Britische Kolonien, Massachusetts, 1763. Susanna ist die Tochter einer wohlhabenden Pfarrersfamilie, die in vornehmen Kreisen verkehrt. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck und unterrichtet die Töchter armer Witwen. Doch ihr scharfer Verstand sehnt sich nach höherer Bildung, die ihr als Frau verwehrt blieb, und ihr Herz nach einem ebenbürtigen Gesprächspartner. Da wird ihr Benjamin vorgestellt, ein mittelloser Anwalt mit unkonventionellen Ansichten. Susanna gerät in höchste Gefahr, als sie seine heimlichen Aktivitäten gegen die britische Kolonialmacht unterstützt. Doch während die Vertrautheit zwischen ihnen wächst, scheint der Abgrund zwischen ihren Welten immer größer zu werden ...
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Kapitel 1
Braintree, Massachusetts
September 1763
„Das Gericht befindet den Angeklagten für schuldig“, scholl die Stimme des Richters durch das Gemeindehaus. „Ich verurteile ihn hiermit wegen Mordes zum Tod am Galgen.“
Ein zustimmendes Murmeln durchbrach das angespannte Schweigen im Raum.
Susanna Smiths Brustkorb zog sich vor Mitgefühl zusammen. Von ihrem Platz auf der Empore aus hatte sie einen guten Blick auf Einsiedlerkrebs-Joe und sah, dass sich seine Augen vor Überraschung weiteten und sich die wettergegerbte Haut auf seiner Stirn in Falten zog.
Er mochte zwar ein Mörder sein, aber das hinderte sie nicht da-ran, Mitleid mit dem einsamen, alten Einsiedler zu haben.
„Gott sei Dank“, flüsterte Mary. „Jetzt können wir nachts endlich wieder in Frieden schlafen.“
Die Worte ihrer Schwester gaben ihre eigenen Gedanken und Sorgen wieder, die sie quälten, seit mehrere Farmer den geschundenen, leblosen Körper der jungen Frau am Felsenstrand der Bucht gefunden hatten. In den umliegenden Gemeinden war in der letzten Woche von nichts anderem gesprochen worden.
Jetzt könnten sie endlich wieder ihr normales Leben weiterführen.
Susanna faltete die Hände auf ihrem Schoß.
„Wir müssen für seine arme, verlorene Seele beten.“ Aber noch während sie das sagte, wanderte ihr Blick zu Mr Benjamin Ross, der neben Einsiedlerkrebs-Joe auf der Bank saß und jetzt die Schultern hängen ließ.
Mr Ross hatte ein eloquentes und leidenschaftliches Plädoyer für seinen Mandanten gehalten. Seine Verteidigung war tadellos gewesen und er hätte sie fast davon überzeugt, dass der alte Seemann unschuldig war. Fast.
Aber außer Einsiedlerkrebs-Joe gab es in ihrer gesetzestreuen Gemeinde niemanden, der auch nur annähernd verdächtig sein könnte. Und es war zu beängstigend, auch nur den Gedanken zuzulassen, dass immer noch ein Mörder frei herumlaufen könnte, dass vielleicht einer der gottesfürchtigen Männer, die auf den Kirchenbänken unter ihr saßen, der Schuldige sein könnte.
„Ich hoffe, die Hinrichtung geschieht noch heute und wir können diese furchtbare Sache schnell hinter uns bringen.“ Mary steckte eine goldene Locke, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, unter ihre weite Hutkrempe zurück. Ihre normalerweise blassen Wangen waren durch die warme, stickige Luft, die über dem vollen, quadratischen Raum lag, gerötet. Das Schindelgebäude, das auch als Gottesdienstraum diente, platzte fast aus den Nähten. Obwohl alle drei Türen weit offen standen, konnte die kühle Luft des Septembernachmittags nicht in das Innere des Gemeindehauses von Braintree dringen, auch nicht auf die Empore, auf der die Frauen saßen.
„Der arme, arme Joe“, seufzte Großmutter Eve mit Tränen in ihren normalerweise fröhlichen Augen.
Großmutter Eve hatte schon die ganze Zeit darauf beharrt, dass Joe unschuldig sei. Wenn Susanna es nicht besser wüsste, wäre sie versucht zu glauben, dass Großmutter Eve den Mann besser kannte, als sie zugeben wollte. Aber das war unmöglich. Einsiedlerkrebs-Joe, der gebeugte Schultern hatte und dessen lange Haare wirr über seinen gekrümmten Rücken hingen, hatte schon immer zurückgezogen von allen anderen in seiner baufälligen Hütte in der Nähe des Strandes gelebt.
„Es tut mir leid, Großmutter.“ Susanna ergriff ihre Hand und drückte ihre kräftigen, dicken Finger. „Wir müssen nicht bis zur Hinrichtung bleiben. Wenn du lieber nach Hause fahren möchtest …“
„Euer Ehren, Richter Niles.“ Die kräftige Stimme von Mr Ross übertönte den hohen Geräuschpegel, der jetzt im Gemeindehaus eingekehrt war. „Ich bitte um die Begnadigung meines Mandanten.“
Der junge Anwalt stand auf. Sein Gesicht war gerötet und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn unter der grauen Perücke, die er wie die meisten anderen Männer zu einem Zopf gebunden hatte.
Der Richter, der gerade mit dem Stadtamtmann und dem Wachtmeister gesprochen hatte – wahrscheinlich, um Vorkehrungen für die Hinrichtung zu treffen –, sah Mr Ross mit gerunzelter Stirn an und forderte dann mit erhobener Hand alle Anwesenden zum Schweigen auf. Die langen Locken seiner weißen Perücke, das Beffchen an seinem Hals und seine eindrucksvolle schwarze Robe ließen Richter Niles in den Augen vieler Bürger aussehen wie Gott persönlich.
Die Gespräche im Raum verstummten und man hörte nur noch das Kreischen einer Seemöwe in der Ferne.
„Ungeachtet der vorherrschenden Meinung über meinen Mandanten“, sagte Mr Ross mit einer klaren, deutlichen Stimme, die Susannas Aufmerksamkeit und auch die aller anderen Anwesenden erregte, „beantrage ich das Privilegium clericale. Ich würde gerne beweisen, dass Joe Sewall die Bibel lesen kann und damit ein würdiger Kandidat für eine Besserung ist.“
Der Anwalt trat vor. Sein Rücken war steif und unnachgiebig und seine Miene ernst. Aber mehr als alles andere zog die tiefe Leidenschaft in seinen dunkelbraunen Augen Susanna in seinen Bann.
Als sie als kleines Mädchen ihre Großeltern auf Mount Wollaston in Braintree besucht hatte, war sie Benjamin Ross gelegentlich begegnet. Er hatte im Auftrag seines Vaters, eines Schusters, der wie viele andere Farmer zum Unterhalt seiner Familie noch ein zusätzliches Handwerk betrieb, Schuhe in das Herrenhaus ihrer Großeltern geliefert. Benjamins dunkelbraune Augen mit den Goldsprenkeln darin hatten ihr schon als Kind gefallen.
Damals hatte er viel älter gewirkt und sie war zu jung gewesen, um ihm viel Beachtung zu schenken. Nur ein einziges Mal …
Sie drückte ihre Hand an ihr Mieder, als könnte sie dadurch die beschämende Erinnerung vertreiben.
Sie hatte ihn seit jenem Tag vor langer Zeit, als sie ein dummes, albernes Kind gewesen war und so törichte Dinge zu ihm gesagt hatte, nicht mehr gesehen. Kurze Zeit später hatte sie gehört, dass sein Vater vier Hektar Land verkauft hatte, um ihn nach Harvard schicken zu können.
In den Jahren danach hatte sie Benjamin Ross und seine inte-
ressanten, goldfunkelnden Augen fast vergessen. Bis zu dem Tag, an dem sie erfahren hatte, dass er die Verteidigung für Einsiedlerkrebs-Joe übernehmen würde. Erst da hatte Großmutter Eve ihr erzählt, dass Mr Ross sein Studium in Harvard und seine Anwaltsausbildung abgeschlossen hatte und vor Kurzem nach Braintree zurückgekehrt war.
Mr Ross drehte sich um und wandte sich an das Publikum im Gemeindehaus. „Haben wir als gottesfürchtige Christen nicht die Pflicht, eine abtrünnige Seele auf den richtigen Weg zurückzuführen? Möchten Sie den Rest Ihrer Tage mit der Last auf Ihrem Gewissen leben, diesen Mann zum Tod und zur ewigen Verdammnis verurteilt zu haben? Hätte Ihr Gewissen nicht mehr Frieden, wenn die Hinrichtung ausgesetzt wird und dieser Mann die Gelegenheit zur Läuterung bekommt?“
Er schwieg einen Moment und ließ seinen Blick über die reichen Herren der Gemeinde wandern, darunter Susannas Großvater Quincy, die in ihren maßgeschneiderten Anzügen und mit ihren gepuderten Perücken in den vordersten Reihen saßen. Mr Ross’ leidenschaftliches Plädoyer richtete sich auch an die Farmer und Arbeiter auf den hinteren Bänken und sogar an den Offizier, der steif wie ein Schwert an der Rückwand des Gemeindehauses stand, wahrscheinlich, um für Frieden und Ordnung bei der Gerichtsverhandlung zu sorgen.
Susanna war überrascht, als Mr Ross’ Blick auch zur Empore mit den Frauen hinaufwanderte und fast den Eindruck erweckte, ihre Meinung wäre ebenfalls wichtig.
Als sie sein Blick streifte, stockte Susanna der Atem. Erkannte er sie? Erinnerte er sich an die albernen Dinge, die sie vor so vielen Jahren zu ihm gesagt hatte?
Aber aus seiner Miene sprachen nur seine tiefe Leidenschaft für seinen Mandanten und sein Appell um Mitgefühl.
Großmutter Eve drückte Susannas Finger. „Das könnte funktionieren. Ich wusste, wenn Joe überhaupt ein Anwalt helfen kann, dann ist das Benjamin.“
Die liebe Frau rutschte an die Kante ihrer Bank vor, ohne Rücksicht auf ihre feinen Satinunterröcke zu nehmen, die den weiten Weg aus London zurückgelegt hatten und jetzt zu einem wenig würdevollen Berg zusammengedrückt wurden. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet und ihre Sorgen waren offenbar in den Hintergrund gedrängt. Jetzt umklammerte sie das Geländer und sah aus, als würde sie, wenn das möglich wäre, am liebsten hinabfliegen und Mr Ross umarmen.
Susanna hielt Großmutter Eves Hand fester. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Großmutter eine Möglichkeit zu fliegen finden würde, wenn sie nur könnte.
„Mr Ross“, sagte Richter Niles schließlich, „wollen Sie uns weismachen, dass dieser Verbrecher lesen kann?“
Mr Ross nickte Pastor Wibird zu, der in der Bankreihe hinter ihm saß.
Der Pastor erhob sich und zupfte an den steifen Spitzen seiner weißen Halsbinde, bevor er Mr Ross eine dicke Bibel reichte.
„Euer Ehren, ich möchte meinen Mandanten gern die ersten Verse des einundfünfzigsten Psalms vorlesen lassen.“ Mr Ross schlug die Bibel auf und blätterte darin. Dann schob er die Hand unter Einsiedlerkrebs-Joes Ellenbogen und half dem Mann auf die Beine.
Jeder wusste, dass es eine akzeptable und gängige Methode war, Privilegium clericale zu beantragen, um sich vor dem Galgen zu retten. Wenn ein Verbrecher beweisen konnte, dass er des Lesens mächtig, und bereit war, sich zu ändern, konnte der Richter eine mildere Strafe verhängen.
Mr Ross deutete mit dem Finger auf die Worte auf der Seite.
Susanna beugte sich so weit vor, dass ihr Mieder gegen ihre Rippen drückte und ihr die Luft abschnitt. Ihre Gedanken purzelten durcheinander wie Wollspulen in einem Wollkorb.
Wie war es möglich, dass sie noch vor wenigen Momenten erleichtert gewesen war, dass Einsiedlerkrebs-Joe die gerechte Strafe für seine Verbrechen bekam, jetzt aber den Atem anhielt und hoffte, dass der Mörder tatsächlich lesen konnte? Und dass Mr Ross eine Möglichkeit finden würde, diesem Mann das Leben zu retten?
„‚Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.‘“ Einsiedlerkrebs-Joe las klar und deutlich wie ein gelehrter Mann, ganz anders, als sie es von einem Fischer erwartet hatte. „‚Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde.‘“
Susanna schwieg verblüfft, genauso wie alle anderen im Gerichtssaal, mit Ausnahme von Großmutter Eve, die über das ganze Gesicht strahlte.
„Wie Sie sehen können“, sagte Mr Ross und klappte die Bibel mit einem dumpfen Schlag zu, „kann mein Mandant sehr gut lesen und ist damit ein akzeptabler Kandidat für eine Läuterung.“
Richter Niles betrachtete Einsiedlerkrebs-Joe. Seine Verwirrung war ihm deutlich anzusehen. Schließlich ergriff er wieder das Wort. „Mr Ross, wie können wir sicher sein, dass der Verbrecher geläutert wird und sich ändert? Wir wollen auf keinen Fall, dass er wieder frei herumläuft und die nächste junge Frau tötet.“
Die Worte des Richters trafen Susanna wie ein eisiger Herbstwind und erinnerten sie an die heimtückische Art des begangenen Mordes.
Richter Niles hatte recht. In ihrer Gemeinde gab es kein Gefängnis. Was wäre, wenn Einsiedlerkrebs-Joe auf die Idee käme, erneut zuzuschlagen?
Mr Ross deutete mit dem Kopf auf Pastor Wibird. „Unser Pastor Wibird hat sich einverstanden erklärt, Mr Sewall unter seine Fittiche zu nehmen.“
Der Pastor kniff die Augen zusammen und lächelte so breit, dass mehrere schwarze Zähne zum Vorschein kamen.
„Pastor Wibird wird nicht nur mit Mr Sewall die Bibel lesen, sondern auch für Mr Sewall die Verantwortung übernehmen.“
„Entspricht das wirklich Ihrer Absicht, Herr Pastor?“, fragte der Richter.
„Absolut“, erwiderte der Pastor. „Als Hirte dieser Herde nehme ich meine Pflichten sehr ernst. Da die Liebe unseres himmlischen Vaters jedem Menschen gilt, kann ich nichts anderes tun, als einem verlorenen Sünder meine liebenden Arme entgegenzustrecken.“
Der Richter schürzte die Lippen und schaute zuerst den Pastor und dann Mr Ross an, bevor er sich vorbeugte, um sich mit dem Stadtamtmann und dem Wachtmeister zu beraten.
Der Stadtamtmann nickte und begab sich zur Hintertür.
Susanna verfolgte, wie er sich einen Weg durch die Menschenmenge zur westlichen Tür des Gebäudes bahnte. Es hatte große Ähnlichkeit mit dem Gemeindehaus in Weymouth, wo ihr Vater Pfarrer war. Das Innere war schlicht und ohne irgendwelche Kunstgegenstände und Ausschmückungen. Ihre puritanischen Vorfahren hatten ihr Leben riskiert, um sich von der in Pomp und Ritualen gefangenen englischen Staatskirche zu befreien und in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Ganz in der Tradition ihrer Gründerväter waren die Kirchen auch heute noch ohne irgendwelchen Schmuck. Es hing nicht einmal ein Kreuz an der Wand.
„Mr Ross.“ Richter Niles erhob sich und seine wallende Robe legte sich um seine Füße. „Aufgrund ihres Antrags auf das Privilegium clericale für Ihren Mandanten habe ich entschieden, die Strafe für Mr Sewall abzumildern.“
Großmutter Eve, die die Luft angehalten hatte, atmete erleichtert aus, während Mary gleichzeitig scharf einatmete.
„Anstelle des Todes am Galgen“, fuhr der Richter fort, „ordne ich hiermit an, dass Joseph Sewall beide Ohren abgeschnitten und seine rechte Hand und Wange mit einem M für Mord gebrandmarkt werden.“
Der Urteilsverkündung folgte ein lautes Stimmengewirr im Gemeindehaus. Es gab sowohl vehemente Proteste als auch Zustimmung zu dem neuen Urteil.
Susanna sprach kein Wort. Sie war sich unschlüssig, ob sie sich aufregen sollte, weil ein Mörder freigelassen wurde, oder erleichtert sein müsste, dass Mr Ross seinem Mandanten geholfen hatte.
Mr Ross schlug Einsiedlerkrebs-Joe auf den Rücken und bedachte ihn mit einem Lächeln, das besagte, dass sie gewonnen hätten.
Einsiedlerkrebs-Joe runzelte die Stirn und seine Augenbrauen zogen sich traurig zusammen. Offenbar teilte er Mr Ross’ Zufriedenheit über die neue Strafe nicht. Daraus konnte sie dem alten Mann keinen Vorwurf machen. Der Richter hatte zwar sein Leben verschont, aber er wäre für den Rest seines Lebens verstümmelt und mit einem abscheulichen Brandmal auf dem Gesicht und auf der Hand verunstaltet. Vielleicht wäre der Tod am Galgen besser, als die Schuld für seine Verbrechen lebenslänglich auf seinem Körper eingebrannt zu bekommen. Niemand könnte je vergeben oder vergessen, was er getan hatte. Am allerwenigsten er selbst.
„Das ist ja wunderbar.“ Großmutter Eve zeigte wieder ihr fröhliches Lächeln. „Ich finde, wir sollten heute Abend ein Fest veranstalten, um Mr Ross’ Triumph zu feiern.“
Mary konnte nur den Kopf schütteln. Ihr Gesicht wirkte noch blasser als gewöhnlich. „Aber Großmutter Eve, was ist mit den jungen Frauen? Sind sie nicht weiterhin in Gefahr, solange Einsiedlerkrebs-Joe lebt?“
„Ja, ihr seid weiterhin in Gefahr, Liebes.“ Großmutter Eve war bereits aufgestanden und blickte in den Saal hinunter. „Aber nicht wegen Joe. Von Joe hat euch nie irgendeine Gefahr gedroht.“ Die lebhafte Frau beugte sich über das Geländer und winkte Mr Ross mit beiden Armen zu sich.
„Vorsicht, Großmutter!“ Susanna packte die Falten des weit geschnittenen Rückenteils von Großmutter Eves Kleid.
„Mr Ross!“ Großmutter Eve winkte noch kräftiger.
Der junge Anwalt war in ein lebhaftes Gespräch mit einem Mann vertieft, der einen modischen, korallenfarbenen Herrenrock trug, der bis zum Ende seiner farblich passenden Kniehose fiel. Alles an diesem Mann verkündete, dass er reich war, angefangen bei seinem im englischen Stil sauber rasierten Gesicht über sein makelloses weißes Halstuch bis hin zu seinen bestickten Strümpfen und den polierten Silberschnallen an den Schuhen. Im Gegensatz zu ihm strahlte Mr Ross in seinem schlichten, abgetragenen Anzug eine Robustheit aus, die erahnen ließ, dass er vom Land kam.
Als Großmutter Eve seinen Namen rief, sah Mr Ross zur Empore hinauf.
„Eine ausgezeichnete Verteidigung, Mr Ross!“, rief Großmutter mit einem anerkennenden Lächeln.
„Danke, Mrs Quincy.“ Er neigte den Kopf.
„Sie kommen doch heute Abend zu einem Fest nach Mount Wollaston, nicht wahr?“ Großmutter Eve baumelte wie ein hell erleuchteter Kronleuchter über dem Geländer. Susanna stand schnell auf und hielt ihre Großmutter am Arm fest, um zu verhindern, dass sie nach unten purzelte. Gott sei Dank kam Mary auf ihrer anderen Seite auf die Idee, das Gleiche zu tun.
„Meine zwei schönen Enkelinnen werden auch da sein.“
Der elegant gekleidete Herr drehte sich um und seine Augen weiteten sich, als er Susanna und Mary auf beiden Seiten von Großmutter Eve erblickte, wie sie die alte Frau mühsam festhielten. Sein Blick wanderte von Mary zu Susanna und dann zurück zu Mary.
Natürlich blieb sein Blick an ihr hängen. An Mary. An der hübschen Mary mit ihren blonden Haaren und ihrer hellen Haut.
Nicht an der dunkelhaarigen Susanna mit ihrem dunkleren Teint.
Warum sollte jemand dem Mond Beachtung schenken, wenn er neben der Sonne stand? Wer interessierte sich schon für den Ernst der Meerestiefen, wenn er die unbeschwerte Frische eines plätschernden Baches genießen konnte?
Wenigstens fand Susanna eine gewisse Befriedigung in Mr Ross’ Reaktion, der der Versuchung, Mary anzustarren, nicht nachgegeben hatte. Er ignorierte sie beide.
„Und, bitte, bringen Sie Ihre Freunde mit.“ Großmutter Eve deutete mit dem Kopf auf den vermögend aussehenden Herrn. „Ich sage immer, je mehr Gäste, umso fröhlicher ist ein Fest.“
„Danke für die Einladung, Mrs Quincy“, setzte Mr Ross an, „aber ich helfe morgen früh meinem Vater, Schlickgras einzubringen. Leider muss ich deshalb …“
„… heute Abend für eine Weile zu dem Fest gehen“, fiel ihm sein Freund ins Wort und schlug Mr Ross auf den Rücken, ohne den Blick von Mary abzuwenden. „Mein guter Freund, Benjamin Ross, muss noch lernen, lockerer zu werden und das Leben ein wenig mehr zu genießen.“
Marys Wangen hatten eine reizvolle Röte angenommen. Sie lächelte ihren neuen Bewunderer an und senkte züchtig die Wimpern.
Hatte sich Mutter nicht erst vor Kurzem darüber beklagt, dass es keine passenden Verehrer für ihre Töchter gäbe? Mutter hatte sogar überlegt, sie beide nach Boston zu ihrem reichen Onkel Isaac zu schicken, allein zu dem Zweck, dass sie Ehemänner fänden – Männer, die das nötige Prestige und Vermögen hatten, um des Quincy-Blutes, das durch die Adern der Mädchen floss, würdig zu sein.
Susanna ließ sich zwar nie eine Gelegenheit entgehen, die vierzehn Meilen in den Norden zu fahren, um ihre Tante, ihren Onkel und alle Freunde, die sie bei ihren Besuchen in Boston kennengelernt hatte, wiederzusehen. Doch sie verabscheute die Vorstellung, nur deswegen nach Boston zu fahren, um sich einen Mann zu angeln.
Den Gedanken zu flirten, zu kokettieren und zu kichern, um damit einen gut situierten Mann auf sich aufmerksam zu machen, fand sie abstoßend. Sie verabscheute es, dass Männer ihr in der Hoffnung, eine Braut zu bekommen, durch die sie ihre gesellschaftliche Stellung verbessern würden, den Hof machen könnten. Und sie wollte auf keinen Fall das Gleiche tun müssen.
Aber obwohl ihr Herz sich dagegen sträubte, durch eine Heirat gesellschaftlichen Status und Vermögen anzustreben, wusste sie, dass es eines Tages unvermeidlich wäre. Ihr blieb in dieser Sache überhaupt keine andere Wahl.
Wenn sie nur genauso mühelos flirten könnte wie Mary!
Ihre Schwester hob wieder die Wimpern und warf einen Blick auf den jungen Herrn, der furchtbar albern grinste und offenbar den Blick nicht von ihr losreißen konnte.
Susanna warf einen Blick auf Mr Ross. Bemerkte er, dass sein Freund sich gerade hoffnungslos in Mary verliebte?
Als spüre er ihren fragenden Blick, sah Mr Ross sie endlich an. Sein intensiver Blick drang hinter ihre höfliche Fassade. Erkannte er sie?
Er zog eine Braue hoch und ein Mundwinkel verzog sich zum Ansatz eines vielsagenden Grinsens. Aber in seinem Lächeln lag nicht die geringste Wärme. Das leichte Grinsen verwandelte seine Augen eher zu Eis.
Er erinnerte sich also tatsächlich an sie und die eingebildeten Dinge, die sie zu ihm gesagt hatte.
Die Scham trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sie wollte die Wimpern senken, wie es Mary getan hatte. Aber stattdessen zwang sie sich, seinem Blick standzuhalten.
„Ausgezeichnet.“ Großmutter Eve betrachtete die zwei Männer und das Interesse, das sie ihren Enkelinnen schenkten. Sie lächelte breit und sah dabei aus wie eine Katze, die sich über ihren Fang freute. „Dann sehen wir Sie beide heute Abend.“
Mr Ross begann, den Kopf zu schütteln. „Danke, Mrs Quincy, aber …“
„Natürlich sehen Sie uns heute Abend“, unterbrach sein Freund ihn.
Bevor Mr Ross weiter protestieren konnte, platzte der Stadtamtmann mit dem Schmied im Gefolge durch die Tür. Die Wollmütze des Schmieds saß schief und seine Lederschürze hing weit unten über seinem runden Bauch. Da er der einzige Handwerker war, der so viel zu tun hatte, dass er den ganzen Tag in seiner Werkstatt stand, hatte er wahrscheinlich schon einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Jetzt schritt er nach vorne zum Richter und seine Stiefel hallten in Unheil verkündendem Takt auf dem Boden wider. In einer rußbedeckten Hand hielt er einen Meißel und einen kleinen Amboss, und in der anderen hatte er ein langes Brandeisen, das am anderen Ende rot glühte.
Susanna wich schnell vom Geländer zurück. Sie hatte noch nie Gefallen daran gefunden zuzusehen, wie ein anderer Mensch bestraft wurde oder leiden musste. Sie verstand den Grund, warum man Verbrecher in der Öffentlichkeit bestrafte. Ihr Leiden sollte andere davon abhalten zu sündigen.
Trotzdem konnte sie es nicht ertragen, bei der Bestrafung zuzusehen oder zuzuhören. Sie hatte auch versucht, ihre Ohren vor den Gerüchten über den Tod der jungen Frau zu verschließen. Aber seit Tagen sprach jeder darüber. Natürlich hatte niemand die Frau identifizieren können. Sie kam nicht aus Braintree oder der umliegenden Gegend.
Einige sagten, die junge Frau hätte ausgesehen, als wäre sie gejagt worden, bis sie schließlich zusammengebrochen war, weil sie nicht mehr hatte weiterlaufen können. Ihre nackten Füße waren zerschunden und blutig und voller spitzer Muschelscherben. Andere wiederum behaupteten, sie wäre vergewaltigt und erwürgt worden.
Wie auch immer sie zu Tode gekommen war, es war offenbar sehr schmerzhaft gewesen.
Plötzlich breitete sich Schweigen im Gemeindehaus aus.
Susanna ging um die Bank herum und drückte sich an die Wand der Empore. Ihr Körper spannte sich in der Erwartung des ersten gequälten Schmerzensschreis an.
Dem Klirren des Meißels auf den Amboss folgte ein tiefes, schmerzhaftes Stöhnen.
Sie drückte die Augen zu, aber trotzdem sah sie im Geiste den blutigen Rest des Ohrs, das dem Mann geblieben war.
Als der Schmied schließlich das heiße Eisen mit dem M auf Einsiedlerkrebs-Joes Haut legte, das ihn lebenslänglich als Mörder brandmarkte, hielt sie sich die Ohren zu. Aber so sehr sie es auch versuchte, konnte sie die Schmerzensschreie nicht aussperren.
Ihr Magen zog sich zusammen.
Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er diese Strafe und keine Gnade verdiente. Die junge Frau, die von ihm getötet worden war, hatte sicher auch um Gnade gebettelt und keine gefunden.
Trotzdem blutete ihr das Herz und ihre Wangen waren tränennass, als sie schließlich den Mut aufbrachte, die Hände von ihren Ohren zu nehmen.
Kapitel 2
Ben schlüpfte durch die halb offene Salontür und schloss sie geräuschlos hinter sich.
Er brauchte dringend eine Verschnaufpause von den Gästen.
Obwohl er Mrs Quincy mochte, fand er ihre reichen Freunde und Verwandten ermüdend. Sie trugen die Nase hoch, wie sie es schon immer getan hatten. Nach nur einer Stunde, in der sie ihn von oben herab behandelt hatten, als wäre er immer noch nicht mehr als nur ein ungebildeter Schustersohn, hatte er die Nase voll.
Er wollte gehen.
Aber leider war das noch nicht möglich.
Cranch war viel zu sehr damit beschäftigt, mit einer von Mrs Quincys Enkelinnen zu flirten. Und er würde Ben das Leben unnötig schwer machen, wenn er versuchen sollte, ihn dazu zu bewegen, das Fest schon so früh am Abend zu verlassen.
Ben durchquerte geräuschlos das Zimmer, da der dicke Teppich seine Schritte dämpfte, ging hinter zwei hohen Sesseln vorbei, die vor einem gemütlichen Feuer standen, und trat an eines der Fenster. Er schaute durch die vielen Scheiben auf das große, sauber gepflegte Gelände hinaus, das das Quincy-Herrenhaus umgab.
Die beeindruckende Villa herrschte immer noch auf den sanft abfallenden Hängen des Mount Wollaston über Braintree, genauso wie damals, als er als Junge über die Hügel gestreift war. Der Abendhimmel war von den letzten Spuren des Sonnenuntergangs durchzogen und brachte die Herbstblätter zum Leuchten, die in einem faszinierenden Rot, Gelb und Orange strahlten.
Er atmete tief ein, zog die Perücke von seinem Kopf und warf sie auf den halbrunden Tisch, der am Fenster stand. Die zwei Kerzen in den schlanken, silbernen Kerzenständern waren bereits angezündet und flackerten in den immer dunkler werdenden Schatten vor dem Fenster.
Es war ein sehr langer Tag gewesen. Und dann war auch noch dieser britische Offizier, der in Braintree stationiert war, im Gemeindehaus aufgetaucht und hatte sein Plädoyer verfolgt.
Warum war Lieutenant Wolfe gekommen? Ben wollte nicht an die Möglichkeit denken, dass der Offizier von seinen Kontakten zum Caucus Club, einer verschwiegenen politischen Organisation, wusste. Wie sollte er davon erfahren haben? Er und die anderen Dissidenten bemühten sich sehr, ihre Treffen und Aktivitäten geheim zu halten.
Ben fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und zog sie in seinem Nacken zu einem Zopf zusammen.
Jedes Mal, wenn er an den Schmerz und die Verwirrung in Joseph Sewalls Augen dachte, als das Brandeisen seine Wange berührt hatte, spannte sich Bens Körper unter neuerlichem Protest an.
Am liebsten hätte er genauso geschrien wie der alte Joe. Er hatte im Grunde alle anschreien wollen, die dort im Gemeindehaus versammelt gewesen waren. Sie waren in ihren Ansichten zu festgefahren, zu voreingenommen und viel zu schnell mit ihrem Urteil. Als Mrs Quincy ihn gebeten hatte, Joe zu verteidigen, war Ben gleich klar gewesen, dass er einen aussichtslosen Fall übernahm. Er wusste, dass der alte Joe den Mord bestimmt nicht begangen hatte, und war fest entschlossen gewesen, dem armen Mann wenigstens das Leben zu retten. Das hatte er geschafft. Er sollte sich eigentlich freuen, dass Joe noch lebte und nicht am Galgen baumelte.
„Ich hätte mehr tun sollen“, flüsterte er seinem trüben Spiegelbild im Fenster zu. Es spielte keine Rolle, dass sein Vater nach dem Prozess auf ihn zugekommen war und ihm mit seinem Blick deutlich gezeigt hatte, dass er stolz auf ihn war.
Er hätte eine Möglichkeit finden müssen, Joes Unschuld zu beweisen.
Er hatte nach jemandem gesucht, der Joe für die Nacht, in der der Mord begangen worden war, ein Alibi geben konnte – jemand, der ihn irgendwo gesehen hatte oder bei ihm gewesen war. Aber natürlich hatte sich Joe wie gewöhnlich alleine zu Hause aufgehalten. Ben hatte auch Spuren untersucht, die ihn zum echten Mörder führen würden. Aber damit hatte er ebenfalls keinen Erfolg gehabt.
Das Problem war auch, dass schon seit Jahren jeder in Braintree vor dem alten Joe Angst hatte. Daher war es keine Überraschung, dass die Menschen ihn schnell verantwortlich gemacht hatten, als eine fremde, junge Frau vor seiner verwitterten Hütte am Meer ermordet aufgefunden worden war.
Ben konnte über so viel Dummheit nur den Kopf schütteln. Welcher Mörder würde eine Leiche für jeden gut sichtbar direkt vor seinem Haus liegen lassen? Ein Mörder würde versuchen, die Beweise zu verstecken oder es so zu drehen, dass sie auf einen anderen hindeuteten.
Aber natürlich hatte man auf keines von Bens Argumenten gehört. Das hatte er schon vorher gewusst. Wer hörte schon auf den armen Ben Ross, den Sohn eines einfachen, ungebildeten Bauern.
Eine Bewegung, die sich im Fenster spiegelte, lenkte Ben von seinem inneren Kampf ab und seine Muskeln spannten sich an. War außer ihm noch jemand hier im Raum?
Er fuhr schnell herum.
Eine junge Frau wollte sich gerade von einem Sessel vor dem Feuer erheben. Ihre Augen waren weit aufgerissen und auf ihn gerichtet. Sie hatte sich im Zeitlupentempo bewegt, als versuche sie, aus dem Raum zu schleichen, ohne bemerkt zu werden.
Jetzt erstarrte sie mitten in ihrer Bewegung. Ein Buch von Milton lag auf dem runden Tisch, der neben dem Sessel stand.
„Entschuldigung“, sagte sie. „Ich hätte mich bemerkbar machen sollen, sobald Sie das Zimmer betreten haben.“
Er erkannte sie sofort, genauso wie heute bei dem Prozess. Susanna Smith. Mrs Quincys Enkelin. Sie war zu einer attraktiven jungen Frau herangewachsen und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem schlaksigen, kränkelnden Mädchen, das sie früher gewesen war.
In der zunehmenden Abenddämmerung fiel das Licht des Feuers auf sie und beleuchtete ihre feine Haut und ihre Augen, die so blau wie der Himmel waren. Ihre dunkelbraunen Haare fielen in weichen Wellen um ihre schlanken Wangen und waren mit einer Schleife locker zurückgebunden.
Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und strich die Falten aus den seidigen Schichten ihres Rockes. Das schimmernde Blau des Kleides hob ihre dunklen Haare hervor und betonte ihre Augen. Einen langen Augenblick konnte er sie nur sprachlos anstarren.
Ihre Finger bewegten sich nervös zu der dreireihigen Perlenkette um ihren Hals.
Diese Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Perlen, auf ihre Perfektion und auf alles, wofür diese Perlen symbolisch standen. Das genügte, um den Zauber, der sich auf ihn gelegt hatte, zu brechen. Sein Blut wurde kälter, genauso wie heute Nachmittag im Gemeindehaus, als er sie auf der Empore erblickt hatte.
„Susie Smith“, sagte er und benutzte, ohne auf die Etikette zu achten, ihren Spitznamen aus Kindertagen. Susanna Smith mochte sich in eine faszinierende Schönheit verwandelt haben, aber er würde nie vergessen, dass sie früher ein verwöhntes, eingebildetes Mädchen gewesen war.
„Mr Ross.“ Sie neigte leicht den Kopf, wobei ihr eine Locke ins Gesicht rutschte. Sie schob sie zurück und steckte sie sich hinters Ohr.
Er bewunderte unwillkürlich die elegante Biegung, die von ihrem Ohr zu ihrem Kinn verlief. Als sie ihn mit einem vorsichtigen Lächeln bedachte, fand er es fast charmant, wie ihre Lippen sich auf einer Seite zum Ansatz eines Grübchens nach oben zogen.
„Und?“, sagte er und zwang sich, nicht zu vergessen, wer sie war. „Ich nehme an, du bist inzwischen mit dem reichen Prinzen, den du heiraten wolltest, glücklich verlobt?“
Ihr leichtes Lächeln verschwand und das Grübchen ebenfalls. Beschämung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Einen kurzen Moment lang regte sich Reue in ihm. Er sollte ihr nach so langer Zeit nicht mehr böse sein, nicht wahr?
Ihr Blick richtete sich auf das flackernde Feuer, als suche sie nach neuer Energie. Dann blickte sie ihn direkt an. Dieses Mal funkelten ihre Augen. „Natürlich stehen die Prinzen bei mir Schlange und betteln darum, dass ich sie heirate. Hattest du etwas anderes erwartet?“
Aha, sie hatte also immer noch eine scharfe Zunge. „Ich bin sicher, dass du dein Talent, alle armen Bauernjungen in ihre Schranken zu verweisen, perfektioniert hast.“
„Ich war darin doch damals schon ziemlich perfekt, nicht wahr?“ Auch wenn ihre Antwort keck klang, lag in ihrer Miene etwas, das verriet, dass sie ihre Worte von früher bereute.
Er versuchte, in ihr Herz zu blicken. War es möglich, dass Susanna Smith sich im Laufe der Jahre innerlich genauso sehr verändert hatte wie äußerlich?
„Wie du sehen kannst …“, sie deutete mit der Hand durch den Raum und bedachte ihn wieder mit einem halben Lächeln, „… bin ich die begehrteste junge Frau auf diesem Fest.“
Er brach den Augenkontakt zu ihr nicht ab. Das konnte er nicht. Er wollte ihr beweisen, dass er nicht mehr ein einfacher, ungebildeter Bauernjunge war. Er war ein erwachsener Mann, ein Harvardabsolvent und fest entschlossen, alles zu tun, um sich einen guten Ruf zu erwerben.
Vielleicht war er noch kein bedeutender Anwalt. Vielleicht war er nicht der perfekte Ehemann. Aber er war auf einem guten Weg dorthin. Er begann bereits, sich einen Namen zu machen. Und wenn er fleißig genug arbeitete, könnte er sich vielleicht sogar eines Tages eine Kanzlei in Boston leisten.
Er würde ihr – und allen anderen – zeigen, dass er kein Niemand war.
Unter seinem unablässigen Blick schienen sich ihre Wangen zu verdunkeln, auch wenn sie nicht der Typ Frau zu sein schien, der leicht errötete.
Gut. Sie verdiente es, sich unbehaglich zu fühlen. Wenigstens einen Moment lang.
Ihre langen, dunklen Wimpern flatterten, dann senkten sie sich und verbargen ihre Augen. Sie fuhr mit dem Finger über den Rücken des Buches, das sie gelesen hatte.
Er war ein bisschen hart zu ihr, aber irgendwie konnte er nicht anders. „Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Buch von Milton irgendwelche Bilder enthält.“
„Dann erinnerst du dich richtig.“
„Was machst du dann damit, wenn es keine Bilder hat, die dich unterhalten könnten? Deine Körperhaltung trainieren?“
„Ist es so unmöglich zu glauben, dass eine junge Frau Milton zu ihrer Unterhaltung lesen könnte?“
„Du? Du liest Milton?“ Sein Tonfall war zynischer, als er beabsichtigte. „Was nützt einer Frau Das verlorene Paradies?“
„Und was nützt ein solches Buch einem Mann?“
„Sehr viel.“ Er trat vom Fenster weg und ging auf sie zu. „Die großen Klassiker fordern unseren Verstand heraus, sie helfen uns zu denken und zwingen uns, das Leben zu gewichten, damit wir zu besseren Menschen werden können.“
„Dann hast du gut zusammengefasst, warum ich dieses Buch lese.“ Obwohl sie die Goldbuchstaben auf dem Buchdeckel ruhig nachfuhr, tobte in ihren Augen ein Sturm. „Ich fordere meinen Verstand heraus, um ein besserer Mensch zu werden.“
Er blieb vor dem Tisch stehen. Sie war weniger als eine Armeslänge von ihm entfernt, so nahe, dass er den Geruch von Apfelmost in ihrem Atem riechen konnte. Er konnte sie fast wieder vor sich sehen, wie sie als kleines Mädchen in dem August, bevor er nach Harvard gegangen war, im Apfelbaum festgesteckt hatte.
Sie war mit dem Absatz ihres Seidenbrokatschuhs im Baum stecken geblieben und hatte sich bei dem Versuch, ihn zu befreien, den Knöchel verdreht. Zu allem Überfluss war sie noch so weit vom Haus entfernt gewesen, dass niemand ihre Hilferufe hatte hören können … bis Ben auf dem Rückweg von einer Auslieferung, die er für seinen Vater erledigt hatte, durch den Obstgarten geschlendert kam.
Tränen waren über ihr dünnes Gesicht gelaufen, ihre Haube war nach unten gefallen und ihre Haare hatten zerzaust um ihren Kopf geweht. Ihr rosafarbener Rock war bei ihren erfolglosen Versuchen, sich zu befreien, schmutzig geworden und zerrissen.
Zuerst hatte er Mitleid mit ihr gehabt. Sie hatte hilflos und verlassen wie eine verletzte Taube gewirkt.
Er war auf den Baum geklettert und schnell zu dem Schluss gekommen, dass er sie am leichtesten aus ihrer Notlage befreien könnte, wenn sie ihren Fuß aus dem Schuh zog.
Sie hatte bei seiner Aufforderung, aus dem Schuh zu schlüpfen, entrüstet geschnaubt, so als hätte er sie gebeten, ihr Kleid auszuziehen. „Ich würde es nie wagen, meinen Fuß vor dir zu entblößen.“ Ihre Stimme klang wie die einer hochnäsigen jungen Frau und nicht nach einem kleinen, verängstigten Mädchen.
„Aber dann könnte ich den Schuh herausdrehen, ohne deinen Knöchel zu verletzen.“ Er wackelte an dem Zweig neben ihr. Kleinere Zweige drückten an seinen Hut und schoben ihn zurück, während die reifen Äpfel gegen seinen Rücken schlugen.
„Ich erlaube dir nicht, meinen nackten Fuß zu sehen.“
„Aber er ist doch nicht nackt, oder?“ Er grinste und hoffte, sie damit aufzumuntern. „Du hast doch Strümpfe an, nicht wahr?“
„Natürlich.“ In ihre blauen Augen trat ein Blick, der deutlich sagte, dass sie ihn für ungebildet hielt, weil er eine solche Frage stellte. „Aber ich bleibe lieber hier oben in diesem Baum stecken, als dir einen Blick auf meinen Knöchel zu erlauben.“
Er betrachtete ihren fein genähten Seidenschuh, der kleiner war als seine Handlänge. Sie war ein Mädchen von fünf oder vielleicht sechs Jahren, viel jünger als er mit seinen fünfzehn Jahren. Glaubte sie wirklich, ihr Knöchel würde ihn interessieren?
„Außerdem“, sagte sie, „verstecke ich mich hier und will nicht gefunden werden. Deshalb werde ich nie von diesem Baum hinabklettern.“
Er versuchte, den eingeklemmten Absatz ihres Schuhs zu bewegen. „Du hast also vor, für immer auf diesem Baum zu leben?“
Sie nickte.
Er zog sein Taschenmesser aus der Tasche und beugte sich näher nach unten, um den Zweig zu begutachten. „Und was hat dich so zur Verzweiflung gebracht, dass du beschlossen hast, wie ein Vogel auf einem Baum zu leben?“
„Mein furchtbarer Cousin hat gesagt, dass keiner ein dürres, dunkelhaariges Mädchen wie mich heiraten möchte.“ Ihre Stimme zitterte und Ben sah, dass Tränen über ihre Wangen liefen, als er den Kopf hob.
Er wusste, von welchem furchtbaren Cousin sie sprach. Von keinem anderen als dem unerträglichen Elbridge Quincy. Jedes Mal, wenn der Junge in seiner vornehmen, weinroten Kutsche mit den eleganten Rappen zu Besuch kam, machte er Schwierigkeiten.
„Vergiss doch einfach, was dein furchtbarer Cousin sagt. Er ist der schlimmste Lügner, den ich je gesehen habe.“ Ben schob das Messer in den Zweig, in dem ihr Absatz feststeckte. „Ich würde dich heiraten, wenn du älter wärst.“
Er meinte das nicht im Ernst. Er versuchte nur, etwas zu sagen, das ihrer großen Tränenflut Einhalt gebieten würde. Woher sollte er, der in einer Familie aufgewachsen war, in der es nur Jungen gab, wissen, wie man kleine Mädchen tröstete?
Sie brach mitten in ihrem Schluchzen ab. „Oh, ich könnte dich nie heiraten.“ Ihre Stimme war tief und ernst und ihre Augen vor Entsetzen ganz groß.
Ein kalter Wind wehte durch die Blätter und strich über seine Haut.
„Du bist ein Niemand.“ Ihre kindliche Stimme war wieder hochnäsig. „Du bist nichts weiter als der Sohn eines Bauern und Schusters. Ich könnte nie jemanden aus der Unterschicht heiraten. Das würde meine Mutter niemals erlauben.“
„Natürlich nicht“, sagte er schnell, während seine Kinnmuskeln sich verkrampften. „Ich weiß, dass du mich nicht heiraten würdest. Ich habe nur versucht, dir klarzumachen, dass dich eines Tages bestimmt irgendjemand heiraten will.“
Plötzlich hatte er es eilig, von ihr wegzukommen. Er grub das Messer in den Ast und arbeitete schneller daran, die Rinde wegzuschneiden. Warum half er dieser kleinen, eingebildeten Ziege eigentlich? Sie hätte es verdient, im Baum festzusitzen und dort zu verrotten.
„Mein Cousin kann sagen, was er will“, erklärte sie und wischte sich die Wangen ab. „Ich werde eines Tages einen reichen Prinzen heiraten. Oder einen Adeligen. Mindestens aber einen reichen Kaufmann wie meinen Onkel in Boston.“
Falls er je auch nur die geringste Sympathie für Mrs Quincys Enkelin aufgebracht hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment aus der Ferne, dann wich in diesem Moment jeder Funke von Wohlwollen aus seinem Herzen.
Dieses Wohlwollen war nie zurückgekehrt.
Er war viele Jahre fort gewesen – zuerst in Harvard, dann in Worcester, bevor er schließlich zwei Jahre bei Generalstaatsanwalt James Putnam Jura studiert hatte. Seit seiner Rückkehr nach Braintree hatte er zu viel damit zu tun gehabt, seine Kanzlei aufzubauen. Er hatte Susie Smith fast vergessen … bis heute, als sie nach dem Prozess an Mrs Quincys Seite aufgetaucht war.
Als er sich jetzt anmaßte, so nahe neben ihr zu stehen, hallte ihr schneller Herzschlag zwischen ihnen wider.
Glaubte sie immer noch, sie wäre für einen Mann wie ihn zu gut?
Er bewegte seine Hand zu ihrem Buch und ließ seine Finger über den abgegriffenen Buchrücken gleiten, bis er ihre Finger streifte.
Als sie seine Berührung spürte, sog sie scharf die Luft ein und ihre blauen Augen verdunkelten sich.
Er reizte sie absichtlich, die Hand zurückzuziehen.
„Warum willst du ein besserer Mensch werden, Susie?“, fragte er im Flüsterton.
Sie blieb regungslos stehen.
Er trat noch einen Schritt näher, um sie auf die Probe zu stellen. Die Verletzungen der Vergangenheit trieben ihn an, sie herauszufordern. Sie waren jetzt nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und er nahm sich unverschämte Freiheiten heraus. Doch er konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen zu prüfen, ob sie wieder vor ihm zurückwich, weil es ihm an Reichtum und Ansehen fehlte.
Eine Hand lag noch immer auf ihren Fingern auf dem Buchdeckel, als er die andere an ihre Wange hob. Er ließ seine Finger über die Biegung ihres Kinns gleiten und genoss ihre glatte Haut.
Ihr Atem wurde unregelmäßig und wärmte sein Handgelenk und seinen Puls. In den Tiefen ihrer Augen sah er den leichten Anflug von etwas aufblitzen. Welche Leidenschaft mochte wohl unter der kühlen Oberfläche einer spitzzüngigen Frau wie Susanna brodeln?
Als ahne sie, welche Richtung seine Gedanken einschlugen, trat sie einen kleinen Schritt zurück und brach den Kontakt ab.
„Wenn ich mich richtig erinnere“, sagte er, „hast du schon als kleines Mädchen gedacht, du wärst besser als alle anderen.“
Sie senkte den Blick auf das elegante, geometrische Muster auf dem Teppich. „Die Zeit zeigt uns, wie es wirklich um uns steht, Mr Ross.“
...
Jody Hedlund
Jody Hedlund studierte soziale Arbeit und began neben ihrer beruflichen Tätigkeit mit dem Schreiben. Sie und ihr Mann leben in Michigan, lieben aber auch die wilden Bergregionen Colorados, in denen einige von Jodys Geschichten angesiedelt sind. Sie haben fünf Kinder, mittlerweile alle im Teenager- oder Erwachsenenalter.
Webseite: www.jodyhedlund.com
Instagram: jodyhedlund
Facebook: Jody Hedlund
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