirak eine Massenflucht, die man in der Tat mit der von 2014 vergleichen kann. Christen, Jesiden, Muslime – sie alle hatten Angst vor Saddam Hussein und seinen chemischen Waffen. Je weiter seine Truppen ins Kurdengebiet vorrückten, desto weiter flüchteten Menschen in den Norden, in Richtung der türkischen und syrischen Grenze. Die Not war überwältigend. Allein 150 christliche Dörfer hatte Saddam Hussein zerstören lassen. Dohuk war damals auch schon ein humanitärer Albtraum! Als die UN den Nordirak zur Flugverbotszone erklärte und die Kurdenregion sicher wurde, kehrten die Leute in ihre Dörfer dort zurück. Die Rückkehrer wollten ihre Dörfer nun wieder aufbauen, aber ein doppeltes Embargo machte ihnen das unmöglich: ein internationales Embargo gegen den Irak und ein Embargo von Saddam Hussein gegen die Kurdengebiete. Damals haben wir CAPNI gegründet, um die Bedürfnisse der Notleidenden hier und die Hilfsbereitschaft der Menschen aus dem Ausland, vor allem der Christen und Kirchen in Europa, zusammenzubringen. Es war für die Leute im Irak auch das erste Mal, dass sie so viel Hilfe und Anteilnahme von außen erlebten. Viele Menschen wollten helfen und das Medieninteresse war entsprechend groß: Journalisten wollten wissen, wie es in diesem großen Gefängnis mit Namen Irak zuging. Es gab viel zwischen den Gemeinden und Hilfswerken zu koordinieren und als Sprecher meiner Kirche bin ich als Verbindungsmann in meine jetzige Rolle hineingewachsen. Ich lebte in dieser Zeit schon in Deutschland und konnte so die Verbindung halten. Wir haben damals einzelne Familien im Nordirak unterstützen können, sodass junge Leute aus Christenfamilien einen Universitätsabschluss machen konnten, und nach und nach wurden Schulen, Kirchen, Häuser, Abwasserkanäle wieder aufgebaut.
Die Vertreibung von Christen und anderen Minderheiten scheint in der Region schon Tradition zu haben ...
Ja. Die Situation Anfang der Neunziger war insofern besonders, als die Christen zum ersten Mal in der Geschichte des Nahen Ostens später in die Dörfer zurückkehrten, aus denen man sie vertrieben hatte! Aber die erste Vertreibung war es keinesfalls: Vor genau 100 Jahren waren wir assyrischen Christen, wie auch die Armenier und die Syrisch-Orthodoxen, im Zug des Seyfo, des Völkermords durch die Osmanen, umgebracht und aus Anatolien vertrieben worden. Von den Menschen, die damals ihre Heimat verlassen mussten, ist niemand zurückgekehrt. Ganze Dörfer sind in dieser Zeit leer zurückgelassen und nicht wieder von Christen besiedelt worden.
Als der Irak als moderner Staat 1932 von Großbritannien unabhängig und Mitglied des Völkerbundes wurde, ging das Morden weiter: Schon ein Jahr später gab es den ersten Genozid. Im August 1933 wurden in der Nähe von Dohuk mehr als 5000 assyrische Christen umgebracht, unschuldige Menschen, Frauen und Kinder. Der junge, gerade erst geborene Staat schmückte sich gleich mit einem Massaker. Die Soldaten der irakischen Armee, Sunniten, die dafür verantwortlich waren, wurden in Bagdad als Helden gefeiert und bekamen Medaillen. Drei Jahre später verübte der Leiter dieser Armee den ersten Militärputsch des Nahen Ostens. Er diente damit vielen anderen zum Vorbild, sodass viele Länder in unserer Region nun von Militärdiktaturen beherrscht werden. Die Christen waren die Opfer gewesen und die Täter wurden zu den Herrschern. Das prägt unseren Staat und die Region bis heute!
Die Überlebenden dieses Massakers von 1933 landeten übrigens in Syrien. Sie gründeten dort rund 35 Dörfer in der Region Khabur. Genau diese Menschen wurden im Februar 2015 vom IS überfallen und verschleppt; etwa 240 von ihnen werden gefangen gehalten und vor Kurzem hat man drei von ihnen hingerichtet, um Lösegeld zu erpressen. Diese Christen sind seit Generationen bedroht: Ihre Großväter haben den Völkermord der Osmanen 1915 überlebt, ihre Väter die Massaker des neugegründeten irakischen Staates 1933 und nun versuchen sie den IS zu überleben.
Worin liegen die Ursachen für die Gewalt, die wir jetzt sehen? Man hört in Deutschland immer wieder, dass der Sturz Saddams den Terror ausgelöst hat ...
Die Antwort ist natürlich viel komplexer! Irak ist ein gesegnetes biblisches Land, wir haben ein großes menschliches und wirtschaftliches Potenzial und wir hofften tatsächlich auf eine helle Zukunft, nachdem Saddams totalitäres Regime beendet war. Wir dachten, dass es uns nach seinem Sturz besser gehen würde. Aber die Grundgegebenheiten im Irak waren in vieler Hinsicht verworren – auf der Ebene der Regierung und Verwaltung, aber auch auf kultureller und religiöser Ebene; wir haben nicht erreichen können, was wir eigentlich verdient hätten. Zum Teil geht nun eine Saat auf, die unter Saddam Hussein gesät wurde. Aber die Schwierigkeiten liegen viel tiefer. Vereinfacht gesagt, gab es schon bei der Staatsgründung tiefe Risse zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die nie überbrückt wurden.
Seit 1932 haben wir zwar den irakischen Staat gebaut, aber nicht die irakische Nation. Mit „wir“ meine ich die Leute, die regieren und die das Bildungs- und Erziehungswesen prägen. Eigentlich wäre es Aufgabe eines Staates, seine Bürger zu schützen, Recht und Gleichbehandlung sicherzustellen. Aber im Irak ist der Islam von der Verfassung her die vorherrschende Religion, sodass alle anderen automatisch und mit der vollen Wucht der Verfassung benachteiligt werden. Im Moment gibt es zum Beispiel ein neues Gesetz, dass alle minderjährigen Kinder automatisch und sogar ohne ihr Wissen zu Muslimen erklärt werden, wenn eines der Elternteile zum Islam konvertiert. Diese jungen Leute entdecken dann plötzlich, wenn sie 18 oder 19 sind und einen Pass beantragen, dass sie Muslime sind. Und sie können das nicht in ihren Dokumenten zurück ändern. Christen und andere Minderheiten haben Einspruch gegen dieses Gesetz erhoben und wir hoffen, dass es noch geändert wird. Aber es ist ein kleines Beispiel dafür, wie der Islam und die Scharia den Irak bestimmen.
Der Irak ist eigentlich ein sehr vielfältiges Gebiet, und das kann man schon an den Religionen sehen: Es gibt auf dem heutigen Staatsgebiet allein vier Religionen, die schon lange vor dem Islam da waren: Juden, Mandäer, die sich auf Johannes den Täufer berufen, Jesiden und Christen. Und auch ethnisch-kulturell gibt es eine große Vielfalt. Die Araber, die heute die Mehrzahl der Bürger stellen, sind erst ganz zuletzt durch die islamischen Eroberungszüge dazugekommen; schon vor 6000 Jahren lebten hier Assyrer, dann auch Chaldäer, Kurden, Perser, Turkmenen und Armenier ... Man sollte davon ausgehen, dass aus einer solchen Mischung eine sehr schöne Kultur entsteht, aber das Problem ist, dass diese Mischung im öffentlichen Bewusstsein gar nicht wahrgenommen wird. Im irakischen Lehrplan wird, um nur ein Beispiel zu nennen, über diese vier vorislamischen Religionen nichts gelehrt. Nicht nur gibt es über sie kein eigenes Kapitel im Geschichtsbuch – nein: sie kommen überhaupt nicht vor; nicht mit einem einzigen Satz wird erwähnt, dass es sie überhaupt gibt! Man kann sich vorstellen, mit welcher Haltung ein Regierungsbeamter oder ein Mitglied des Parlaments, das unter diesem Lehrplan einen Universitätsabschluss gemacht hat, dieses Land leitet: Er weiß ja nichts über seinen nächsten Nachbarn!
Der IS ist ja ein relativ neues Phänomen. Welche Gruppen gibt es sonst noch im Irak und wie stehen sie zueinander?
Es bekämpfen sich viele Gruppen gegenseitig. Die Situation ist im Irak insofern besser als in Syrien, als man bei uns wenigstens weiß, wer wer ist! Der prägendste Konflikt ist der zwischen Sunniten und Schiiten, aber dann gibt es natürlich auch den Konflikt zwischen Muslimen, zu welcher Denomination auch immer sie gehören, und allen anderen. Und dann gibt es noch den ethnischen Konflikt zwischen Kurden und Arabern. Die ganze Situation ist komplex: Man könnte Grenzlinien ziehen zwischen Kurden, sunnitischen und schiitischen Arabern. Und dann hat das Ganze auch noch eine regionale Dimension: Die Schiiten werden vom Iran unterstützt und unterstützen ihrerseits Assad in Syrien, die Sunniten werden aus Saudi Arabien und Katar finanziert und kämpfen gegen alles, was schiitisch ist, und die Kurden werden von den Westmächten unterstützt, und sie sind auch in der Tat eine Insel der Hoffnung in der Region.
Zu Saddams Zeiten liefen alle Fäden beim Diktator zusammen und die Risse zwischen den einzelnen Gruppen waren nicht so deutlich sichtbar. Aber als er nicht mehr war, brach der Staat zusammen und es entstand ein Machtvakuum, das verschiedene Milizen und Banden zu füllen wussten. Es ließ auch die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten voll zum Vorschein kommen. Jahrzehntelang hatten die Sunniten im Irak geherrscht, obwohl sie eine Minderheit waren, und als 2003 Saddam Hussein gestürzt wurde und die Schiiten die Macht übernahmen, rächten sie sich und benachteiligten ihrerseits die Sunniten. Die schlagen nun zurück: Der IS ist ja nur eine Fortführung bisheriger sunnitischer Gruppen, Al-Qaida und so weiter.
Die Christen scheinen friedlich zu sein und zu all der Gewalt wenig beizutragen. Warum werden ausgerechnet sie so gehasst und immer wieder so brutal verfolgt?
Die Bibel ist in diesem Punkt sehr klar: Ihr gehört nicht in diese Welt, wird dort den Nachfolgern Jesu sehr deutlich gesagt, ihr werdet gehasst und verfolgt werden. Für uns ist die aktuelle Situation nicht weiter überraschend. Wir haben hier keine Luxusreligion, sondern 2000 Jahre Verfolgung hinter uns. In meiner Kirche, der Mutterkirche im Irak, gibt es an jedem Wochentag außer Sonntag in der Liturgie des Morgen- und Abendgebets drei Seiten mit Hymnen und Gebeten, die den Märtyrern gewidmet sind, das spiegelt wider, was den Glauben hier jahrhundertelang ausgemacht hat. Es ist also nichts Neues! Europäer sind oft schockiert über die Gewalt, die wir hier erleben, aber für uns ist sie normal. Was die aktuelle Gewalt ungewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass die Welt längst zum globalen Dorf geworden ist, in dem wir ganz nahe zusammengerückt sind und alles Mögliche miteinander teilen – nur, leider, nicht dieselben Werte. Ich denke, dass wir auch deswegen verfolgt werden, weil wir nicht zu dieser Kultur des Hasses gehören. Unsere Kultur ist die der Liebe, wir werden aufgefordert, sogar unsere Feinde zu lieben. Wir passen nicht in die Welt, in der wir hier leben.
Sie verbringen im Moment die meiste Zeit im Nordirak, sind aber auch viel in Deutschland unterwegs. Wo, denken Sie, ist unsere Wahrnehmung in Bezug auf die Situation im Irak verzerrt?
Da fallen mir zwei Dinge besonders auf. Die meisten Deutschen wissen nichts über die Vielfalt im Irak. Viele wussten zum Beispiel bis zum Vormarsch des IS nicht, dass im Irak nicht nur Araber leben. Wenn sie nicht einmal von den Christen gehört hatten, wie sollten sie da erst über die Mandäer Bescheid wissen? Und sie wussten nichts über die jahrhundertealte Geschichte und den unglaublichen kulturellen Reichtum der Christen. Erst als der IS das alles zu zerstören begann, wurden sie darauf aufmerksam. Seit 2014 weiß man auch in Europa von den Christen und den Jesiden im Irak, aber dafür haben wir einen hohen Preis bezahlt. Ich hätte mir gewünscht, dass man den Reichtum unserer Religion unter günstigeren Umständen kennengelernt hätte als in dem Moment, als er durch die barbarischen Aktionen des IS zerstört wurde ...
Der andere Punkt ist, dass Europäer über die aktuelle Situation nicht sehr viel wissen. Sie sehen, was die deutschen und westlichen Medien ihnen vorsetzen, und dabei geht es immer um die Gräueltaten und um das Schlimme, das hier passiert. Die ganze helle Seite, all das Gute, das wir im Irak auch sehen, kommt dort nicht vor: Das positive „Multikulti“, das es in Kurdistan gibt, zum Beispiel. Oder die erstaunliche Solidarität der einheimischen christlichen Kirchen und die überwältigende Hilfe der Organisationen von außerhalb, die den Verfolgten zur Seite stehen ... Auch das sollte mehr vorkommen! Es tut mir leid, wenn ich in den deutschen Nachrichten immer nur die dunkle Seite sehe: Ein Bombenattentat hier, ein Selbstmordattentat dort – diese Dinge passieren ja wirklich und es muss darüber berichtet werden, aber es passieren eben auch sehr gute Dinge und die kommen in den Nachrichten kaum vor.
Und natürlich ist die Wahrnehmung des Islam in Europa eine andere als im Nahen Osten – oder war es zumindest bis vor Kurzem. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Deutschland und Europa, die sehr fortschrittliche Vorstellungen von Menschenrechten haben und sich der eigenen Schuld in der Vergangenheit nur zu sehr bewusst sind, sich auch Muslimen und dem Nahen Osten gegenüber grundsätzlich schuldig fühlen. Zu einem kleinen Teil hat das sicher seine Berechtigung, aber deutsche Kirchen sollten sich neu bewusst machen, dass wir hier seit Jahrhunderten Opfer islamischer Intoleranz sind, und die ist nicht die Schuld des Westens! Bis zu einem gewissen Grad haben die Europäer mit Blick auf die Menschenrechte viel zu lange ein Auge zugedrückt, wo es von islamistischer Seite in Brüssel, London, Berlin oder Köln Bewegungen gab, die Hass geschürt und bestehende Gräben immer weiter vertieft haben. Selbst in christlichen Kirchen gab es eine gewisse Tendenz, den Islam schönerzureden oder mehr als Religion der Toleranz darzustellen, als das Muslime selbst tun würden. Seit den Anschlägen in Paris und dem Bewusstsein darüber, was den Jesiden hier im Irak angetan wurde, scheint sich das etwas zu wandeln.
Die Situation ist komplex, die bestehenden Gräben sind tief, die Gewalt hat eine lange Tradition. Wie kann es da Frieden geben?
Ich sage dazu immer, dass Friede keine Einbahnstraße ist, es gehören zwei Seiten dazu. Im Irak gibt es Gruppen wie die christlichen Kirchen, die Jesiden und auch andere, die sich um Frieden bemühen und immer wieder einen Schritt auf die anderen zu machen. Aber wenn diese anderen nicht auch Schritte zu tun bereit sind, kommt man nicht weit. Die Risse sind immer tiefer und breiter geworden.
Das setzt sich auf internationaler Ebene fort. Wir müssen auch dort gegenseitigen Respekt einfordern; es kann nicht sein, dass europäische Organisationen immer die Einzigen sind, die auf Frieden und Toleranz pochen. Es gibt nur sehr wenige – viel zu wenige! – ähnliche Organisationen und Initiativen auf arabischer bzw. islamischer Seite: gemäßigte Muslime, die aber hier kaum gehört werden und die wir umso mehr unterstützen sollten. Es gibt Stimmen, die den Islam reformieren möchten, und durch das Vorrücken des IS und die vielen schlimmen Dinge, die seit dem letzten Jahr passiert sind, sind diese Stimmen lauter geworden und werden zum Glück mehr gehört. Natürlich dürfen wir nicht alle Muslime in einen Topf werfen! Es gibt nur einen Islam, aber es gibt viele Muslime, und darunter auch sehr gemäßigte.
In einem globalen Dorf können wir uns nicht einfach abschotten und so tun, als gäbe es die islamische Welt nicht. Ich betone immer wieder, dass es zwei verschiedene Herangehensweisen gibt: Hier im Irak müssen wir lernen, UNTER dem Islam zu leben, und in Europa geht es darum, MIT dem Islam zu leben. Das ist ein sehr großer Unterschied!
Eine unserer Ideen ist eine Akademie in Kurdistan. In Deutschland gibt es viele solcher Akademien, bei denen man Konferenzen zu verschiedenen Themen durchführen kann, und wir denken, dass die Zeit für eine solche Akademie auch in unserer Region gekommen ist. Gerade kürzlich war ich in Amman auf einer Tagung, die von der Columbia University in New York veranstaltet wurde, und das Thema war: „Die Rolle religiöser Leiter bei der Vermeidung von Gewalt.“ Ich war sehr beeindruckt von unserem Gastgeber, einem jordanischen muslimischen Gelehrten, der uns zu einer Diskussion ohne Tabus aufforderte und selbst den Anfang machte: Es ging um die Lehrpläne in Saudi-Arabien, um die Menschenrechte dort und so weiter – Dinge, über die man sonst in diesen Kreisen nicht spricht. In solche Initiativen müssen wir investieren, gerade als Christen.
Langfristig müssen wir die Gewalt bei der Wurzel packen! Das bedeutet Bildung, Bildung, Bildung! Irakische Kinder müssen nach Lehrplänen unterrichtet werden, die der Vielfalt in ihrem Staat gerecht werden und die nicht zum Hass aufrufen! Und es gibt ganz kleine Dinge, die aber viel ausmachen: Wenn ich zum Beispiel mit dem Auto in Dohuk hier in der kurdischen Autonomieregion unterwegs bin, sehe ich in der letzten Zeit gelegentlich Schilder mit einem Kreuz, die auf eine christliche Kirche oder ein christliches Dorf hinweisen. Für Menschen in Europa ist das nichts Besonderes, solche Schilder gibt es dort überall, aber hier ist das eine große Sache! Es bedeutet, dass wir anerkannt werden, dass wir hierher gehören! Jahrhundertelang sind wir, die wir zu diesem Kreuz gehörten, verfolgt und vertrieben worden, und plötzlich gibt es diesen Platz für uns. Das bedeutet uns sehr viel!
Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Es gibt seit 2000 Jahren bedeutende christliche Denker und Philosophen im Irak, aber nach keinem Einzigen von ihnen ist auch nur eine einzige Schule benannt; die heißen alle nach arabischen, islamischen Gelehrten und Führern. Wenn es je in Bagdad eine Schule gibt, die nach einem christlichen Denker benannt wird, wird das eine enorme Bedeutung haben und deutlich machen, dass auch wir zum Irak gehören.
Wer wird diesen Wandel herbeiführen?
Das ist eine schwierige Frage! Im Irak wird es sicher nicht die bestehende Regierung sein; der kann man in diesem Punkt nicht vertrauen. In Kurdistan kann man zwar der Regierung vertrauen, aber nicht unbedingt den islamischen religiösen Führern. Letzten Endes wird sich das Gleichgewicht im ganzen Nahen Osten wieder verschieben müssen, und auch die restliche Welt hat daran ja ihren Anteil. Ich finde es traurig und fast schon komisch, dass die Franzosen schon etwas über einen Tag nach den Anschlägen in Paris Bomben auf Rakka in Syrien abwarfen. Sie wussten ganz offensichtlich, wo sie angreifen mussten, aber sie hatten es bis dahin nicht getan. Natürlich ist es schrecklich, dass es all diese Opfer in Europa gab, und ich fühle mit den Familien, aber warum bewirkten erst diese Opfer einen gezielten Angriff auf den IS? 16 Monate lang konnte der IS dort plündern und morden. Ist das Blut der Christen und Jesiden in der Region so viel billiger als das der Franzosen?
Ich hoffe, dass man sich eines Tages weltweit auf ein einheitliches Vorgehen gegenüber dem IS einigen kann und ihn vielleicht nicht einmal militärisch, sondern mit anderen Mitteln bekämpft: Wenn man Druck auf Saudi-Arabien, Katar und auf „Sultan“ Erdogan in der Türkei ausübt und die Finanzierung des IS stoppt, wird das auch Auswirkungen haben! Auf politischer Ebene rate ich immer: Unterstützt die Peschmerga bei der Rückeroberung der Gebiete, die im letzten Jahr an den IS gefallen sind. Besteht in eurer Diplomatie darauf, dass die Wurzel des Hasses beseitigt wird. Unterstützt die kurdische Regierung in ihrem – und zwar auf die ganze Region bezogen – sehr einsamen Versuch, der Vielfalt irakischer Kulturen Rechnung zu tragen. Aber das sind natürlich Dinge, auf die wir als Kirche nur sehr begrenzt Einfluss nehmen.
Wie nehmen Sie die Situation der IDPs / Flüchtlinge im Nordirak wahr? Was brauchen sie am meisten?
Im Moment überwiegt bei mir die Hoffnung gegenüber der Sorge, aber auf den ersten Blick sieht die Situation, das muss man schon sagen, sehr trübe aus. Unser Glaube ist ein Glaube der Hoffnung. Und wenn man aufgrund seines Glaubens auf so barbarische Weise verfolgt wird, hat man gute Gründe, umso fester an diesem Glauben festzuhalten. Die Leute haben kein Problem mit ihrem Glauben, aber sie haben ein Problem mit ihren Lebensumständen! Die Besetzung der christlichen Dörfer liegt nun schon 16 Monate zurück. 16 Monate in einem Rohbau, in einer Gemeinschaftsunterkunft ohne jede Privatsphäre oder in einem verlassenen Dorf hinterlassen natürlich ihre Spuren. Die Menschen sind in ihrem Glauben stärker geworden und ich bin zuversichtlich, dass die Christen aus dieser Krise gestärkt he- rauskommen werden. Aber werden sie dann noch in der Region sein, wird es hier weiter Christen geben? Ich sehe die Not der Menschen und habe sehr viele Fragen und wenige Antworten, wie es weitergehen kann.
Kurz- und mittelfristig brauchen wir zweierlei: Wir müssen uns weiter der immateriellen Nöte der Menschen hier annehmen. Es geht nicht nur um Essenskörbe und Hygieneartikel, obwohl die natürlich auch wichtig sind, sondern auch um alles, „was die Hoffnung lebendig hält“, wie wir es bei CAPNI ausdrücken. Dazu gehört, dass Kindern der Besuch von Schulen ermöglicht wird – gerade haben wir mit Misereor und der Bayerischen Landeskirche ein Programm gestartet, das den Transport von 2500 Kindern und Jugendlichen aus etwas abgelegenen Quartieren zu offiziellen Schulen regelt. Ausbildungsprogramme für Jugendliche sind auch so eine Sache. Das alles hält die Hoffnung aufrecht!
Genauso nötig, und zwar bald, ist die militärische Seite: die Rückeroberung der Städte und Dörfer, aus denen die Christen vertrieben worden sind. Die liegt nicht in unserer Hand, ändert aber viel, weil sie neue Optionen schafft. Im Moment, nach 16 Monaten in Übergangsquartieren, haben die Leute im Prinzip zwei Möglichkeiten: in einem verlassenen Gebäude zu hausen oder ins Ausland zu emigrieren. Wenn die Orte wieder bewohnbar werden, ändern sich die Wahlmöglichkeiten: Dann steht zur Debatte, ob man zurückkehrt in das, was man schon kennt, oder sich auf die lange, unsichere Reise in ein unbekanntes Land macht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Christen dann im Irak bleiben, ist natürlich viel größer!
Und es ist gut, wenn wir Christen bleiben! Wir müssen weiter gegen die Dunkelheit kämpfen. Wir müssen unser Licht weiter scheinen lassen – was sonst ist denn unser Auftrag als Christen? Wir sind gesegnet, weil wir von Gott ausersehen und dazu bestimmt sind, seine Zeugen in diesen schwierigen Zeiten zu sein.
Was können wir Menschen, wir Christen in Deutschland für die Christen im Irak tun?
Tut weiter das, was ihr in der Vergangenheit schon getan habt: Viele Kirchen haben zum Gebet aufgerufen und es hat viele Gebetsveranstaltungen und Mahnwachen für uns gegeben. Und das ist das Wichtigste. Als Christen vertrauen wir letzten Endes auf Gott und er lässt sich von unseren Bitten und Gebeten bewegen, uns zu helfen. Deswegen ist es so wichtig, dass ihr weiterbetet. Und natürlich ist es wichtig, den Vertriebenen hier weiter materiell zur Seite zu stehen. Der Winter steht vor der Tür und es sieht so aus, als würden wir auch im nächsten Sommer noch Hilfe brauchen. Bitte unterstützt uns weiter, verstärkt die Hilfe möglichst noch!
Nehmt Flüchtlinge bei euch auf, aber vergesst nicht den Teil der Geschichte, der sonst unerwähnt bleibt: Hier im Irak leben Menschen, die genauso viel Leid erlebt haben wie die Flüchtlinge, die in Europa ankommen – aber die hierbleiben möchten und die hier vor Ort Unterstützung brauchen!
Jedes Licht ist gut und jedes Licht ist schön, aber das wichtigste und schönste Licht ist das Licht, das in der Dunkelheit scheint. Es ist wichtig, dass es weiter solche Initiativen gibt, die auf Kindergesichter ein Lächeln zaubern und die Hoffnung hochhalten, dass es eine Zukunft gibt!
Das würde ich den Menschen in Deutschland mitgeben wollen: Haltet die Kerze am Brennen. Wir sind hilflos, aber nie hoffnungslos. Helft uns, unsere Hoffnung lebendig zu halten.
Vielen Dank für das Gespräch!
25. November 2015
Ein Grundwasserspiegel von Gewalt
„Erzählt unsere Geschichten weiter!“ – „Vergesst uns nicht!“ – „Am meisten macht uns zu schaffen, dass es die Welt nicht interessiert, wie es uns geht!“
Immer wieder haben meine Kollegen und ich bei unserem Einsatz im Nordirak solche Sätze gehört. Wir dachten, dass die Menschen, die in den Wochen und Monaten zuvor dem IS entkommen waren, vor allem unsere materielle Hilfe brauchten. Aber immer deutlicher wurde uns bewusst, dass wir ihnen noch ganz anders dienen konnten. Es war schlimm genug, was diese zutiefst erschöpften Flüchtlinge erlebt hatten, aber die Vorstellung, dass sich überdies niemand für ihr Leid interessierte, machte alles für sie noch unerträglicher. Schon allein die Tatsache, dass Leute aus dem Ausland kamen und sich für sie interessierten, bedeutete diesen Menschen im Niemandsland der Camps und Notunterkünfte im Nordirak, die alles verloren und kaum eine Zukunftsperspektive hatten, sehr viel. Es hat sich ergeben, dass wir mit einigen von ihnen zusammen gewohnt und mit vielen von ihnen geredet haben. Damit ihre Geschichten nicht vergessen werden, ist dieses Buch entstanden.
„Entkommen aus dem Netz des Jägers“ bietet nicht die grausigsten Geschichten, die man in der Region hören kann. Andererseits habe ich schöne, tröstliche Geschichten auch nicht herausgeschnitten, weil sie nicht ins Konzept gepasst hätten. Meine Kollegen und ich haben einfach beliebige Leute – großteils Christen, aber auch einzelne Muslime und Jesiden – nach ihren Erfahrungen befragt und dabei festgestellt, dass sie alle ausnahmslos Schlimmes erlebt hatten. Und das nicht erst, seit der IS in der Region sein Unwesen treibt ...
Ich habe beim Einsatz in Entwicklungsländern und Katastrophengebieten viel Leid und Armut gesehen und als Notfallseelsorgerin Menschen in unerträglichen Situationen begleitet. Was mich im Irak am meisten erschüttert hat, war der Grundwasserspiegel von Gewalt, der in unseren Gesprächen mit den Flüchtlingen immer wieder sichtbar wurde: Man musste nie lange graben, um zutiefst traumatische Geschichten zutage zu fördern, die zum Leben dieser Brüder und Schwestern jahre-, oft jahrzehntelang dazugehörten. Dass Familienangehörige gegen Lösegeld entführt oder umgebracht wurden, dass halb erwachsene Kinder einfach verschwanden oder dass Menschen wegen ihres Glaubens um ihr Leben bangen mussten, war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Christen im Irak erzählten solche Geschichten eher beiläufig; darauf, dass ihnen Recht geschehen würde, wagten sie schon lange nicht mehr zu hoffen. An wen sollten sie sich denn wenden? Die Vertreibung durch den IS war für viele nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wirklich sicher waren sie auch vorher nicht gewesen.
Was all diese Geschichten erträglich machte – und hoffentlich auch dieses Buch lesenswert macht! –, ist die Tatsache, dass jede einzelne Vertreibungs- und Fluchtgeschichte gleichzeitig eine Rettungsgeschichte ist. „Wir sehen Gottes Liebe daran, dass er uns bewahrt hat“, hat es Kemal, ein junger Theologe, ausgedrückt. Viele Menschen im Irak haben alles verloren, aber dabei Gottes Gegenwart neu, tiefer oder überhaupt zum ersten Mal erfahren. Der christliche Glaube ist zum Glück nicht davon abhängig, dass eine möglichst große Menge von Menschen in wunderschönen Kirchen zu jahrhundertealten Ritualen zusammenkommt. Er entfaltet sich gerade da, wo einzelne Gläubige in Leid und Schrecken zu vertrauen beginnen, dass Gott immer noch über allem steht. Und dass der Christus, nach dem sie benannt sind und um dessentwillen sie verfolgt werden, gerade jetzt an ihrer Seite ist.
Brüder und Schwestern wie Kemal, Vater Emanuel, Tayyip, Djamila und die anderen einheimischen Kollegen, die Gottes Wirken auch im Chaos und im Dunkel sehen, haben mich in meinem eigenen Glauben ermutigt und herausgefordert.
Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Kein gewöhnliches Leben
Sie sind mit einem Maschinengewehr in den geistlichen Dienst berufen worden.
„Uns ist damals sehr klar gewesen, dass wir nur deswegen überlebt haben, weil Gott mit uns noch etwas vorhatte“, sagen Tayyip und Djamila heute. Und wenn man auf ihren jahrzehntelangen, im schwierigsten Sinn abenteuerlichen Dienst zurückschaut, sieht man, dass diese erste traumatische Situation nur der Auftakt war.
Tayyip und Djamila sind die Leiter unserer einheimischen Partnerorganisation und der größte Teil unserer Arbeit im Irak ist mit ihnen und ihrem engagierten Team verbunden. Aus Gesprächen oder Treffen mit ihnen gehe ich manchmal leicht verwirrt heraus: Vielleicht sind ihre Erfahrung, Weisheit, geistliche Sicht und nicht zuletzt ihr verschmitzter Humor zu viel für mein naives europäisches Hirn und Herz; jedenfalls bin ich fast ein bisschen stolz, zur gleichen weltweiten christlichen Bewegung wie sie zu gehören. Für mich sind die beiden Riesen des Glaubens, und ihre Geschichte, nicht nur ihre Berufungsgeschichte, ist eine besondere. Sie könnte locker ein eigenes Buch füllen und es bedeutet mir viel, dass Tayyip und Djamila sich die Zeit nehmen, mir ihre Geschichte zu erzählen.
Sie sind beide in christlich geprägten Familien aufgewachsen, haben beide in London studiert und sind dann miteinander verkuppelt worden. „Freunde haben uns aufeinander aufmerksam gemacht“, erzählt Tayyip, als wir zu einem längeren Interview zusammensitzen. „Ich hatte in London einen lebendigeren Glauben erlebt als den eher traditionellen, den ich von meinem Elternhaus her gewohnt war, und das hat mein Leben verändert. Djamila war es ähnlich gegangen. Allerdings war sie erst einige Zeit nach mir dort, als ich schon wieder im Irak lebte. Trotzdem fanden gemeinsame Bekannte, dass wir mit dieser ähnlichen, sehr prägenden Erfahrung doch gut zusammenpassen müssten. Es war gar nicht so einfach, dass wir uns dann überhaupt kennenlernen konnten – in unserer Kultur kann ein Mann ja nicht einfach so eine Frau zum Essen einladen ...“
Schließlich finden die beiden doch zusammen und heiraten. Anfang der Neunzigerjahre leben sie in der Ölstadt Kirkuk; Tayyip arbeitet als leitender Architekt einer großen Ölgesellschaft, Djamila als Lehrerin am hauseigenen Institut der Ölgesellschaft. Sie wohnen auf 5000 Quadratmetern und haben ein gutes Leben.
Am 20. März 1991 dringen Rebellen in die Stadt ein. Das Gelände der Ölgesellschaft, auf dem Tayyip und Djamila auch leben, liegt genau zwischen den Rebellen und einem Stützpunkt der Armee. „Sie haben da aufeinander geschossen“, erinnert sich Tayyip, „und die meisten Kugeln und Bomben sind auf unserem Gelände niedergegangen. Eine hat auch unser Haus getroffen und Djamila verletzt. Wir haben uns in einen Bunker geflüchtet, und als wir zurückkamen, stellten wir fest, dass die Rebellen auf dem Gelände waren und nach einer berüchtigten Person suchten: ‚Chemical Ali‘ war General in Saddam Husseins Armee gewesen und hatte chemische Waffen gegen das kurdische Volk eingesetzt; allein in Halabdscha an der Grenze zum Iran waren einige Jahre vorher 5000 Menschen umgekommen. Der wohnte tatsächlich auf unserem Gelände, ein paar Grundstücke von uns entfernt, aber er hatte einen Hubschrauber im Garten stehen und hat sich abgesetzt, als die Rebellen kamen. Die haben alle Männer eingesammelt, von denen sie dachten, dass sie mit Chemical Ali in Verbindung stehen könnten, und haben angefangen, sie der Reihe nach zu erschießen.
Ich war einer von diesen Männern. Aber das Maschinengewehr des Mannes, der auf mich anlegte, war blockiert.“ Tayyip hält die Arme, wie man ein Maschinengewehr halten würde, um es zu erklären: „Ich weiß nicht, ob du dich mit Maschinengewehren auskennst?“ – „Nein“, sage ich, „wirklich nicht!“ Und ich habe auch noch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Massenmörder gewohnt, denke ich im Stillen. „Na ja, vielleicht hast du mal in einem Film gesehen, wie man die Munition zur Seite auswirft und wieder neu durchlädt“, fährt Tayyip fort. „Das hat er gemacht und dann das Gewehr wieder auf mich gerichtet. Aber es war wieder blockiert. Dreimal ist das passiert; dreimal habe ich mir im letzten Moment die Arme vor den Kopf geschlagen und damit gerechnet, dass ich jetzt sterbe. Ich sehe das noch heute vor mir: Er hat sich so angestrengt, den Abzug zu drücken, dass man die Muskeln an seinem Arm hervortreten sehen konnte. Aber es hat nicht funktioniert.
Djamila ist aus unserem Haus gelaufen und hat ihn angeschrien: ‚Was machst du denn da?‘ Und er hat gesagt: ‚Ihr gehört doch alle zu Chemical Ali. Rückt eure Waffen raus und ergebt euch!‘ Djamila hat gerufen: ‚Aber wir sind doch Christen! Wir haben keine Waffen!‘ – ‚Warum habt ihr das denn nicht gleich gesagt?‘, hat er gefragt. ‚Ihr habt uns ja nicht gefragt, sondern gleich angefangen, die Leute umzubringen!‘ Der Mann wollte nicht glauben, dass wir Christen sind, und hat behauptet, dass wir lügen, bis Djamila ins Haus gelaufen ist und eine Bibel geholt hat. Da hat er von uns abgelassen. Er hat uns gedrängt, sofort das Gelände zu verlassen, denn sie würden alles zerstören. Das haben sie dann auch gemacht. Unser Haus ist komplett zerbombt worden, unser Auto ... Wir haben das Gelände buchstäblich im Nachtzeug verlassen.
An die zehn Tage danach habe ich keinerlei Erinnerung. Djamila behauptet, dass ich gegessen und geschlafen und kein Wort gesagt habe, aber ich weiß es nicht mehr; ich stand so unter Schock. Nach diesen zehn Tagen hat uns ein Bruder aus Jordanien besucht und eingeladen, eine Weile dort zu bleiben und etwas zu Kräften zu kommen. In dieser Zeit hat der Herr sehr deutlich zu uns gesprochen, dass wir unsere bisherige Arbeit als leitender Architekt und Lehrerin hinter uns lassen und in den geistlichen Dienst einsteigen sollten. Wir haben das beide auch sehr stark gespürt: Gott gibt uns ein neues Leben, eigentlich müssten wir tot sein. Also haben wir beschlossen, dass wir dieses Leben für ihn einsetzen würden. Gerade in dieser Zeit, als wir nachdachten und beteten, sind wir von einer internationalen christlichen Organisation angesprochen worden, ob wir nicht im Irak eine Arbeit beginnen wollten. Wir haben uns ein paar Tage Bedenkzeit erbeten, aber wir haben auch diese Anfrage als eine klare Führung empfunden. Also haben wir zugesagt.“
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Andrea Wegener
Andrea Wegener, aufgewachsen im Westerwald, studierte in Leipzig Germanistik, Amerikanistik und Geschichte, anschließend führte ein Auslandsjahr sie in die USA und nach Kenia. Seit 2007 arbeitet sie bei Campus für Christus. Neben ihrer Aufgabe als Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit ist sie gerne bei Auslandseinsätzen dabei.
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