Draußen klappte eine Tür. Schwere, schlürfende Schritte gingen über den mit Sand bestreuten Flur. Dann schlug das große Haustor ins Schloss.
Wenn nur kein Kranker mehr kommt, dachte das kleine Mädchen Dorothea, das fertig angezogen auf einem Ruhebett lag, dann wird der Vater gleich hier sein. Ob er mich wohl aufstehen lässt? Und vielleicht ... vielleicht geht’s nachher mit der Mutter auf den Schlossberg ins Kräutergärtchen der Frau Äbtissin.
Ganz Quedlinburg hat man von dort aus im Blick.
Und es macht Spaß, aus dem Gewirr der spitzen Dächer das eigene kleine Hans am Steinweg herauszufinden. Wären nicht die hohen Türme von St. Nikolai so dicht daneben, wer weiß, ob man es so schnell entdecken würde.
Ah, da ist schon der Vater! Mit heiterem Gesicht öffnete Dr. Leporin beide Fensterflügel. Dann versuchte er sein Töchterchen, das ihm entgegengesprungen war, auf den Arm zu nehmen. Doch Dorothea wehrte sich lachend.
„Aber Vater, ich bin doch kein kleines Mädchen mehr, bald zwölf Jahre alt. Überhaupt bin ich heute so kräftig und gar kein bisschen müde.“
Mit unendlicher Zärtlichkeit hing der Blick des Arztes an der schmächtigen Gestalt, die in dem rosa geblümten Kattunkleidchen noch jünger erschien. Scheu glitt seine Hand über das blasse Gesicht, in dem zwei große dunkle Augen strahlten.
„Die Sonne wird dir gut tun, Dörtchen. Es ist Zeit, dass du wieder rote Backen bekommst.“
„Mir ist das Liegen gar nicht so schlimm vorgekommen, Vater, seitdem ich das Kräuterbuch von dir habe. Ich lese so gern darin.“
Der Vater nickte ihr zu. Er wusste nur zu gut, was die Bücher dem häufig bettlägerigen Kind bedeuteten, und dass Dorothea die Schmerzen leichter ertragen konnte, wenn er mit dem Bruder an ihrem Bett las und arbeitete. Dabei konnte es geschehen, dass ein zartes Stimmchen aus den Kissen heraus die Lösung einer Aufgabe meldete, an der Christian noch brütete. Und lag Dorothea allein, weil alle im Haus beschäftigt waren, dann griff sie zu den Büchern und lernte.
„Vater, heute früh habe ich von der Bibernelle gelesen. Ist doch herrlich, dass der liebe Gott so wunderbare Kräfte in die kleinen Pflanzen gelegt hat; man kann es ihnen gar nicht ansehen.“
„Ich habe dir heute auch wieder einen Bibernellenzimt gemacht, der wird deinen Husten und die Brustschmerzen wegnehmen, Dörte.“
„Und er schmeckt auch so gut. Sag mal, Vater, war der kleine Thomas schon bei dir? Ob ihm seine Hand wohl noch weh tut?“
„Er wird noch eine ganze Weile Schmerzen haben und sich wahrscheinlich nie wieder an Vaters Flinte vergreifen. Ich habe gestern Abend den Fall noch einmal genau aufgeschrieben. Es ist allerhand dabei zu lernen.“
Und nun berichtete Dr. Leporin dem aufhorchenden Kind von der Schussverletzung des Jungen. Dazwischen stellte Dorothea Fragen, aus denen der Vater merkte, wie sehr sie bei der Sache war. Plötzlich unterbrach er sich.
„Nun habe ich doch schon wieder ganz vergessen, dass du noch viel zu klein für solche Dinge bist. Und außerdem möchtest du doch ins Freie. Am Schlossberg blühen die Kastanien mit tausend Kerzen.“
Rasch ging die Tür auf und schloss sich ebenso schnell wieder hinter der hohen Gestalt der Frau Leporin.
Eilig, ohne viel nach Mann und Kind zu sehen, ging sie zu dem Spiegel zwischen den Fenstern und drückte an ihrer Haube. Mehrmals band sie die Schleife auf und zu.
Viel schneller als gewöhnlich glitt aber heute ihr Blick von dem eigenen Bild weg und hinunter auf die Gasse.
Auch Dorothea war rasch näher gekommen und bog sich neugierig weit aus dem Fenster, so dass der Vater, über sie hinwegsehend, sie an den Schultern zurückzog.
Lärmend kam ein sonderbarer Zug die Straße herauf. Vorneweg ritt auf einem mageren Schimmel ein Harlekin mit einer großen Trompete, der er laute, schauerliche Töne entlockte. Hinter ihm folgte ein schwarzgekleideter Alter, dessen Satteldecke mit eigenartigen gelben Zeichen, Sternen und Totenköpfen bemalt war.
Ihm zur Seite hing auf einer klapprigen Mähre eine kümmerliche Gestalt. Vorne und auf dem Rücken baumelten diesem Reiter schreckliche Bilder von menschlichen Gebissen. Von Zeit zu Zeit hob der fremdländisch aussehende Mensch eine riesige Zange hoch, woraufhin dann die mitströmende, gaffende Menge in Gelächter und Geheul ausbrach.
„Hör auf, Kilian!“, hörte man den schwarzen Reiter rufen. Doch es dauerte eine Weile, bis der Harlekin bei dem Lärm, den er selbst vollführte und der um ihn herum brandete, den Befehl seines Meisters verstand. So kam es, dass der weitgereiste, vielgerühmte Operateur und Marktschreier Dr. Hummel gerade vor dem Leporinschen Haus mit seinem Gefolge anhielt und seine schwungvolle Rede mit heiserer Stimme nichtsahnend mehr zu den Fenstern des Arztes als zur Straße gewendet vortrug.
Der Harlekin hatte inzwischen die Trompete auf den Rücken geschoben und schlug nach jedem Satz seines Meisters auf die Kesselpauke zu seiner Rechten, dass die Frauen und Kinder hell aufschrien.
Auch Dorothea hielt sich manchmal die Ohren zu, lauschte dann aber wieder aufmerksam, was der sonderbare Fremde so laut verkündete.
Eben gerade schrie er über die Menge, und seine Stimme überschlug sich fast: „Steine, wenn sie in der Galle, in den Därmen oder im Gehirn sitzen, werden von mir aus dem Corpus humanum, will sagen dem irdischen Leib, auf die schnellste Art hinausbefördert. Man komme zu mir auf den Marktplatz, wo das Kurieren sofort beginnt. Ich heile ohne Ansehen der Person! Es wird ein Spektakel geben!
Ganz Quedlinburg wird gesund und fröhlich springen im Jahre des Heils 1727!
Wer jetzt noch humpelt, wird nach meinen Pillen und Mixturen seiltanzen können wie Kilian, mein Harlekin!“
Dieser ließ nach den Worten einen Wirbel los, dass die Zuschauer sich kreischend an die Köpfe griffen.
Der Meister zog den Schimmel des Harlekin an sich heran und gab, indem er sich im Sattel hob, dem Buntgeschminkten eine schallende Ohrfeige. Der tat, als kullere er vom Gaul, und heulte laut in ein grellrotes Taschentuch.
Die Menge johlte.
Lauter erhob sich nun wieder die heisere Stimme Dr. Hummels, und von ihrem Klang fuhr jetzt auch der dritte Reiter auf, dessen Blick bis dahin teilnahmslos über die Menschen geglitten war. Dr. Hummel wies auf ihn.
„Hier mache ich das verehrte Publikum mit dem größten Zahnarzt aller Zeiten, Signor Umberto Dentisto, bekannt! Auch er wird nachher auf dem Markt den sehr verehrten Quedlinburgern mit seiner unnachahmlichen Kunst dienen. Es soll heute Abend in diesen Mauern kein Zahn mehr mucken, noch irgendein Schmerz die Kranken quälen.
Auf zu Dr. Hummel! Auf zu Signor Umberto Dentisto!“
Kilian stieß wieder in die Trompete. Dann setzten sich die drei Reiter in Bewegung, nachdem sie sehr huldvoll zu den Leporinschen Fenstern hinaufgegrüßt hatten.
Wie Jubelgebraus zog es hinter ihnen her.